Geschätzte Lesezeit: 8 Minuten

Bei der Erwähnung von Neil Gaiman denken die meisten an American Gods oder die Sandman-Comics. Dass er allerdings auch Kurzgeschichten-Bände veröffentlicht, ist den wenigsten bekannt. Trigger Warning ist der neuste dieser Art und versammelt eine Reihe düsterer und makabrer Geschichten, die dem Titel alle Ehre machen.

Die zweite Staffel von American Gods ist bereits verfügbar, die Serie zu Good Omens, deren Buchvorlage in Kollaboration mit Terry Pratchett entstand, wird Ende Mai erscheinen. Wer nicht die Zeit hat, kostbare Lebenszeit auf die Serien oder deren Vorlagen zu verwenden, und dennoch nicht auf eine Dosis Gaiman verzichten will, für den sind möglicherweise die Kurzgeschichten von Interesse. Abgesehen von der letzten Geschichte, Black Dog, erschienen alle anderen bereits in Anthologien, Zeitschriften, online oder in Verbindung mit Amanda Palmers erstem Soloalbum Who Killed Amanda Palmer?

Story

In Trigger Warning sind vierundzwanzig Kurzgeschichten zu finden (der aufmerksame Leser findet sogar noch zwei weitere) und es ist gar nicht so einfach, diese zu beschreiben, ohne die wunderbaren Wendungen vorweg zu nehmen. Also fangen wir außen an, bei der Form. Die Geschichte mit der außergewöhnlichsten Form ist dabei wohl Orange, die aus den Antworten zu einem Fragebogen besteht. Die Fragen stehen nicht zur Verfügung und doch versteht man die Geschehnisse ohne Probleme (und bekommt eine ganz andere Sicht auf Bräunungscreme). Obwohl als Kurzgeschichtensammlung betitelt, finden sich auch ein paar Gedichte. Ich bin ehrlich gesagt kein großer Fan von Gedichten, aber es ist etwas an Gaimans Art, das mich trotzdem fesselt. Selbst wenn es nur darum geht, dass er in Making a Chair beschreibt, wie er einen Schreibtischstuhl zusammenbaut, anstatt etwas zu schreiben. Vielleicht liegt es daran, dass er es am Ende dieses zweiseitigen Gedichtes schafft, einen nachdenklichen Ton anzuschlagen, den man so nicht erwartet hätte.

Unterschiedlichste Themen

Die Geschichten behandeln verschiedenste menschliche Themen. In The Man Who Forgot Ray Bradbury geht es um das Vergessen und was mit den Menschen, Büchern und Filmen geschieht, an die sich niemand mehr erinnert. The Truth is a Cave in the Black Mountains… lässt den Leser mit der Frage zurück, wann Rache gerechtfertigt ist, wann sie zu weit geht und ob nicht in jedem Menschen ein Monster steckt. Ob ein Abenteuer darin besteht, in ein anderes Café als geplant zu gehen, oder ob es Pterodaktylen und einer geheimnisvollen Statue zur Nachkriegszeit bedarf, um sich diesen Titel zu verdienen, wird zum Thema in Adventure Story.

A Calendar of Tales ist das Ergebnis eines Social Media Projektes. Im Vorwort erklärt Gaiman, dass er via Twitter offene Fragen zu den Monaten stellte und die Antworten als Schreibanlässe nahm. So kommt es, dass ein Mann in einem Iglu aus Büchern lebt, Anne Bonnie ihren Ruhestand an Land verbringt, Phönixe einen Waldbrand verursachen und ein Dschinn eine Frau trifft, die keine Wünsche hat.

Geschichten mit Vorgeschichte

Meine Favoriten sind allerdings die Geschichten, die auf andere, bekannte Geschichten Bezug nehmen, ohne absolutes Fan-Wissen voraus zu setzen. The Case of Death and Honey ist eine Sherlock Holmes Geschichte, in der Watson ausnahmsweise nicht der Erzähler ist. Fans von American Gods werden sich sehr über ein Wiedersehen mit Shadow Moon, der sich dieses Mal allerdings in Großbritannien herumtreibt, in Black Dog freuen. Dass Gaiman zwei Episoden für den Elften Doctor geschrieben hat, lässt sich sehr gut an Nothing O’Clock sehen. Die Geschichte spielt relativ am Anfang von Matt Smiths Zeit als Doctor und unterhält wunderbar, selbst wenn man keine Ahnung von Doctor Who hat.

Auch Märchen kommen nicht zu kurz. Während Diamonds and Pearls: A Fairy Tale eine düstere Mischung von Aschenputtel und Rotkäppchen darstellt, bietet Observing the Formalities einen Einblick in Malefiz‘ Gedanken bezüglich der Einladung, die sie nie erhalten hat. Der Gewinner dieser Neuinterpretation von Märchen ist allerdings ganz klar The Sleeper and the Spindle. Diese Geschichte verbindet Dornröschen und Schneewittchen auf eine Art und Weise, die ich so noch nie gesehen habe, und toppt das Ganze mit einem Twist, der nicht von dieser Welt ist. Ehrlich, ich hatte Gänsehaut!

Schreibstil

Und Gänsehaut scheint mir eine gute Beschreibung von Gaimans Schreibstil zu sein. Er schafft es immer wieder, ein ungutes Gefühl heraufzubeschwören, das an die Gruselgeschichten erinnert, die man sich am Lagerfeuer erzählt. Es ist ein subtiler Grusel, der davon lebt, Dinge im Dunklen zu lassen und der Vorstellungskraft des Lesers den Rest zu überlassen. So wie man nach dem Lesen von Click-Clack the Rattleback etwas paranoid auf klappernde Geräusche im Dunklen reagiert, selbst wenn es nur die doofe Blaumeise ist, die am Rollladenkasten ein Nest baut. Oder man sich sein nächstes Bed & Breakfast etwas genauer ansieht und der Betreiberin vielleicht nicht blind vertraut.

Überhaupt hat Gaiman ein Talent dafür, den Leser am Ende eines jeden Textes mit einer Frage zurückzulassen, die er sich weigert, zu beantworten. Es ist nicht per se ein unbefriedigendes, offenes Ende, sondern eher eines, das dazu anregt, nachzudenken. Ist es Mord, wenn ich ein Wesen vor dem Beginn der Zeit alleine zurücklasse? Wer ist der Böse in einer Geschichte und wer der Gute? Und mit wem der beiden kann ich besser mitfühlen? Welchen Preis bin ich bereit zu zahlen?

Neil Gaimans Stil ist flüssig und unterhaltsam zu lesen und er schafft es beinahe jedes Mal, mich innerhalb der ersten Zeilen zu fesseln. Allerdings gibt es Geschichten, die mich auch nach dem zehnten Mal noch mit einem verwirrten Gesichtsausdruck zurücklassen. Ich weiß zum Beispiel bis heute nicht, was er mir mit The Return of the Thin White Duke vermitteln wollte.

Als jemand, der American Gods bisher weder gelesen noch gesehen hat (Asche auf meine Tomaten), hat Black Dog mich neugierig werden lassen, sodass ich jetzt herausfinden will, wer Shadow ist und was es mit Bast auf sich hat.

Der Autor

Neil Gaiman, der gerne heimlich seine eigenen Bücher signiert, wurde 1960 in Großbritannien geboren und lebt inzwischen in Amerika. Wenn man einmal mit seinen Texten in Berührung gekommen ist, scheint sein Name überall aufzutauchen, sodass es unmöglich scheint, ihn nicht zu kennen. Am bekanntesten sind wohl die Sandman-Comics, die noch viel düsterer und magischer sind als diese Kurzgeschichten, und die Romane American Gods und Good Omens (letzterer in Zusammenarbeit mit Terry Pratchett), die beide von Amazon Prime als Serien verfilmt wurden. Dazu kommen unzählige weitere Texte: Romane, Kindergeschichten und Comics, fast zu viele, um sie alle gelesen zu haben.

Erscheinungsbild

Das Cover besteht aus einem gelben, gemusterten Hintergrund, in dessen Mitte ein schwarzer Hund prangt. Das obere Drittel nimmt der Name des Autors ein und auf einem kleineren Teil am unteren Rand findet sich der Titel zusammen mit einem ersten, sehr kurzen Fazit des Observer, einer Zeitung, die zum Guardian gehört. Auf dem Rückumschlag finden sich zwei Zitate aus dem Vorwort und eine Beschreibung dessen, was den Leser erwartet, ohne allzu viel zu verraten.

Das Papier fühlt sich wertig an und der Satz ist regelmäßig. Das einzig Störende ist das Inhaltsverzeichnis, das etwas arg nach unten gerutscht und somit sehr dicht am unteren Seitenrand ist.

Die harten Fakten:

  • Verlag: headline
  • Autor: Neil Gaiman
  • Erscheinungsdatum: 27. Oktober 2015
  • Sprache: Englisch
  • Format: Taschenbuch
  • Seitenanzahl: 352 Seiten
  • ISBN: 978-1-4722-1772-1
  • Preis: 9,99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Bonus

Vor den eigentlichen Kurzgeschichten findet sich ein umfangreiches Vorwort, in dem Neil Gaiman erklärt, wie es zu dieser Kurzgeschichtensammlung kam (und sich dafür entschuldigt, dass auch Gedichte dabei sind). Zudem gibt es zu jedem Text ein paar Gedanken des Autors, die sich mit dem Grund für die Entstehung der einzelnen Geschichten beschäftigen und einen interessanten Einblick in sein Leben bieten. Der aufmerksame Leser findet hier zudem die wirklich kurze Kurzgeschichte Shadder, die einen gut auf das einstimmt, was noch kommt.

Am Ende des Buches findet sich eine Auflistung der Geschichten mit Informationen dazu, wann und wo diese das erste Mal erschienen sind, sowie ein kurzes Interview mit Neil Gaiman, welches mit einer Geschichte in 140 Zeichen endet.

Fazit

Für nicht einmal zehn Euro bekommt man ein Taschenbuch vollgepackt mit Geschichten, die hochwertig geschrieben sind. Es ist alles dabei: Horror und Grusel, Märchen und Gedichte, Bezüge auf Popkultur und auch das ein oder andere Schmunzeln. Aha!-Momente gibt es reichlich, ebenso wie verwirrtes Stirnrunzeln und am Ende wird man möglicherweise nicht nur die Protagonisten hinterfragen, sondern auch die Menschen um sich herum und vor allem die dunklen Ecken im Zimmer. Traut nicht den kleinen Geschwistern eurer Freunde – das ist alles, was ich dazu sage.

Ehrlich gesagt, es ist Neil Gaiman. Da gibt es nicht viel falsch zu machen. Und wer noch nie etwas von ihm gelesen hat, findet hier möglicherweise einen Einstieg, der nicht ganz so einschüchternd wirkt wie ein Roman, den man auch als Türstopper verwenden könnte. Ich jedenfalls habe keine Sekunde bereut. Und jetzt entschuldigt mich, ich muss noch zwei Kurzgeschichtensammlungen besorgen, die möglicherweise auch für die interessant sind, die Gaiman nicht auf Englisch lesen wollen: Die Messerkönigin (im Original Smoke and Mirrors) und Zerbrechliche Dinge (die Übersetzung von Fragile Things, die erst kürzlich im Eichborn-Verlag als Taschenbuch erschien).

 

Artikelbilder: © headline, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur

1 Kommentar

  1. Neu ist relativ. Ich finde eine 4 Jahre alte Veröffentlichung so zu bezeichnen doch recht mutig. Dennoch ein guter Artikel und ein tolles Buch!
    Einzig hätte ich mir gewünscht bei der detaillierten Beschreibungen des Erscheinungsbildes noch zu erwähnen, dass das Cover ein matte finish hat, die Akzente und Titel auf der Front aber mit einem Glossy Lack veredelt wurden (sofern meine Erinnerung nicht getrübt ist).

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein