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Ein Imperium aus Müll: Die mächtigen Iremongers leben in einem Meer ausrangierter, vermoderter Dinge. Clod, der darauf wartet, erwachsen zu werden, durchlebt einen Sturm, der die Grundfesten der Familientraditionen erschüttert. Die dunklen Geheimnisse von Heap House entführen uns in ein an Dickens angelehntes Abenteuer, das jedoch sehr viel skurriler daherkommt.

Clod lebt gemeinsam mit seiner weit verzweigten Familie in einem riesigen, aus zusammengeklaubten Dingen errichteten Haus. Jede*r der Iremongers erhält zur Geburt einen besonderen Gegenstand, das sogenannte Geburtsobjekt, ausgesucht durch die Großmutter. Doch im Gegensatz zu seinen Familienmitgliedern verfügt Clod über eine besondere Gabe: Er kann die Gegenstände hören, jedes Ding sagt fortwährend einen Namen. Sein eigenes ist ein Badewannenstöpsel und hört auf den Namen James Henry Hayward. Clod, der als kränklich und sonderbar verschrien ist, wartet darauf, endlich lange Hosen tragen zu dürfen, was der familieninterne Code für Erwachsene ist. Trotzdem weiß der Sechzehnjährige schon, wen er in nicht allzu ferner Zukunft heiraten wird.

In diesem seltsamen, skurrilen Imperium, das in einem Meer aus Müll thront, geht alles seinen gewohnten Gang. Bis das Geburtsobjekt von Tante Rosamud verschwindet und ein Mädchen namens Lucy Pennant auftaucht…

Story

Der erste Teil der Iremonger-Trilogie spielt in Gänze auf dem Herrschaftssitz der Iremongers Heap House, einem riesigen Anwesen, das die komplette Familie sowie eine große Anzahl an Diener*innen beherbergt. Beheimatet ist das Herrenhaus in Filching, außerhalb der Tore Londons, in einem Meer aus Müll.

Bewohnt ist es von einer Vielzahl von Familienmitgliedern. Die Lebensweise der Iremonger, die zum einen symbolhaft das gesellschaftliche Leben der Oberschicht im 19. Jahrhundert abbildet und zum anderen jedoch ganz erhebliche Unterschiede zu dieser birgt, wird sehr lebendig aufgezeigt. Kenntlich gemacht wird dieser Unterschied zum bekannten Gesellschaftsbild von Anfang an durch die Namen der Familienmitglieder, die an bekannte Namen erinnern, jedoch einzigartig sind. Wir begegnen natürlich den Protagonist*innen Clod und Lucy, lernen jedoch auch unter anderem die Tante Rosamud, den Cousin Moorcus und Onkel Aliver kennen. Die Dienerschaft wird schlicht Iremonger genannt, eigene Namen gibt es für sie nicht in diesem Haushalt, der einer eigenen Gesellschaft mit eigenen Regeln gleicht.

Der größte Unterschied zur uns bekannten, und durch Werke wie Oliver Twist geprägten, Vorstellung der englischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ist der Stellenwert, den die Dinge einnehmen. Jede*r der Iremonger erhält zur Geburt einen Gegenstand. Dieser Gegenstand ist einer des alltäglichen Lebens, ein Badewannenstöpsel, ein Damenschuh oder eine Streichholzschachtel. Was es genau mit dieser Tradition auf sich hat, muss der*die geneigte Leser*in durch die Lektüre von Die dunklen Geheimnisse von Heap House erfahren. Nur so viel sei gesagt: Mit dem Verlust des Geburtsgegenstandes von Tante Rosamud nehmen die Dinge ihren Lauf, im wahrsten Sinn des Wortes.

Auch die Gestaltung des Hauses ist von Dingen geprägt: Durch Fundstücke, die im Müll gefunden wurden, ist die komplette Bebauung entstanden. Das Dach wird beispielsweise gekrönt durch einen Wald aus Schornsteinen. Doch die Dinge sind nicht das, was sie scheinen. Es existiert eine Wechselwirkung zwischen grundlegenden Eigenschaften von Menschen und Gegenständen, die dafür sorgt, dass nichts ist, wie es scheint und Grenzen verschwimmen können, wenn man sich nicht an die althergebrachten Regeln hält.

Nun gibt es bei dieser Menge an Personen, die Heap House bevölkern, eine Vielzahl an zwischenmenschlichen Verstrickungen: Clod lernt Lucy kennen und merkt eine außergewöhnliche Zuneigung, während er eine andere heiraten soll (die Heiratsmechanismen sind – ebenso wie alles andere – bei den Iremongers ein wenig anders als wir es kennen), es gibt Mobbing zwischen den Cousins und die Iremonger, die der Kernfamilie zu Diensten sind, haben noch einmal andere Beziehungen untereinander. Nicht zuletzt ist da noch der Großvater, der Pate-ähnlich die Fäden in der Hand hält und, nebst seiner Gattin, über Wohl und Wehe der Iremonger bestimmt.

Einleuchtend ist, dass es bei dieser Menge an Informationen eine Weile braucht, bis die Geschichte wirklich in Gang kommt. Während der ersten Hälfte des Buches erlebt die*der Leser*in durch die Augen von Clod, der die Kernfamilie präsentiert, und Lucy Pennant, die neu als Dienerin nach Heap House kommt, die grundlegenden Mechanismen, die das Leben der Iremonger ausmachen. In der zweiten Hälfte braust ein Sturm um Heap House, der Dinge ins Rollen bringt und hohe Wellen schlägt, sowohl unter den Mitgliedern der Kernfamilie als auch der Dienerschaft.

Die Iremonger leben alle in einer skurrilen Villa.

Schreibstil

Edward Carey gelingt es, die Skurrilität und Andersartigkeit der Iremonger in diesem ersten Band der Iremonger-Trilogie anschaulich darzustellen. Der*die Leser*in wird gefangen in dieser aus Schrott erbauten Villa und lernt, die vielen Bewohner*innen und deren unterschiedliche Perspektiven als Mitglieder der Familie einzuschätzen. Der giftige, wabernde Müll, der das Leben jedes*jeder Einzelnen von Geburt an prägt, wird auf jeder Seite deutlich. Man kann ihn förmlich riechen und an manchen Stellen wird durch die plastischen Beschreibungen ein regelrechter Ekel ausgelöst.

Eine Besonderheit des Buches stellen die Illustrationen dar, die zu Anfang jedes Kapitels eine in diesem Abschnitt bedeutsame Person präsentieren. In schroffen und zugleich prägnanten Strichführungen werden charakteristische Merkmale der jeweiligen Person aufgezeigt. Edward Carey, der sich für die Illustrationen verantwortlich zeichnet, gelingt es, die Stimmung des Romans, auch im Hinblick auf die Zeit, in der dieser angesiedelt ist, zu vertiefen.

Durch die Perspektivwechsel, die zwischen Clod und Lucy Pennant als Erzähler*in stattfinden, wird auf beiläufige Weise die komplette Familie und das Personal vorgestellt. Besonders diese beiden Figuren tragen zur Lebendigkeit des Romans bei, da die beiden sowohl gemeinsame Erlebnisse verbinden als auch die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten trennen.

Die allgegenwärtige Anwesenheit und ausführliche Beschreibung der Dinge und Gegenstände zeigt den hohen Stellenwert, die diese in den Leben der Iremonger einnehmen. Die Geburtsgegenstände haben eine große Bedeutung für ihre jeweiligen Besitzer*innen. Doch das ist nicht alles: Es umgibt sie ein Mysterium, denn sie rufen oder flüstern oder sagen jeweils einen Namen. Cousin Tummis Wasserhahn beispielsweise quietscht „Hilary Evelyn Ward-Jackson“. Nur Clod kann diese Namensäußerungen hören, was ihn, trotz seiner kränklichen Verfassung, zu einer Besonderheit unter den Iremongern macht.

Der Müll, der im Haus und vor allem außerhalb des Hauses wabert, nimmt einen besonderen Stellenwert ein. Er ist die Grundlage des Kapitals der Iremongers und zugleich ihre Bedrohung. Er begegnet uns auf Schritt und Tritt, wenn wir mit den beiden Protagonist*innen durch das Anwesen streifen. Selbst die Villa ist aus ausrangierten, zusammengeklaubten Dingen errichtet. Während wir an anderen Stellen bereits den Geruch des Moders in der Literatur für Erwachsene kennen gelernt  sowie eine Möglichkeit präsentiert haben, selbst in den Müll abzutauchen, schafft es Carey, die Thematik in einem Jugendbuch unterzubringen.

Die Iremonger legen Wert auf Überfluss. Schließlich haben auch sie ihre Lebensweise dem Überfluss zu verdanken. Auf diese innovative Weise wirft Edward Carey Fragen des Konsums und inwieweit die zurückbleibenden Überreste in der Lage sind, Menschen zu korrumpieren, in den Raum und gibt eine mögliche Antwort, die perfekt in das skurrile Setting von Die dunklen Geheimnisse von Heap House passt.

Der*die Leser*in kommt zudem nicht umhin, sich mit Herrschaftsmodellen, Kapitalismus und dem Wert des Individuums beim Austarieren von Regeln menschlichen Zusammenlebens zu beschäftigen. Diesen Themen müssen sich die Jugendlichen Clod und Lucy stellen, ihre eigenen Entscheidungen treffen und bekommen schließlich auch die Konsequenzen ihrer Entscheidungen zu spüren. Das Handeln der beiden ist zu jeder Zeit plausibel und gleichzeitig fiebert man auf jeder Seite mit.

Der Autor

Edward Carey ist ein englischer Autor und Illustrator, der mit seiner Frau in Austin, Texas, lebt. Er wurde 1970 in Norfolk, England, geboren und hat schon mehrere Romane für Jugendliche und Erwachsene verfasst. Es lohnt sich, seine Homepage anzuschauen, da hier ein Überblick über seine Werke und besonders die Illustrationen gegeben wird.

Erscheinungsbild

Das Hardcover ist passend zum Inhalt skurril und abwechslungsreich mit einer in Schwarz-Weiß gehaltenen Illustration des Autors gestaltet. Clod steht mit seinem Geburtsgegenstand vor dem Meer der ausrangierten Gegenstände im Unrat und hinter ihm thront Heap House auf einem Hügel. Die einzige Farbe ist ein helleres Blau, welches den Hintergrund des Titels bildet und ähnlich einem Türschild präsentiert.

Auf der Rückseite wird kurz, aber prägnant eine Inhaltsangabe geliefert, während hier auch wieder das Müllmeer zu sehen ist. Gerade der Meeresaspekt wird durch darüber kreisende Vögel noch verstärkt.

Auffallend ist das Fehlen einer Kurzvorstellung des Autors. Wer auch nur grundlegende Informationen über diesen sucht, wird einschlägige Suchmaschinen bemühen müssen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Knesebeck
  • Autor*in: Edward Carey
  • Erscheinungsdatum: 14.04.2022
  • Sprache: Deutsch (Aus dem Englischen übersetzt von Ulli und Herbert Günther)
  • Altersempfehlung: Ab 12 Jahren
  • Format: Gebunden
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN: 978-3-95728-555-3
  • Preis: 18 EUR (Print) + 13,99 EUR (E-Book)
  • Bezugsquelle Fachhandel, Amazon (deutsch und englisch), idealo

 

Bonus/Downloadcontent

Auf dem vorderen und hinteren Vorsatzpapier sind detaillierte Pläne von Heap House abgebildet. Diese sind eine willkommene Hilfestellung, denn im Laufe der Geschichte werden einige Wege zurückgelegt, die auf diese Weise besser nachvollzogen werden können. Vor jedem der 24 Kapitel finden wir Portraitskizzen auf schwarzem Hintergrund, die der Autor selbst angefertigt hat. Jede zeigt eine Person, die in diesem Kapitel eine wichtige Rolle spielt. Auch die Namen und teilweise die gezeigten Gegenstände werden benannt. Der Stil dieser Illustrationen passt hervorragend zur Grundstimmung des Buches.

Auf der Website des Verlages finden sich noch zwei Youtube-Videos in englischer Sprache eingebettet. Eines zeigt einen Trailer zum Buch und im anderen spricht der Autor über die Illustrationen. Da einen dieser merkwürdig außergewöhnliche Roman begeistert zurücklässt, ist es schön, sich im Nachgang noch einige Hintergrundinformationen einholen zu können.

Fazit

Die dunklen Geheimnisse von Heap House entführen uns in das skurrile, auf Müll errichtete Imperium der Iremonger. Als der kränkliche Iremonger Clod, der die Fähigkeit besitzt, die Geburtsgegenstände seiner Verwandten sprechen zu hören, auf das Waisenmädchen Lucy Pennant trifft, kommen die Dinge im wahrsten Sinne des Wortes ins Rollen. Ein Sturm zieht auf und bringt Bewegung in das ritualisierte Leben in Heap House.

Dieser eigentümliche, als Jugendroman angekündigte, erste Band der Iremonger-Trilogie begeistert durch sein ungewöhnliches Setting und seine noch merkwürdigeren Bewohner*innen und deren Lebensumstände. Edward Carey beschreibt das Haus, die Iremonger und die sie umgebenden Gegenstände so gekonnt, dass man den alles umgebenden Müll förmlich riechen kann. Gekrönt wird das ganze durch Illustrationen, die sich wunderbar in diese an Dickens erinnernde, viktorianisch anmutende Grundkulisse einfügen. Ein phantastisches Lesevergnügen, das sich keinem wirklichen Genre zuordnen lässt und vielleicht gerade deswegen hellauf begeistert.

 

  • Ungewöhnliche Charaktere
  • Skurriles Setting
  • Passende Illustrationen
 

  • Band 2 noch nicht auf Deutsch erhältlich

 

Artikelbilder: © John Edward Carey Harvey/Knesebeck Verlag
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Saskia Harendt
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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