Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten

Band 4 der preisgekrönten Comicreihe Monstress ist da! Maika Halfwolf konnte Pontus vor einem der Old Gods retten, aber sie und alle anderen mussten dafür einen furchtbaren Preis zahlen. Der Krieg zwischen Menschen und Arcanics scheint unausweichlich, als Maika in die Fänge einer dritten Partei gerät: Ihres eigenen Vaters…

Das Unfassbare ist geschehen – ein Old God ist in die Welt der Sterblichen über der Küstenstadt Pontus eingedrungen. Maika und ihre Verbündeten können das Wesen in letzter Minute vernichten, doch es ist ein Pyrrhussieg. Die Stadt liegt größtenteils in Trümmern, zahlreiche Bewohner sterben und diejenigen, die überleben, fallen durch den schrecklichen Anblick des Monsters dem Wahnsinn anheim. Marodeure auf den Straßen bringen sich gegenseitig um, oder fliehen in nackter Panik einem sicheren Tod entgegen. Inmitten dieses Chaos brechen Maika und Corvin auf, um Kippa zu suchen, denn das Fuchsmädchen wird von Unbekannten entführt.

Band 3 („Haven“) hatte 2019 einen der begehrten Hugo-Awards in der Kategorie Grafische Novellen gewonnen. Nachdem Monstress schon 2017 in der gleichen Kategorie gewann und zudem mehrere Eisner-Awards einheimsen konnte, erwartete die Comic-Szene mit großer Spannung den vierten Sammelband, der die Einzelhefte 19-24 vereint.

Handlung

Die Story von Band 4 – The Chosen beginnt mit einem der unausweichlichen Flashbacks, denn jeder einzelne Charakter in Monstress trägt seine Vergangenheit wie eine schwere Bürde. Hier sehen wir erstmals Kippa als Baby, die von einem Ancient der Arcanics eine mysteriöse Kraft übertragen bekommt. Diese Kraft nützt ihr in der Gegenwart zunächst nichts, als sie von einer Gruppe Söldner rund um die gewitzte Armbrustschützin Yafaela in einem Käfig weggetragen wird. Die Einheit wurde von einem mysteriösen Doktor beauftragt, Kippa zu ihm zu bringen. Doch während eines Kampfs gegen mordlüsterne Zivilisten, schafft das Kitsune-Mädchen ihre Entführer zu überlisten und in einem Erdloch zu verschwinden. Sie ahnt nicht, dass sie das Grab eines uralten Monsters betreten hat.

Die Story beginnt mit einem der unausweichlichen Flashbacks.

Währenddessen sind Maika und Sir Corvin den Entführern dicht auf den Fersen und müssen sich ebenfalls durch Horden wahnsinniger Kannibalen kämpfen. Doch als sie einer alten Bekannten begegnen, tappen sie in eine Falle, gelegt von niemand anderem als Maikas Vater. Der alte Mann hatte sich vor Jahren mit seiner Frau Moriko Halfwolf zerstritten und will jetzt wieder für seine Tochter da sein. Ganz so selbstlos sind seine Motive jedoch nicht: Er hat eigene Pläne für den kommenden Krieg zwischen Menschen und Arcanics, in denen seine Tochter eine entscheidende Rolle spielt.

Apropos Politik, der zwielichtige Kater Ren Mormorian enthüllt endlich, wer ihn beauftragt hat und macht sich zusammen mit der Ingenieurin Vihn aus Pontus auf, um seine Gefährten wiederzufinden. Auch Vihn trägt ein gut gehütetes Geheimnis mit sich. Bei den Arcanics wird das Bündnis zwischen Dawn Court und Dusk Court mit einer Hochzeit zwischen der Warlord und Baroness Tuya besiegelt. Doch die Allianz ist brüchig, beide Seiten suchen ihren eigenen Vorteil und die oberste Kriegerin merkt bald, dass ihre junge Braut Tuya keineswegs nur ein Spielball der Mächte ist – ganz im Gegenteil.

Wer schon bei Game of Thrones die wechselnden Allianzen und verschachtelten Intrigen nicht durchblickt hat, wird mit Monstress nicht glücklich werden. Charaktere diskutieren Ereignisse, die in vorherigen Bänden stattfanden, es gibt Verweise auf die antike Geschichte der Welt, und oft werden beiläufig Entwicklungen erwähnt, die erst in kommenden Ausgaben ihre wahre Bedeutung entfalten. Dass immer neue Figuren in die Handlung eingeführt werden, die im großen Machtspiel teilhaben wollen, hilft nicht gerade bei der Orientierung. Marjorie Liu hat am Worldbuilding nicht gespart und eine lebende, atmende Welt erschaffen. Leider wirft sie die Leser oft ins kalte Wasser und überlässt es ihnen, sich selbst in diesem riesigen Dschungel zurechtzufinden. Häufiges Zurückblättern und Nachschlagen in älteren Bänden ist, gerade aufgrund des Veröffentlichungsrhythmus von einem Sammelband pro Jahr, notwendig, um den Überblick zu behalten.

Wer aber Epen à la Dune oder das Silmarillion liebt, der wird wahre Freude an den vielschichtigen Handlungssträngen und dem tiefgründigen Lore haben. Das erkennt man besonders an den „Lektionen“ von Professor Tam Tam, einem Charakter, der in der eigentlichen Handlung gar nicht vorkommt. Diese außerhalb der Kerngeschichte stehenden Einschübe zeigen den Lesern, wie die Ereignisse rund um Maika in der Welt kulturell und wissenschaftlich wahrgenommen werden. Keine Sorge, zu verkopft wird die Handlung nie, dafür sorgen die blutigen Actionszenen und Maikas blumige Kraftausdrücke.

Charaktere

Was hat es mit Corvins Maske auf sich?

Wir erfahren endlich mehr über die (wenigen) männlichen Charaktere: Wer hielt Ren an der kurzen Leine, und was sind seine eigenen Absichten? Wieso hat Corvin seine Befehle missachtet, um Maika zu helfen, und was hat es mit seiner Maske auf sich? Auch der in vorherigen Bänden nur angedeutete Vater macht endlich sein intrigantes Debüt. Lange Zeit schien es, als ob in den matriarchalischen Reichen von Menschen und Arcanics Männer keine Rolle spielen. Jetzt treten sie etwas mehr in den Vordergrund und spielen das blutige Spiel um die Macht mit. Und im Gegensatz zu den eigentlichen Herrschern verstehen diese drei sehr wohl, dass die Streitigkeiten zwischen den beiden Spezies lachhaft sind, im Vergleich zum Konflikt mit den außerweltlichen Old Gods.

Die weiblichen Charaktere stehen ihnen in nichts nach. Vihn ist bereits aus Band 3 bekannt, aber jetzt zeigt sie ihr wahres Gesicht. Und wie viele, die Maika helfen, hat sie eine eigene Agenda, die schon lange vor Maikas Geburt begann. Die einzige, die völlig selbstlos zu sein scheint, ist Kippa. Sie darf, wie schon im vorherigen Band, mit einer großen Rede an die Menschlichkeit (oder Arcanic-keit?) ihrer zynischen, verbitterten Mitstreiter appellieren. Dieser Charakterzug wirkt auf Dauer etwas ermüdend. Das unschuldige Kind, das die Erwachsenen an das Gute in der Welt erinnern muss, ist ein beliebtes Klischee in fast jedem Genre. Hoffentlich wird dieser Aspekt ihrer Persönlichkeit nicht überreizt. Zumindest ist Kippa nicht völlig verblendet gegenüber den jahrhundertealten Ressentiments zwischen den Spezies, nicht zuletzt dank ihrer neu erwachten Gabe. Ganz gut alleine überleben kann sie jetzt erwiesenermaßen auch. Wie schon in der vorherigen Rezension erwähnt: Es ist erfrischend, wenigstens eine anständige Person unter lauter kaltschnäuzigen Killern zu haben.

Zinn hält sich diesmal dezent zurück, was in der zweiten Hälfte des Bandes erklärt wird. Dafür muss Maika notgedrungen ihre schwere Familiengeschichte aufarbeiten. Als Abkömmling der Shaman-Empress kann sie kein normales Leben führen, die Last der Welt wurde ihr sozusagen in die Wiege gelegt. Und immer noch reagiert sie auf alle Vorkommnisse mit einer Mischung aus erwachsenem Zynismus und jugendlicher Rebellion. Man bemerkt allerdings erste Persönlichkeitsentwicklungen bei ihr. Sie ist bereit, Feinden zu vergeben und sich um Unschuldige zu sorgen. Kippas Einfluss macht sich bemerkbar.

Neben Maikas Vater werden keine neuen Hauptcharaktere eingeführt. Allerdings scheint es so, als könnten wir Yafaela bald wiedersehen. Ihre freche Attitüde bringt etwas dringend benötigten Humor in den ansonsten düsteren Handlungsstrang von Kippa. Eine sprücheklopfende Kopfgeldjägerin, die einmal einen Kalligraphiewettbewerb gewonnen hat? So jemanden braucht Maika dringend in ihrem Team.

Zeichenstil

Sana Takeda bleibt sich treu und breitet wieder wunderschöne Splashpages in ihrem typischen Art-Deco-Stil aus. Filigran verzierte Gewänder oder Steampunk-Maschinen, die wie Kunstwerke aussehen, bilden einen schönen Kontrast zu der Brutalität, der Maika in ihrem täglichen Leben ausgesetzt ist. Erstmals in der Serie stellt Takeda auch eine Sexszene dar, die sehr geschmackvoll und ohne primäre Geschlechtsorgane illustriert ist. Diese Szene dient vorwiegend dazu, die ungleiche Beziehung der beiden Charaktere zu betonen.

Ein besonderes Highlight ist die Darstellung der War-Masters. Jeder dieser Arcanics stammt von einer anderen Tiergattung ab (Raubkatze, Reptil, Fisch …) und trägt eine reich verzierte, imposante Rüstung. Obwohl diese Charaktere nur kurz in der Handlung vorkommen, macht ihr Design großen Eindruck und lässt auf zukünftige Auftritte hoffen. Immerhin sind Entwurfskizzen von ihnen als Bonusmaterial enthalten.

Erscheinungsbild

Es gibt keine Veränderungen zu den vorigen Bänden: Hochwertiges Papier, scharfe Druckqualität und gut lesbare Schrift. Auch in Band 4 wurde die Weltkarte am Ende so gedruckt, dass das Zentrum des Kontinents (The Shield Wall) im Falz verschwindet. Schade, aber bis auf eben jene Mauer gibt es keine anderen markanten Orte an dieser Stelle.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Image Comics
  • Autorin: Marjorie Liu
  • Zeichnerin: Sana Takeda
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Sprache: Englisch (Rezensionsexemplar), Deutsch
  • Format: Taschenbuch, Digital
  • Seitenanzahl: 176
  • Preis: 16,00 € (eng) / 15,00€ (deu) / 11,99 € (eng digital)
  • Bezugsquelle: Fachhandel, idealo, Amazon: Englisch / Deutsch / Englisch (digital)

 

Bonus/Downloadcontent

Es gibt verschiedene Designentwürfe zu den War-Masters, Yvette Lo Lim und Maikas Vater. Takeda hat mit verschiedenen Elementen experimentiert, was man vor allem an den Entwürfen zum Vater sieht: Er hat in einigen Skizzen einen Schlangenunterleib oder einen Federschweif.

Fazit

„The Chosen“ beantwortet einige Fragen und wirft in typischer Mystery-Manier zehn Neue auf. Was haben die Old Gods jetzt vor? Wer sind die Dracul? Welche Rolle spielen Atena und Resak, die in exakt einem Panel vorkommen? Warum versucht die Baroness das exakte Gegenteil der offiziellen Arcanic-Politik zu erzielen? Welche Bedeutung hat Kippas Gabe, und was sind die wahren Absichten von Vihn und Maikas Vater? All das würde genug Stoff für hunderte Fanfics und tausende Forendiskussionen geben, wenn Monstress so viele Anhänger wie Game of Thrones oder The Witcher hätte.

Aber vielleicht ist es gut, dass dieser Comic noch nicht als erfolgreiche Netflix-Serie adaptiert wurde. So kommt das Duo Liu/Takeda nicht unter Zugzwang, mehr Material zu liefern (was GoT zum Verhängnis wurde). Und so müssten sich die Leser nicht aufregen, falls eine „kreative“ Castingabteilung Änderungen an den Charakteren vornimmt, oder das Budget für CGI nicht ausreicht, um dem Stil gerecht zu werden. Der Vergleich zu großen Mysteryserien drängt sich doch auf. Lauern am Ende aller Rätsel nur noch weitere Rätsel? Endet diese Serie gar wie Akte X oder Lost, wo sich die Macher derart in ihren eigenen Geheimnissen versponnen hatten, dass ihnen kein würdiger Abschluss einfiel? Oder hat Marjorie Liu DEN epischen Plot-Twist in der Hinterhand und serviert den Schocker scheibchenweise bis zum großen Knall? Man weiß es nicht. Aber gerade weil nicht die Erwartungen eines Massenpublikums à la Star Wars auf ihr lasten, kann Liu sich Zeit lassen. Und das ist, wie viele Fangemeinden bestätigen können, oftmals Gold wert.

 

Artikelbild: © Image Comics, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein