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Geschichten und Abenteuer aus dem Fantasygenre bilden die Grundlage des Tischrollenspiels. Für viele Spieler ist diese Grundlage aber überholt und bietet keinen Anreiz mehr. Ist Fantasy noch zeitgemäß oder müsste längst ein Verjüngungszauber für das Genre gewirkt werden?

Geschmäcker sind unterschiedlich. Diese simple Weisheit gilt für alle Bereiche des menschlichen Daseins und damit auch für das Tischrollenspiel. Eigentlich müßig also, den Geschmack anderer Menschen in Bezug auf Settings und Regelsysteme zu hinterfragen. Trotzdem tun wir es von Zeit zu Zeit.

Gleich mehrere Mitspieler antworteten in kurzer zeitlicher Abfolge auf die Frage, welches Genre eine potenzielle Spielrunde bedienen sollte, auf dieselbe Art und Weise: Alles außer Fantasy. Da ich selbst das Genre auch nach über 20 Jahren noch immer sehr schätze, war ich zunächst irritiert. Der erste Impuls war, zu widersprechen und die Meinung des Gegenübers für nichtig zu erklären.

Nachdem diese Absage aber von mehreren Personen unabhängig voneinander getätigt wurde, begann ich, doch intensiver über das Genre nachzudenken. Nachfragen an Redaktionskollegen und auch an Rollenspieler in den sozialen Medien brachten weiteren Anstoß für meine Überlegungen zum Genre.

Mit diesem Artikel möchte ich meine Gedanken zum Fantasy-Genre im Rollenspiel zusammenfassen. Meine Aussagen sind hierbei in keiner Weise als normativ zu verstehen, auch wenn meine persönliche Meinung unvermeidbar Platz finden wird. Da es sich um eine Angelegenheit individuellen Geschmacks handelt, ist jede Haltung zum Thema zulässig.

Warum wird Fantasy abgelehnt?

Diese Frage bildete die Grundlage meiner Überlegungen und muss zuallererst beantwortet werden. Die Position des Gegenübers zu verstehen ist der einzige Weg, Gewinn aus ihr zu ziehen. Warum also kommt es zur kategorischen Ablehnung?

Die Erklärung der Befragten hierfür war fast durchgehend dieselbe: Fantasy war einmal reizvoll, hat aber durch ewige Wiederholung und mangelnde Neuerungen diesen Reiz verloren. Die meisten Kritiker haben in der Vergangenheit gerne in Fantasy-Settings gespielt und entwickelten erst im Laufe der Zeit eine Abneigung gegen das gefühlt eintönige Genre.

Was ist langweilig an Fantasy?

Auf Nachfragen wurde die Innovationsarmut und Gleichheit von Fantasysettings oft damit begründet, dass immer die typischen Rassen auftreten und Magie zur Lösung aller Ungereimtheiten herangezogen wird. Diese Kritikpunkte zeigten sehr schnell, dass die Ablehnung nicht auf Fantasy als Genre gemünzt ist, auch wenn die Formulierung dies vermuten ließe.

Tatsächlich wird vor allem klassische EDO-Fantasy kritisiert, die in Erklärungen gerne als “Herr der Ringe”- und/oder “Dungeons & Dragons-Fantasy” bezeichnet wird. Für dieses Subgenre werden ohne Frage eine Menge Systeme angeboten, die sich in den Augen ihrer Kritiker höchstens in marginalen Details voneinander unterscheiden.

Ist diese Kritik gerechtfertigt?

© Earthdawn-Wiki
© Earthdawn-Wiki

Da viele Personen dieselbe Kritik üben, wäre es vermessen, diese aus Gründen des persönlichen Geschmacks abzutun. Auch, wenn ich noch immer viel Spaß mit Fantasy-Rollenspielen habe und diese einen Großteil meiner Sammlung an Regelwerken ausmachen, gibt es auch viele Spiele im Fantasy-Genre, die es nicht schaffen, auch nur mein geringstes Interesse zu wecken.

Fantasy ist spätestens seit der Verfilmung von Tolkiens Der Herr der Ringe durch Peter Jackson in der breiten Gesellschaft angekommen. Dass so mancher Autor oder Spieldesigner auf der Welle des Erfolgs mitreiten wollte, überrascht nicht. Dass die Qualität im Falle derartiger Trendexplosionen durchwachsen ist, zeigt leider die Erfahrung.

Der Vorwurf der Beliebigkeit, der dem Genre gemacht wird, ist also nicht völlig von der Hand zu weisen. Uninspirierte Hintergründe, die wie mit dem Kopierer generiert wirken, gibt es leider immer wieder. Fantastische Welten, die begeistern, benötigen Alleinstellungsmerkmale und frischen Wind.

Ist Fantasy überhaupt noch zu Innovation fähig?

Damit ein Fantasy-Rollenspiel in der Lage ist, zu begeistern, muss also etwas Besonderes geboten werden, etwas Ungewöhnliches. Die Frage, die hieraus unweigerlich folgt, lautet: Wo kann man innerhalb des Genres echte Innovation finden? Eine umfassende Antwort lässt sich kaum formulieren, da das Angebot auf dem deutsch- wie englischsprachigen Markt sehr breit gefächert ist. Die folgenden Beispiele sollen nur stellvertretend für eine weitaus größere Menge an interessanten Möglichkeiten stehen.

All diesen Spielen ist eines gemeinsam. Jedes System nimmt Teile der klassischen, altbekannten Fantasy und gestaltet sie bewusst neu. Trotzdem bleibt aber der Kern dessen, was typische Fantasy-Geschichten ausmacht, erhalten.

Earthdawn – Die Symbiose aus Fluff und Crunch

Earthdawn ist wahrlich als Alteingesessenes unter den Rollenspielsystemen zu bezeichnen. 25 Jahre hat das Spiel mittlerweile auf dem Buckel. Schon in seiner ersten Inkarnation spielte es mit den Konventionen typischer Fantasy.

Selbstverständlich wird die Welt von Earthdawn von Menschen bevölkert. Sie bilden bloß nicht wie sonst die zahlenmäßig überlegene Spezies, sondern sind eher die Lückenfüller, die aufgrund ihrer Anpassungsfähigkeit überall unterkommen. Elfen sind filigrane Wesen, leben lange und haben spitze Ohren, soweit bekannt. Aber die Elfen von Barsaive haben, um zu überleben, Taten begangen, die die so klischeehafte Reinheit ihres Volkes ins Gegenteil verkehren.

Neben diesem Spiel mit den Klischees, für das es noch zahlreiche andere Beispiele gibt, nutzt Earthdawn die Konventionen des Genres auf eine weitere ungewöhnliche Weise. Die in Fantasysystemen üblichen Rassen, Klassen und Fähigkeiten werden in die Hintergrundwelt des Spiels integriert.

Kein D&D-Spieler, der etwas auf sich hält, würde in der Rolle seines Charakters davon sprechen, dass er ein Elfenmagier der vierten Stufe ist, der das Talent Zauberfokus für die Schule der Hervorrufung gewählt hat. Auch, wenn rein regeltechnisch alle Aspekte der Aussage richtig sind, würde die Stimmung am Tisch darunter leiden. In Earthdawn hingegen kann der Magier problemlos davon erzählen, dass er den dritten Kreis erreicht hat und demnächst das Talent Arkanes Gefasel erlernen will. Die grundlegenden Begriffe der Regeln sind auch im Setting gebräuchlich.

Dieser Ansatz gibt dem Spiel ein sehr ungewöhnliches Flair, das auch heute noch überraschen kann. Earthdawn kann also als innovativ gewertet werden, weil es mit den Erwartungen an das Genre spielt und weil es Fluff und Crunch auf stimmungsfördernde Art und Weise miteinander verbindet.

Numenera – Fantasy mit Science-Fiction-Tarnung

© Numenera
© Numenera

Auch Numenera bedient sich bei den Themen der klassischen Fantasy. Der Look des Spiels kommt aber ohne Drachen, Elfen und Schlösser aus. Stattdessen verbirgt das Spiel seine Fantasywurzeln unter einem Mantel aus Science-Fiction. Alles Unerklärliche wird zur Technologie, die so hoch entwickelt ist, dass sie Magie geworden ist.

Die Spieler erkunden eine Welt, die auf den Schultern vergangener Zeitalter steht. Dieser Aspekt des Erforschens unbekannter Gefilde stellt den Kern klassischer Fantasy-Rollenspiele dar. Aus dunklen Verliesen werden die Ruinen hochtechnologischer Anlagen, die gesuchten magischen Artefakte sind Relikte vergangener Kulturen, deren Wissen und Fähigkeiten nicht mehr begreiflich sind.

Charaktere sind vielleicht Cyborgs mit integrierter Bewaffnung und Panzerung, kontrollieren mithilfe von Naniten elektrische Energie oder gehen dank Phasenverschiebung durch Wände. Hinter der Fassade finden sich aber die Archetypen der Magier, Krieger und Schurken, die das Fantasy-Genre prägen.

Unter dem schönen Begriff „Science-Fantasy“ gelingt es Numenera, die Stärken der Fantasy mit einer Frischzellenkur aufzuhübschen. Wer dem klassischen Stil von Schwertern und Magie nichts abgewinnen kann, findet hier möglicherweise eine sehr ansprechende Alternative.

Dungeon Crawl Classics – Die Macht des Zufalls

Schon der Name macht klar, dass Stil nicht das innovative Element von Dungeon Crawl Classics ist. Mit seinem Rückgriff auf die Ursprünge des Tischrollenspiels präsentiert das System Zauberer, Priester, Kämpfer und Diebe, die sich den Herausforderungen monsterverseuchter Mittelalterwelten stellen.

Dafür kann das System bei seiner Verwendung von Zufallselementen echten Pioniergeist beweisen. Das Grundregelwerk platzt aus allen Nähten vor Tabellen, mit denen diverse Aspekte des Spiels per Würfelwurf bestimmt werden können. Gipfelpunkt dieser Herangehensweise ist der Einstieg ins Spiel, bei dem jeder Spieler zunächst mehrere mäßig kompetente Charaktere zufällig generiert und diese ohne nennenswerte Ausrüstung in ein gefährliches Abenteuer schickt. Wer die Tortur überlebt, wird zum Charakter der ersten Stufe und mausert sich so zum typischen Fantasy-Spielercharakter.

Auch wenn eine derart zufallsbasierte Spielweise sicher nicht jedem Spieler zusagt, kann man ihr den Willen zur Innovation nicht absprechen. Wenn man mit der richtigen Einstellung an Dungeon Crawl Classics herangeht, kann man Fantasy aus einer ganz neuen Perspektive erleben.

© Dungeon Crawl Classics Facebook
© Dungeon Crawl Classics Facebook

Ausbruch aus der Gruppe, nicht dem Genre

Innovative Fantasy zu finden ist mit dem passenden Spielsystem also durchaus möglich. Ein anderer Weg, das Genre neu zu erfahren, kann darin bestehen, es mit anderen Spielern zu erleben. Jede langfristig bestehende Gruppe eignet sich Vorlieben und Spielweisen an. Manchmal stehen diese Angewohnheiten einer bestimmten Spielart des Hobbys im Weg.

Wer also Fantasy eine neue Chance geben will, kann es mit einer Spielrunde auf einer Convention probieren oder online nach Teilnehmern für einen Oneshot suchen. Vielleicht kann diese Veränderung der äußeren Umstände auch den Blickwinkel auf das Genre verändern.

Aus meiner Erfahrung kann ich hier nur das Spiel mit Rollenspielneulingen empfehlen. Die Begeisterung über Spielinhalte, die jeder alte Hase schon zur Genüge zu kennen glaubt, kann angenehm ansteckend sein.

Fazit

Ob man im Rollenspiel Fantasygeschichten erleben möchte, soll am Ende selbstverständlich jeder selbst entscheiden. Das Genre hat im Laufe der Zeit große Verbreitung erfahren. Mit der Massenkompatibilität, die es gewonnen hat, ging für viele Spieler die Begeisterung verloren.

Fantasy vermag manchen nicht mehr so zu fesseln wie früher. Viele Elemente sind zu einheitlich geworden, der Griff zu unverbrauchteren, spannenderen Genres liegt nahe. Irgendwann hat man eben gefühlt alles schon einmal gesehen.

Trotzdem sollten negative Erfahrungen, wie überall im Leben, nicht verallgemeinert werden. Auch wenn oft nur die EDO-Aspekte wahrgenommen werden, hält die Fantasy Unmengen an innovativen Ideen für jeden Spieler bereit, der ein wenig stöbert. Man sollte dem Genre also nicht den Rücken zukehren, ohne zumindest hin und wieder einen Blick über die Schulter zu werfen.

Die Stärken fantastischer Geschichten sind auch heute noch dieselben. Manchmal braucht es nur einen ungewohnten Ansatz, um die frühere Begeisterung wieder aufleben zu lassen. Oder es hilft, das Genre einfach mal außerhalb der gewohnten Gruppe zu erforschen.

Vielleicht kann Fantasy so manchen Kritiker noch immer erstaunen, überraschen und faszinieren. Man muss nur die Augen offenhalten und es zulassen.

Artikelbilder: Depositphotos | yyang | Minotaurus73 | Maridav, Bearbeitet von Verena Bach

 

4 Kommentare

  1. Also wenn ich es richtig sehe, dann verkaufen sich Fantasy-Spiele wie geschnitten Brot. SciFi Spiele werden vielleicht mal mühsam über ein Crowdfunding finanziert, sind aber sonst kaum rentabel. Die Ablehnung von Fantasy scheint also eher ein lokales/persönliches Problem zu sein. Interessant wäre tatsächlich einmal die Frage, warum immer Fantasy, warum keine SciFi und wenn dann nur fantasyangehauchte Versionen.

  2. Ich habe meine derzeitige Spielrunde damit beworben, dass ich gerne verschiedene Settings und Regeln ausprobieren wollte „nur kein Fantasy“.
    Tatsächlich spielen wir gerade eine Kurzkampange mit Dungeon World…
    Mein ‚Trick‘ als SL war, dass ich meinen Spielern in der initialen Runde, in der neben den Charakteren auch der grundsätzliche Spielton bestimmt wird, die Frage stellte, weshalb man nicht auf der Erdoberfläche leben könne. Das Ergebnis ist eine spannende Kampange in einem unterirdischen Höhlensystem, die viele Inspirationen aus „Veins of the Earth“ bezieht.

  3. Ich denke der wesentliche Grund für die Ermüdungserscheinungen der meisten Spieler hat wenig mit dem Genre selbst zu tun, da es genauso innovativ oder nicht-innovativ wie andere ist. Vermutlich starten nur die meisten Spieler mit einem Fantasy-System, da diese am meisten verbreitet und präsent sind. Der Wunsch nach Abwechslung ist wahrscheinlich die einfachste Erklärung, was völlig verständlich wäre nd mit dem Genre selbst nicht viel zu tun hat.

  4. Nun ja. Ich liebe fantastische Literatur. Und die zugehörigen Spiele auch. Allerdings ist mir nach 25 Jahren etwas erschreckendes passiert. Die Klassiker habe ich „ausgelesen“. Unter den neuen Büchern findet sich nichts von Rang. Was ich damit meine? Fantastische Literatur lebt von Tiefgang und „Umdeutung“. Tolkiens Mission war die Erschaffung eines genuin „englichen Gründungsmythos“ auf Grundlage der Philologie. Fritz Leiber erschuf absurde Schelmenromane in einer nicht minder absurden Welt. Moorcocks dekadentes Melniboné lässt sich auch als Abgesang des britischen Empire durch die hereinbrechende Postmoderne lesen. Le Guins Erdsee dreht sich um religiöse Umbrüche in einer verletzlichen Welt. Die Liste ließe sich fortsetzen. Abgesehen von Sapkowskis „Hexer“ ist mir in den letzten Jahren kaum noch etwas vergleichbares untergekommen. Statt dessen, werden die selben Themen eins ums andere Mal variiert. Das spürt man auch im Rollenspiel. Generische Spielwelten sind nicht meins. Letztlich bin ich in Glorantha hängengeblieben. Es bietet Tiefe und Überraschungen. Warum? Die Spielthemen haben philosophischen Tiefgang. Die Charakterführung steht im Mittelpunkt und wird durch die Regelwerke unterstützt. Ich liebe Rollenspiele. Aber Tavernen, Orks und Drachen sind irgendwann nicht mehr spannend gewesen. Die Beispiele im Artikel klingen gleichermaßen spannend. Wichtig ist für mich, dass das jeweilige Setting ein Leitthema haben, das Spannung erzeugt.

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