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Die letzte Mutantin, die sich in den wiederaufgebauten Weiten des nordamerikanischen Kontinents ihren Weg bahnen muss: Solomonica De Winter entführt mit Das Gesetz der Natur in eine mittelalterlich angehauchte Zukunft, die von einer strengen Gesetzgebung geprägt ist. Kann Gaia ihren Weg in eine lebenswerte Zukunft finden?

In einer fernen Zukunft, lange nach dem Tag der Katastrophe, gilt in Neuamerika Das Gesetz der Natur, welches strenge Vorgaben an das Leben der Bewohner*innen stellt. Mitunter gibt es Zusammenschlüsse von Aussätzigen, die sich dieser Form des Zusammenlebens nicht unterordnen und es deshalb vorziehen, ihr Leben außerhalb der Gesellschaft zu verbringen, doch ein Großteil der Menschen lebt in Städten.

Die Mutantin Gaia, die als letzte ihrer Art nach Willen der Gesetzgebung eigentlich nicht leben dürfte, wächst versteckt mit zwei Männern, dem Lehrer und dem Jäger, in einem solchen Zusammenschluss auf. Nach dramatischen Ereignissen findet Gaia sich schließlich alleine auf der Flucht wieder. Einzig ihre Fähigkeit, lesen zu können, rettet ihr das Leben – eine Fähigkeit, die ausschließlich auserwählten Männern, den Lesern, vorbehalten ist. Es gibt (fast) keine schriftlichen Überlieferungen, lediglich Das Gesetz der Natur existiert in Schriftform.

Gaia übernimmt die Aufgabe, die letzten existierenden Bücher der Welt zu finden. Ihre Reise jedoch gestaltet sich alles andere als geradlinig. Um das, was sie liebt, zu schützen, muss sie andere Wege als geplant finden und anders werden, als sie es jemals für möglich gehalten hätte. Neuamerika wird sich verändern und die Mutantin das Leben aller verändern.

Eine neue Weltordnung mit alten Motiven und eine Mutantin, die sich nicht anpasst

„So lautet das Gesetz der Natur.“

In der archaisch anmutenden Welt Neuamerikas leben die Menschen nach dem Gesetz der Natur, das allerdings nicht zu verwechseln mit Naturgesetzen ist, denn es ist sehr menschenzentriert. Einzelne Kapitel lassen die Lesenden Sequenzen aus diesem nachvollziehen und es wird deutlich, dass Handlungen und Konsequenzen des Zusammenlebens auf das genaueste geregelt werden.

Es ist eine Welt der Männer, denn sie bekleiden alle wichtigen Rollen innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung. Es scheint, dass diese Ordnung für alle Beteiligten eine gute Regelung darstellt, denn es begehrt niemand auf. Lediglich die Heranwachsende Gaia stellt als die eine Besondere, wie sie häufig in Geschichten zu finden ist, einen Bruch dieses Prinzips dar.

Der Weltenbau bietet wenig Innovatives. Motive des Mittelalters, oder vielmehr die Motive dessen, was das Mittelalter in durchschnittlichen phantastischen Romanen sein soll, prägen auch hier das Bild: Es gibt keine modernen Errungenschaften wie Strom oder Feuerwaffen, es besteht eine Furcht vor der Obrigkeit und die einzelnen Herrscher leben wie Fürsten in ihren Fürstentümern nebeneinander her und warten auf gute Gelegenheiten, sich fremde Reiche zu eigen zu machen.

Auch die Wildnis wartet mittelalterlich auf: Sie birgt das Verborgene, Gefährliche. Banden lauern in den Wäldern und wilde Tiere warten auf neue Opfer. Gaia muss sich diesem Leben stellen und ihren Platz sowohl in dieser Umgebung als auch in den städtischen Strukturen finden.

Da die Mutantin ihren Weg durch diese Welt finden muss, gelingt es Solomonica de Winter, den Lesenden diese Welt kohärent und glaubhaft zu präsentieren. Die Geschichte entwickelt durch den Reiseaspekt einen Sog, in dem der Blick konsequent auf Gaia und ihr Fortkommen gerichtet ist.

Gaia ist als letzte Mutantin, Mutter, Aussätzige, Kämpferin und Leserin sowohl in der Welt dieses Romans als auch in vergleichbaren Dystopien der phantastischen Literatur einzigartig. Sie bleibt unnahbar und wenig zugänglich, zugleich erklärt sich die Motivation und das Handeln von selbst, da die Lesenden eng an Gaias Schicksal durch die Welt geführt werden. Eine Gabe, die Glück und Qual zugleich bedeutet, unterscheidet die Mutantin um ein weiteres zu ihren Zeitgenoss*innen. Gaia gehört durch ihre ungewöhnlichen Voraussetzungen und Wesensmerkmale zu einer der bemerkenswertesten Protagonistinnen, die in der aktuellen Phantastik zu finden sind.

Neben Gaia finden sich keine Hauptfiguren, die über einen längeren Zeitraum eine wichtige Rolle spielen. Größtenteils bleiben alle weiteren Figuren kalt und stechen nicht hervor, was aber durch die stringente Ausrichtung auf Gaia zum einen nicht ins Gewicht fällt und zum anderen zur Gefühlswelt der Protagonistin passt. Eine Nebenfigur bildet eine Ausnahme: Das Menschenmädchen Julie, die wie der sprichwörtliche Stern nicht immer zu sehen, aber ständig da ist.

Prägend für Gaia sind drei Männer: Der Lehrer und der Jäger, mit denen sie zu Anfang von Das Gesetz der Natur ihr Aussätzigenleben verbringt und die ihr die Fähigkeiten vermitteln, die grundlegend für ihr Überlegen sorgen, und ihr Sohn, der in der Wildnis geboren und zu Gaias Licht und Kernmotivation wird.

Die Suche nach den letzten existierenden Büchern gerät in diesem ersten von drei Bänden etwas in den Hintergrund, da Gaia von ihrem Weg abkommt. Dies geschieht so plausibel, dass man es dem Roman kaum vorwerfen kann. Das Ende lässt Lesende mit Fragen zurück, die hoffentlich im nächsten Band zumindest teilbeantwortet werden.

Eine Saga, die sprachlich überrascht

„Nun, das ist die erste Epoche, vor Anbeginn der Welt, höre, das ist die erste Epoche, auf dass du es niemals vergessen mögest.“

Gleich der erste Satz der Dystopie macht klar, dass es sich hier nicht um ein Werk handelt, wie man es schon einige Male gelesen hat. Spätestens nach der ersten Seite ist nicht mehr zu überlesen, dass der sprachliche Ausdruck ungewöhnlich ist und die verwendeten Worte an eine epische Saga erinnern.

Wie auch bei der Handlung kann sich der*die Leser*in darauf jedoch nicht auf die Beibehaltung dieses Stils verlassen. Sobald sich eine Gewöhnung an diese ungewöhnliche Erzählweise einstellt, kommt unweigerlich ein Bruch. Der Sprachstil wird wechseln, je nach Handlungssequenz. Es wird gewöhnliche Dialoge geben, aber auch sorgsam ausgestaltete und poetisch umgesetzte Beschreibungen einzelner Gegebenheiten. Die Übersetzung dieser herausfordernden Sprache scheint gelungen, da die unterschiedlichen Grundtöne bemerkbar sind und sich zu einem Gesamtkonzept zusammenfügen.

Es scheint, als würde Solomonica de Winter ihrer Leser*innenschaft nicht gestatten, sich diesen Roman zu eigen zu machen. Es gibt weder eine Struktur, auf die man sich verlassen könnte, noch eine Regelmäßigkeit innerhalb der Kapitel. Diese sind unterschiedlich lang, unterteilen mal eine Handlungssequenz in mehrere Kapitel, beginnen mal mit einer neuen. Selbst die Schriftgröße variiert innerhalb der Kapitel.

Spoiler, berechnend unvorbereitet eingestreut, sorgen dafür, dass der Lesefluss auf jeden Fall unterbrochen wird, sollte man doch einmal in der Handlung versinken. Zudem wird in unregelmäßigen Abständen die vierte Wand durchbrochen und damit die Leser*innen durch die*den Erzähler*in direkt adressiert. 

All diese Punkte wirken paradoxerweise nicht negativ, sondern unterstreichen das Besondere, das dieser Geschichte innewohnt: Eine Protagonistin, die als Aussätzige ebenfalls von externen Bedingungen abhängt und niemandem vertraut, und eine archaische Welt, in der das Schöne zwar da ist, aber jederzeit verschwinden kann.

Aufgrund dieser Besonderheit empfiehlt Teilzeithelden, sich erst einmal eine Leseprobe des Buches anzuschauen, um abzuklären, ob die Erzählweise, die dieses Buch unverwechselbar macht, einem gefällt.

Die Autorin

Das Gesetz der Natur ist der zweite Roman der 1997 in den Niederlanden geborenen Solomonica de Winter, die sowohl dort als auch in den USA lebt. Ihren Debütroman Die Geschichte von Blue veröffentlichte sie bereits mit 16 Jahren und sorgte damit für einiges Aufsehen.

Passend zum Inhalt: Ein ungewöhnliches Cover

Ungewöhnlich für ein Buch, das bei Diogenes erscheint, ist Das Gesetz der Natur ganz in Grüntönen auf Vorder- und Rückseite gestaltet. Ein Waldmotiv mit einer Jägerin, das verschiedene Werke kombiniert, in Verbindung mit einem in Goldfarben aufgedruckten Titel passt sehr gut zum Inhalt des Buches und vermag den Blick der Lesenden zu fesseln.

Die Seiten sind eher dünn, so dass die Erwartungen an ein kurzes Leseerlebnis nicht erfüllt werden. Im Gegenteil: Die 596 Seiten, die wie beschrieben mit einer ungewöhnlichen Sprache und einer undurchsichtigen Struktur aufwarten, bescheren so einige ausgedehnte Lesezeiten.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Diogenes
  • Autor*in(nen): Solomonica de Winter
  • Erscheinungsdatum: 28.09.2022
  • Sprache: Deutsch/Englisch (aus dem Englischen übersetzt von Meredith Barth)
  • Format: Gebundenes Buch
  • Seitenanzahl: 596
  • ISBN: 978-3-257-07218-1
  • Preis: 25 EUR (Print) + 21,99 EUR (E-Book)
  • Bezugsquelle Fachhandel, Amazon (deutsch und englisch), idealo

 

Fazit

Das Gesetz der Natur ist eine Herausforderung an die Lesenden: Miss dich mit mir. Du möchtest eine Dystopie nach altbekanntem Schema? Vergiss es. Ich werde dich überraschen, dich spoilern, dir keinerlei Sicherheiten bieten. Meine Sprache ist ungewöhnlich, mein Erzählschema auch. Ich liefere dir bekannte Erzählstränge und sorge durch sorgsam eingearbeitete Brüche dafür, dass du dich umso intensiver damit befasst. Ich lasse mich nicht in einen Rahmen pressen.

Dies muss man mögen. Die epische Erzählweise und die genannten Herausforderungen dieser Dystopie wollen bewältigt werden. Wenn dies in die aktuellen Lese- und Lebensgewohnheiten passt, sorgt Solomonica de Winter mit Das Gesetz der Natur für eine spannende Lesezeit, die mit einer einzigartigen Protagonistin auf jeden Fall aus der Masse heraussticht.

  • Einzigartige Protagonistin
  • Ungewöhnliche(r) Sprachstil und Struktur
  • Spannende Grundidee
 

  • Wenig innovativer Weltenbau

 

Artikelbilder: © Diogenes Verlag
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Saskia Harendt
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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