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„The Empty Man made me do it.“ Vor ihrem Verschwinden schmiert ein Mädchen diese kryptische Nachricht mit Blut auf einen Spiegel. Auf der Suche nach ihr verstrickt sich ein Ex-Cop immer tiefer in die Machenschaften eines religiösen Kultes, in dessen Zentrum der mysteriöse „Empty Man“ steht.

Der Horror-Thriller The Empty Man erschien im Jahr 2020 und ist seitdem als Stream verfügbar. Regisseur und Drehbuchautor David Prior adaptiert in seinem Regie-Debut die gleichnamige Graphic-Novel von Cullen Bunn und Vanesa R. Del Rey. In dem teils sehr graphischen und brutalen Comic versuchen zwei Ermittler*innen die Hintergründe einer übernatürlichen Seuche aufzuklären. Dabei decken sie die abgründigen Machenschaften eines religiösen Kultes auf. Bei Priors Film handelt es sich um eine sehr lose Adaption, die sich weniger an der Handlung, sondern vielmehr der grundlegenden Mythologie der Vorlage und dem dort auftretenden Kult orientiert. Die Veröffentlichungsumstände des Filmes waren unglücklich: Zum Höhepunkt der Corona-Pandemie im Oktober 2020 erhielt er kaum Aufmerksamkeit und mäßige bis schlechte Kritiken. Bis heute ist die Produktion lediglich digital erhältlich. Dies ist bedauerlich, denn – wenngleich mit 137 Minuten bisweilen etwas langatmig – ist The Empty Man deutlich mehr als nur ein weiterer „Creepypasta“ oder „Urban Legend“-Schocker.

Story

Der eigentlichen Handlung des Films geht eine circa 20-minütige Vorgeschichte voran: Die vier Freund*innen Greg, Fiona, Paul und Ruthie unternehmen im Jahr 1995 eine Wanderung in den Bergen Bhutans. Auf der Suche nach dem Ursprung eines seltsamen Pfeifens, bricht Paul in eine Erdspalte ein. Als Greg ihn retten will, findet er ihn in einer Höhle. Dort sitzt Paul wie gelähmt vor einer grausigen skelettartigen Statue. Zusammen mit ihrem katatonischen Freund, retten sich die Bergsteiger*innen vor einem Schneesturm in eine verlassene Hütte. Die Suche nach Hilfe bleibt vergebens und auch Pauls Zustand bessert sich nicht. Schließlich findet die Wanderung ein dramatisches Ende.

Inwiefern die eigentliche Handlung, die im Jahr 2018 in Missouri ihren Anfang nimmt, mit der Vorgeschichte zusammenhängt, bleibt lange unklar. Protagonist James Lasombra ist ein Ex-Cop, der vom Unfalltod seiner Ehefrau und seines Sohnes schwer gezeichnet wurde. Als Amanda Quail, die Tochter einer Bekannten Lasombras, verschwindet, begibt er sich auf die Suche nach ihr. Die Umstände seiner Ermittlung werden dabei zunehmend obskur: Bereits vor ihrem Verschwinden, macht Amanda seltsame Andeutungen. Sie habe erkannt, dass nichts real sei. Auf ihrem Badezimmerspiegel hinterlässt sie die mit Blut geschmierte Nachricht „The Empty Man made me do it“.

Zunächst forscht Lasombra in ihrem Freundeskreis und stößt dort auf eine urbane Legende im Stil von Bloody Mary oder Candyman. Diese hat Amanda zusammen mit ihren Klassenkamerad*innen auf die Probe gestellt: Findet man auf einer Brücke eine leere Flasche, dann muss man über deren Hals blasen und an den „Empty Man“ denken. In der ersten Nacht wirst du ihn hören. In der zweiten Nacht wird er dir folgen und du wirst ihn sehen. In der dritten Nacht findet er dich. Lasombra ist erschüttert, als er entdeckt, dass alle, die das Ritual zusammen mit Amanda ausprobiert haben, eines unnatürlichen Todes starben. An den Tatorten findet sich stets dieselbe Botschaft: „The Empty Man made me do it.“

Weitere Ermittlungen führen Lasombra zum sogenannten Pontifex Institute, das sich als Fassade eines religiösen Kultes entpuppt. Die vage und kaum verständliche Glaubenslehre fokussiert sich auf das Formen der Realität durch Meditation und Willenskraft und scheint tibetanischen oder buddhistischen Ursprungs zu sein. Immer tiefer dringt Lasombra in die Machenschaften des Kultes vor. Je weiter seine Ermittlungen voranschreiten, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und alptraumartigen Visionen. Bis zum Schluss ist es schwer zu unterscheiden, was Wahrheit oder Einbildung ist oder ob es überhaupt eine Wahrheit gibt.

Wer ist der Empty Man? – Achtung: Spoiler zum Finale

Da die Logik des Kultes eher vage ist und vieles nebulös bleibt, kann nur versucht werden, sie nachzuvollziehen: Der „Empty Man“ stellt ein Bindeglied zwischen der Realität und anderen Dimensionen beziehungsweise Daseinsebenen dar. Zum Ende des Filmes stellt sich heraus, dass es sich dabei um Paul handelt, der zu Beginn des Filmes in die Erdspalte eingebrochen ist. Dort wurde er scheinbar mit einer Kraft konfrontiert, die ihn zu einer Art Brücke machte. Nun wird er in einem Krankenhaus am Leben erhalten und von den Anhängern des Kultes regelmäßig aufgesucht. Über ihn kann eine chaotische Macht in die Realität eindringen, um sie zu verändern. Der Kult verehrt diese Macht, in der Annahme, mit ihrer Hilfe selbst Einfluss auf die Realität nehmen zu können. Amanda, selbst Teil der Gemeinschaft, erklärt Lasombra, dass er ein Produkt der kollektiven Vorstellungskraft der Gläubigen ist: Da Paul nahezu verbraucht ist, haben sie einen neuen, ausdauernderen „Empty Man“ erschaffen. Erscheint er auch wie ein Mann von circa 40 Jahren, so wurde Lasombra mitsamt all seinen Erinnerungen, lediglich durch Geisteskraft erschaffen. Ist man sich dieser Tatsache bewusst, erklären sich viele vermeintliche Ungereimtheiten der Handlung. Der Name des Ermittlers, der auf Spanisch „der Schatten“ bedeutet, ist somit sicherlich kein Zufall. Durch Pauls Einfluss, wird auch Lasombra mit dieser Macht konfrontiert, die sich ihm als cthuloides Monstrum nähert und in seinen Körper kriecht – die drastischste Szene des Filmes. Er erschießt Paul und nimmt dessen Platz ein.

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Auf den ersten Blick ähnelt die Prämisse von The Empty Man Filmen wie Slender Man oder The Bye Bye Man, die sich mit urbanen Legenden oder bösartigen Kreaturen auseinandersetzen, die man durch Wiederholung ihres Namens herbeirufen kann. Im Gegensatz zu vielen anderen Filmen, die diesen Ausgangspunkt wählen, ergeht sich Priors Film allerdings nicht in Klischees: Die Mythologie, die der Gestalt des „Empty Mans“ zu Grunde liegt, ist komplex und erschließt sich nur, wenn man der Handlung bis zum Schluss aufmerksam folgt. Erst gegen Ende fügen sich die Handlungsstränge zusammen. Vieles bleibt nebulös und lässt Raum für Interpretation und Spekulation, da fraglich ist, was tatsächlich geschieht und was Einbildung Lasombras ist.

Für Zuschauer*innen, die sich eine eindeutige und absolut kohärente Handlung wünschen, ist der Film also kaum empfehlenswert. Gerade in diesen Unklarheiten, liegt jedoch das Potential von The Empty Man. Man wird dazu eingeladen, Leerstellen selbst zu schließen, die Handlung des Filmes zu interpretieren, den Film vielleicht noch ein zweites Mal anzusehen. Allein aufgrund seiner Handlung, handelt es sich um ein Werk, mit dem man sich lange beschäftigen und das man rege diskutieren kann.

Darsteller*innen

Gehört Hauptdarsteller James Badge Dale, in der Rolle des James Lasombra, zwar nicht zu den Größen Hollywoods, so ist er doch aus einer Reihe namhafter Filme wie Lord of the Flies, The Departed oder World War Z bekannt. Lasombra ist vom Verlust seiner Frau und seines Sohnes traumatisiert und macht sich schwere Vorwürfe. Äußerst glaubhaft verkörpert Dale die Zerrissenheit des Charakters, der zunächst als klassischer „starker Mann“ auftritt, jedoch sukzessive von seinem Trauma eingeholt wird und den Kontakt zu Realität und Rationalität verliert.

Handelt es sich auch eher um eine Nebenrolle, ist Sasha Frolova (Red Sparrow, Little Women) als Vermisste Amanda Quail hervorzuheben. Das junge Mädchen, wurde – ähnlich wie Lasombra – vom Tod ihres Vaters schwer mitgenommen und gerät auf ihrer Suche nach seelischer Heilung an den Kult um den „Empty Man“.

Ebenso wurde der Rest des Casts zielsicher auf die jeweiligen Rollen besetzt. Auch wenn der Film hier also nicht mit Star Power aufwarten kann, weist das Schauspiel keine größeren Qualitätsschwankungen auf und trägt durchgehend zu einer glaubhaften und dichten Modellierung der Welt bei.

Inszenierung

Bis auf wenige Ausnahmen, in denen sich die Bedrohung konkret bahnbricht, ist der Horror in The Empty Man subtil. Statt auf Jump-Scares oder übermäßige Ekel-Effekte setzt der Film auf eine düstere und bedrückende Atmosphäre.

Die Beleuchtung der Szenerie ist durchgehend kalt. Vor allem vermitteln die Aufnahmen der Schauplätze ein Gefühl der Unübersichtlichkeit. Insbesondere Gebäude scheinen aus verschachtelten Räumen und langen Gängen zu bestehen. Eine klare und eindeutige Orientierung ist selbst in der kleinen Berghütte der Vorgeschichte nicht möglich. So wie James Lasombra die Kontrolle über sein Leben verliert, so wird auch den Zuschauer*innen die Kontrolle über die Szenerie genommen.

Von besonderer Qualität ist der Soundtrack des Filmes, der aus einer Zusammenarbeit von Brian Williams und Christopher Young entstand. Während Williams für sein Industrial-Musikprojekt „Lustmord“ bekannt ist, komponierte Young unter anderem die Filmmusik für den Horror-Klassiker Hellraiser und weitere bekannte Horrorfilme wie The Exorcism of Emily Rose, Sinister oder der Neuverfilmung von Pet Sematary. Aus der Zusammenarbeit entstand ein eindrucksvoller Soundtrack, in dem sich bedrohliches Dröhnen und düstere Melodien mischen. Dieser ergibt, zusammen mit gezielt eingesetzten Umgebungsgeräuschen – das Pfeifen eines Teekessels, das Zirpen von Grillen oder plötzlicher Stille – einen Klangkörper, der die Stimmung des Filmes ungemein verdichtet.

Prinzipiell merkt man, dass die Inszenierung des Filmes bis ins letzte Detail durchdacht ist: In einem zufällig laufenden Fernseher unterhalten sich zwei Charaktere im 50er-Jahre-Film The Egyptian über die baldige Ankunft eines Gottes. Kleine Details wie dieses tragen weiter zur geschlossenen Atmosphäre des Filmes bei.

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Erzählstil

Die größte Schwäche von The Empty Man ist seine Länge. Im Zuge der über zwei Stunden gelingt es ihm nicht immer die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen zu fesseln. Gerade dadurch fällt es gelegentlich schwer, der Handlung zu folgen die – so interessant sie sein mag – vor allem gegen Ende zunehmen an Kohärenz verliert und teils schwer verständlich ist. Bis auf den anfänglichen Rückblick, verläuft der Film weitgehend linear und folgt der Handlung um den Protagonisten. Gelegentlich zeigen Einschübe, beispielsweise bei der Befragung einer Klassenkameradin Amandas, die Vergangenheit oder andere relevante Geschehnisse. Vor allem gegen Ende häufen sich zudem alptraumartige Rückblenden in die Erinnerung Lasombras, die Aufschlüsse über den Tod seiner Familie geben. Mit zunehmendem Realitätsverlust des Protagonisten, häufen sich diese Erinnerungssequenzen.

Genauso, wie es in der Mythologie um den „Empty Man“ darum geht, die Grenzen der Realität einzureißen, so spielt der Film mit der Frage, was Realität und was Einbildung der Charaktere ist: Hat die Bergsteigerin tatsächlich eine dunkle Gestalt im Schneesturm gesehen oder war es nur eine*r ihrer Freund*innen? Hören die Teenager tatsächlich ein unheimliches Pfeifen am anderen Ende der Brücke oder ist es nur der Wind? Ist James Lasombra psychotisch oder ist all das, was er sieht tatsächlich wahr? Letzten Endes obliegt es der Interpretation der Zuschauer*innen das Gesamtbild zusammenzufügen.

Erscheinungsbild/Umfang

Der Film ist ausschließlich digital in englischer Sprache und deutscher Synchronisation erhältlich. Bonusmaterial ist nicht vorhanden.

Die harten Fakten:

  • Regie: David Prior
  • Darsteller*innen: Ron Canada, James Badge Dale, Sasha Frolova, Marin Ireland, Stephen Root
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: Deutsch/Englisch
  • Format: Stream
  • Preis: Digitales Kaufen 11,99 – 13,99 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon

 

Fazit

The Empty Man ist ein Film, der den Zuschauer*innen einiges abverlangt: Aufgrund der teils inkohärenten Handlung, die viel Freiraum für Verwirrung und Interpretation lässt und wegen seiner ausgedehnten Länge, sind große Aufmerksamkeit und aktives Mitdenken gefordert: kein Horrorstreifen zum Nebenbeischauen und fröhlichen Gruseln, sondern vielmehr ein anspruchsvoller Psycho-Thriller mit Horror-Elementen.

Leider wurde The Empty Man kaum beworben, erhielt außerhalb der USA keinen Kinostart und fristet ein Dasein als rein digitale Produktion. In keinem Fall handelt es sich um ein weiteres Produkt des Horror-Massenmarktes. Priors Regiedebut besticht durch gutes Schauspiel, eine dichte Inszenierung und einen hervorragenden Soundtrack. Dem Film lassen sich Längen und eine schwer zugängliche Logik vorwerfen. Dennoch ist die Mythologie um den „Empty Man“ keinesfalls ein weiteres Urban-Legend-Klischee, das krude in eine beliebige Story integriert wurde sondern, ganz im Gegenteil, wohl durchdacht und packend. Die Kombination aus faszinierender Handlung und außerordentlich dichter Atmosphäre macht The Empty Man zu einem wahren Geheimtipp, der große Aufmerksamkeit und einen Platz unter den Klassikern des Genres verdient hat.

  • Durchdachte Inszenierung (Soundtrack!)
  • Originelle Geschichte
  • Dichte, packende Atmosphäre
 

  • Unklarheiten durch verwirrende Handlung

 

 

Artikelbilder: © 20th Century Fox
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Sabrina Plote
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

 

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