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Unser Bild von Tolkien besteht aus einem pfeifeschmauchendem Mann im Tweedjackett, der das “vielleicht letzte Meisterwerk des Mittelalters” verfasst hat. Zeitgemäße Literatur oder gar die modernen Errungenschaften seiner Zeit scherten ihn nicht. Aber ist das wahr? Holly Ordways Erstlingswerk ist ein Korrektiv, das kritische Fragen aufwirft und diese stark beantwortet.

Wir alle haben eine bestimmte Vorstellung davon, wie J.R.R. Tolkien zu Lebzeiten gewesen ist. Wie er sich geriert hat, was ihn bewegt hat, was ihn stark und was ihn überhaupt nicht interessiert hat. Dieses Bild wurde maßgeblich durch Humphrey Carpenters Tolkien-Biografie und durch die von ihm veröffentlichen Briefe Tolkiens geprägt, sodass wir heute davon ausgehen: Tolkien hat für das Mittelalter gelebt, sich kaum für Themen seiner Zeit interessiert, und Mittelerde ist fast ausschließlich durch altenglische Literatur inspiriert. Holly Ordways neues Buch, Tolkien’s Modern Reading, korrigiert Carpenters Aussage, Tolkien habe sehr wenig moderne Fiktion gelesen – und habe dieser auch nicht viel Bedeutung beigemessen.

Story

Holly Ordway beginnt ihr Werk damit, das Bild von Tolkien, welches heutzutage in den meisten Köpfen vorherrscht, noch einmal detailliert zu beschreiben. Sie führt zahlreiche Zitate an, die aus der Person Tolkien einen exzentrischen, an Modernität nicht interessierten Autor zeichnen; ein Bild, dessen Grundstein Carpenter in seiner Biografie gelegt hat und welches sowohl die akademische Auseinandersetzung mit Tolkien als auch die in der Popkultur sehr beeinflusst hat.

Ordway nutzt dieses ausformulierte Bild anschließend, um insbesondere die Carpenter-Darstellung gezielt auf die Probe zu stellen. Sie nennt fundierte Kritikpunkte an Carpenter, unter anderem den Umstand, dass die Carpenter-Biografie (wie auch die später veröffentlichten Briefe von Tolkien) darunter leidet, dass wichtige Passagen ausgelassen wurden. Sie benennt klar, dass Carpenter kein gelernter Biograf war, und benennt die Probleme, die es in der Zusammenarbeit zwischen Christopher Tolkien und Carpenter gegeben hat.

Unser typisches Bild von Tolkien.

Von hier aus beschäftigt sie sich eingehend, detailliert und gründlich mit weiteren Autor*innen, die Tolkien zu Lebzeiten gelesen und die an Stellen sogar sein Lebenswerk inspiriert haben. Ordway führt uns von der Kinderliteratur des viktorianischen Zeitalters, die Tolkien konsumiert und diskutiert hat, über George MacDonald, William Morris, Rider Haggard bis hin zu Science-Fiction-Werken, die uns heute noch geläufig sind. Sie stellt beeindruckend heraus, wie Autor*innen, die zu Tolkiens Lebzeit durchaus Relevanz als moderne Fiktion hatten, seine Aufmerksamkeit erregten. Stück für Stück wird beim Lesen von Tolkien’s Modern Reading das eigene Bild von Tolkien korrigiert – genau das Ziel, welches die Autorin erreichen möchte.

Wir begleiten beim Lesen die Autorin dabei, wie sie den Fokus von Carpenter auf zeitgenössische Fiktion lenkt und folgen ihr zuletzt zu den katholischen Werken, mit denen Tolkien sich auseinandergesetzt hat. Eine erfrischende Erfahrung voll neuer Erkenntnisse; ein inhaltliches Korrektiv, welches einen spannenden und erfrischenden Aspekt an Tolkiens Persönlichkeit beleuchtet: nämlich seine Auseinandersetzung mit moderner Fiktion.

Im Anhang ihres Buches liefert Holly Ordway außerdem eine bemerkenswerte Katalogisierung derjenigen Werke, die nach 1850 erschienen sind und die Tolkien höchstwahrscheinlich konsumiert hat. Sie führt dabei jeweils die Quelle an, aus der ihre Information stammt, und kategorisiert diese Quellen übersichtlich. Die Liste enthält über 200 Einträge von 148 Autor*innen.

Schreibstil

Der Klappentext.

Der Rezension dieses Artikels liegt die englische Originalausgabe des Buches zugrunde. Das Buch erscheint nach Kenntnis des Redakteurs nicht in deutscher Übersetzung.

Natürlich ist Englisch zunächst eine Sprachbarriere; jedoch ist Holly Ordways Text zugänglich gestaltet und lässt ein aufmerksames Lesen zu, ohne ständig durch Wörterbuchblättern unterbrochen werden zu müssen. Zwar handelt es sich um ein wissenschaftliches Werk, es ist also mit einer gewissen Fachsprache zu rechnen, dennoch gelingt es der Autorin, auch für reine Fans von Tolkien (also Menschen wie mich) zugänglich zu bleiben und nicht nur zu einem akademischen Publikum zu sprechen.

Ihre Thesen sind gründlich durchdacht, nicht reißerisch, sondern besonnen formuliert, und ihr Text ist auf eine Art und Weise strukturiert, die uns mithalten und -denken lässt.

Die Autorin

Holly Ordway, Ph.D., ist eine vor allem im Bereich der Studien rund um die Inklings bekannte Autorin. Ihre bisherigen Veröffentlichungen haben sich vorrangig mit C.S. Lewis beschäftigt; Tolkien’s Modern Reading ist ihr erstes größeres Werk, welches sich ausschließlich mit Tolkien beschäftigt. Ihr Buch wurde unter anderem von John Garth empfohlen und erfreut sich bisher innerhalb der Szene einiger Aufmerksamkeit.

Erscheinungsbild

Der Umschlag verbirgt einen schönen Einband. Ein schöner Anblick, auch ohne Umschlag.

Das Buch ist schön. Die Hardcover-Ausgabe wird von einem stabilen Umschlag umhüllt, welcher mit einem aufgeräumten Motiv glänzt, was Platz für Titel wie auch Untertitel lässt. Ein sauberer Eindruck, der gefällt, aber das richtige Schmankerl sieht man, wenn man besagten Umschlag fortlegt. Der Einband ist einfarbig gehalten und mit silbernen, glänzenden Buchstaben bedruckt – qualitativ hochwertig, ästhetisch ansprechend und einfach überzeugend.

Auch von innen gibt es nichts, worüber man sich beschweren könnte. Schon zu Beginn des Buches gibt es ein Bild von Tolkien zu sehen, welches unsere Vorstellungen seiner Person verkörpert: Da ist dieser ältere, gediegene Mann zu sehen, in Jackett und Krawatte vor einem Bücherregal, der seitlich, leicht von oben, in die Fotokamera lächelt. Eben der distanzierte Literaturprofessor, dessen Aufmerksamkeit keinem Text gilt, welcher nach 1850 (oder, wie man ihm in einer Radio-Produktion der BBC in den Mund legte, nach 1066) erschienen ist. Dieses Bild folgt auf das Vorwort und bringt direkt die richtige Stimmung.

Zu guter Letzt bleibt noch zu sagen, dass Schriftgröße und Textabsätze eine wunderbare Lesbarkeit ermöglichen und jede Seite, ganz gleich ob mit oder ohne Fußnoten, flüssig gelesen werden kann. Gefällt!

Das Buchcover.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Word on Fire
  • Autorin: Holly Ordway
  • Erscheinungsdatum: 25.01.2021
  • Sprache: Englisch
  • Format: Hardcover
  • Seitenanzahl: 382
  • ISBN: 978-1-943243-72-3
  • Preis: 29,95 EUR
  • Bezugsquelle Fachhandel, Amazon

 

Fazit

“Tolkien read very little modern fiction, and took no serious notice of it.”

Diese Aussage von Humphrey Carpenter erhält mit diesem Buch ein Korrektiv, und zwar ein fundiertes und überlegtes. Holly Ordway legt in sorgfältig recherchierter Detailtreue dar, dass Tolkien zeitgenössische Literatur nicht nur konsumiert hat, sondern auch von ihr inspiriert wurde; wenn auch in weit geringerem Maße als durch mittelalterliche Epen. James Joyce, Beatrix Potter, Rider Haggard, Edith Nesbit, William Morris, Kenneth Gahame, J.H. Shorthouse – sie alle und viele andere haben Tolkien auf eine gewisse Art und Weise berührt.

Für mich persönlich war die spannendste Erkenntnis aus Ordways Werk, dass Carpenters Tolkien-Biografie verschiedene Schwächen aufweist, die dazu führen, dass das heutige Bild des Jahrhundertautors verzerrt scheint. Ordway nennt Carpenter “tendenziös” und öffnet so eine Debatte, die es sich gewiss zu verfolgen lohnt – denn was Tolkien nun wirklich inspiriert hat, was er zu Lebzeiten gemacht hat und was für eine Person er gewesen ist, bleibt spannend, obgleich er einer der besterforschten Autoren seiner Zeit ist.

  • Solide recherchiert
  • Ein spannender neuer Blick auf Tolkien
  • Macht sich rein optisch hervorragend im Regal
 

  • Nicht auf Deutsch erhältlich
  • Erfordert Vorkenntnisse in Sekundärliteratur über Tolkien
  • Fast ausschließlich für Tolkien-Fans relevant

 

Artikelbilder: © Word on Fire
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Rick Davids
Fotografien: Lukas Heinen
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

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