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As above so below: In Flavius Ardeleans Fortsetzung seiner Miasma-Saga lernen wir die Perspektive jener Unterwelt kennen, vor der der titelgebende Heilige seine Welt beschützen wollte. Wir erfahren: Ihre Bewohner*innen leben, lieben und leiden – und verehren körperlichen Verfall in all seinen faulenden, eiternden, madenzerfressenen Stadien.

Der Heilige mit der roten Schnur, ein ungewöhnlicher Horrorroman aus Transsylvanien, wurde 2020 in Deutschland begeistert aufgenommen. Angenehm verstörend, aber mit feinem Humor und einem gewissen Augenzwinkern las sich das erste auf Deutsch erschienene Buch des rumänischen Autors Flavius Ardelean ein wenig wie ein ins Makabre umgeschlagener Walter-Moers-Roman. Dabei war die Lebensgeschichte des Heiligen Taush, der die Welt vor den Horden der un’Welt beschützen muss, stets von einem subtilen Zweifel begleitet: Was, wenn der Unterschied zwischen den Welten sich nicht an Gut und Böse festmachen lässt – was, wenn die Welt in Wirklichkeit die un’Welt ist? An dieser Frage setzt nun die letztes Jahr ebenfalls im homunculus Verlag erschienene Fortsetzung an. Mehr als doppelt so lang wie der Vorgänger, bietet Der Heilige zwischen den Welten reichlich Raum, die Grenzen zwischen Welt und un’Welt endgültig aufzuheben und die Leser*in tiefer in die modrigen Tunnelwindungen von Ardeleans Phantasie zu locken.

Story

Die Schicksale dreier ehemaliger Weggefährten laufen im Kampf zwischen den Welten unbarmherzig aufeinander zu: Bartholomäus Knochenfaust findet sich auf wundersame Weise wiedererweckt im Garten seiner Geliebten. Sein früherer Lehrlingsbruder Danko erwacht ohne deutliche Erinnerungen in der un’Welt, die von ihren Bewohnern die mehr’Welt genannt wird. Sein einziger Trost in dieser neuen Umgebung ist der verrottende Pferdekopf, den er sich bei jeder Gelegenheit aufsetzt. Der Heilige Taush schließlich ersteht nach seinem gewaltsamen Tod in einem Kloster wieder auf und lernt dort, selbst Leben zu erschaffen. Dass die drei Wiedergänger auf verschiedenen Seiten stehen werden, wenn die mehr’Welt einmal mehr versucht, in die Welt einzufallen, scheint unausweichlich.

Bereits früh wird klar, dass die inhärente Tragik dieser Konstellation aus Freunden, die zu Feinden werden, nicht als emotionales Fundament des Romans konzipiert ist. Nicht nur fehlen den Akteuren die Erinnerungen aneinander, sie sind auch allesamt rasch in ihre eigenen separaten Geschichten verstrickt. So driften sie, während die Handlung sie einander entgegenführt, innerlich auseinander, bis sie mit den Figuren aus Der Heilige mit der roten Schnur kaum mehr gemeinsam haben als die Namen und ihren jeweiligen Tod. Daher sind es vor allem die neuen Figuren, die Liebenden Karina und Ulrik, die im Mittelpunkt der Fortsetzung stehen, obgleich ihre Namen als einzige nicht in den Status von Sagengestalten erhoben werden. Sie begegnen einander, verlieben und verlieren sich, um anschließend ganz in ihrer Arbeit im Dienste der mehr’Welt aufzugehen. Ihre bewegenden Familienschicksale und Verluste bilden das Herz des Romans – ein Herz, das mit Fortschreiten der Handlung immer schwächer wird und schließlich, wenn die Begegnung der drei Kontrahenten ansteht, zu schlagen aufhört.

Besonders hervorzuheben sind die Illustrationen von Ecaterina Gabriela.

Ebenfalls verloren geht der immer wieder angedeutete subversive Ansatz des Romans, der uns vor Augen führen könnte, dass das Gute aus Sicht der vermeintlich Bösen eben genauso Böse aussieht. Zwar fiebern wir insbesondere mit Karina mit, die nach bisherigem Wertmaßstab eine Monstrosität aus der un’Welt wäre, doch zwischen Eiterströmen und Verwesungsphantasien sind wir doch nie ehrlich auf ihrer Seite. Während sie bei lebendigem Leibe die fünf Stadien des Leichenabbaus durchläuft, wünscht man ihr vor allem, sie möge dem Status einer verfaulenden Antiheiligen vielleicht doch noch entkommen. Selbst die Faszination für den Ekel, den Ardelean bereits im Vorgänger kunstvoll in die Nähe des Sakralen gerückt hatte, wird in ausufernden Beschreibungen von Körpern in verschiedensten Zersetzungsstadien irgendwann zur Banalität.

Nachdem die klischeehaften Frauenrollen das einzige Manko an Der Heilige mit der roten Schnur waren, stellt Ardelean mit Karina Putrefactio und den heiligen Frauen vom rosa Turm eine im Kontrast unabhängige (Anti-)Heldin vor. Das als Fortschritt zu bezeichnen, wäre jedoch zu viel gesagt. Schließlich kommt auch diese Geschichte nicht ohne den obligatorischen Liebhaber aus. Vor allem aber ist Karinas Werdegang von exzeptioneller Grausamkeit und einer Skurrilität gezeichnet, wie sie selbst der arme Danko mit seinem Pferdekopf nicht erlebt. Zudem bedient einer der meistverstörenden Momente des gesamten Romans, eine bizarre Sexszene zwischen den Liebenden, zugleich einen derart rassistischen Stereotyp, dass man hier zwischen einer gezielten Ästhetik des Bösen und einem tatsächlich boshaften Text nicht mehr unterscheiden kann.

Dennoch ziehen die jeweiligen Einzelhandlungen des Romans mit ihren makabren und nicht selten obszönen Bildern immer wieder in ihren Bann. Ardeleans Welt ist zweifellos anders als alles, was man von düster-abstoßenden Fantasydiegesen kennt und weit entfernt von der plumpen Effekthascherei einer Grimdark-Ästhetik.

Schreibstil

Flavius Ardelean, geboren 1985 in Brașov, ist ein rumänischer Autor, Übersetzer und Musiker.

Flavius Ardelean ist zweifellos ein großartiger Schriftsteller, dessen kontemplative Sprache über so manche erzählerische Schwäche in der motivisch leicht überfrachteten Handlung hinweghilft. Mit einer ruhigen Unbarmherzigkeit zerrt er all die unangenehmen, schmutzigen und peinlichen Aspekte, die Körper so mit sich bringen, ans Licht. Brechende Rücken, platzende Haut, allerhand Organe, Innereien und Flüssigkeiten – alles wirft uns darauf zurück, dass unsere eigenen Körper nicht anders funktionieren als jene der abstoßenden Figuren. Das damit einhergehende mulmige Grundgefühl überlagert den gesamten Text wie ein leichter Geruch von Verwesung.

Eine besondere Note erhält der Roman zudem durch seine subtile Rahmung. Hatte es sich beim Vorgänger um eine Geschichte in der Geschichte gehandelt, sind es nun „historisch-kritische“ Einschübe, welche die Handlung brechen und als Fiktion markieren. Sie erörtern die Stellung der jeweiligen Protagonisten als Mythenfiguren, erzählen ihre Geschichten neu, ändern alle Perspektiven und versichern: So etwas wie einer absoluten Wahrheit werden wir bei Ardelean nicht begegnen. Was uns hier als das Schicksal einer Figur vorgeführt wird, kann sich bereits im nächsten Buch als falsche Überlieferung erweisen.

Der Ton des Romans ist insgesamt ernster geworden. Der feine Humor des Vorgängers verliert sich zunehmend in einer – bewusst dirigierten – symbolistischen Kakophonie. Insbesondere die Geschlechtsmetaphern sind allgegenwärtig. Vom fleischfarbenen Turm bis zum zu besamenden Singvogel flechten sich Themen von Fruchtbarkeit und Zeugung in den wahnhaften Todestrieb der Figuren ein, ohne einen störenden Kontrast zu bilden. Dass das funktioniert, ist zu wesentlichen Teilen der tollen Übersetzung von Eva Ruth Wemme zu verdanken, die einmal mehr das gesamte verfügbare Vokabular rings um Fäulnis, Verwesung und Zerfall bemüht, um uns Ardeleans Körperwelten zugänglich zu machen.

Der Autor

Flavius Ardelean, geboren 1985 in Brașov, ist ein rumänischer Autor, Übersetzer und Musiker. Als Verfasser dunkler Phantastik für Kinder und Erwachsene ist er Mitglied der Horror Writers Association und wurde bereits für mehrere Preise nominiert. In Rumänien wurde er zweifach mit dem Colin Award für fantastische Literatur ausgezeichnet. Seine Bücher werden aktuell ins Deutsche und ins Russische übersetzt. Mit Der Heilige mit der roten Schnur erschien 2020 sein erster Roman auf Deutsch. Als wichtige literarische Einflüsse nennt er H.P. Lovecraft, Franz Kafka und Alfred Kubin.

Erscheinungsbild

Bücher, die im homunculus-Verlag erscheinen, sind meistens eine Zierde fürs Regal und so macht sich auch Der Heilige zwischen den Welten gut neben seinem Vorgänger, auch wenn auf ein gewisses Extra wie das rote Lesebändchen verzichtet wurde. Schriftsatz und allgemeine Aufmachung, Papier und Bindung, alles ist hochwertig und durchdacht.

Besonders hervorzuheben sind die Illustrationen von Ecaterina Gabriela, die im Kontrast zum ersten Band einen völligen Stilwechsel vornimmt. Die fahrig skizzierten Gestalten aus Der Heilige mit der roten Schnur weichen flächigen Schwarz-weiß-Gemälden, die mitunter verstörend an Röntgenaufnahmen erinnern und ihre skurrilen Motive nur erahnen lassen. Sie bilden den perfekten Spiegel einer Geschichte, in der alle Kontraste verschwimmen und Licht und Dunkel, Leben und Tod ununterscheidbar ineinanderrinnen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: homunculus Verlag
  • Autor: Flavius Ardelean
  • Erscheinungsdatum: 23. September 2021
  • Sprache: Deutsch (übersetzt von Eva Ruth Wemme)
  • Format: gebunden
  • Seitenanzahl: 496
  • ISBN: 978-3-9461-2036-0
  • Preis: 26,00 EUR
  • Bezugsquelle Fachhandel, Amazon, idealo

 

Fazit

Flavius Ardeleans Romane sind zweifellos Ausnahmeerscheinungen, und so lohnt sich auch Der Heilige zwischen den Welten schon allein, weil eine vergleichbar abgründige Buchreihe zwischen intellektuellem Anspruch und blutiger Detailverliebtheit nicht so schnell wieder erscheinen dürfte. Allerdings sollte die Zielgruppe dieses literarischen Grenzgangs sehr viel eingegrenzter sein als beim Vorgänger. Die Ausführlichkeit, mit der Ardelean in seine Unterwelt einführt, die Allgegenwart von Eiter, Kot, Innereien und Schimmel, verlieren irgendwann ihre Wirkung und werden zu einem klagenden Hintergrundrauschen der eigentlichen Handlung. Diese folgt drei bereits bekannten Figuren, die inzwischen auf verschiedenen Seiten stehen, und führt zugleich mit der angehenden Heiligen Karina und dem Tischler Ulrik zwei weitere Figuren ein. Während die Einzelhandlungen der Charaktere voller faszinierender Momentaufnahmen stecken und durchaus berührend sind, bleibt die Haupthandlung, die sich überhaupt erst im Laufe des Buchs erschließt, deutlich dahinter zurück. Da helfen auch die philosophischen Andeutungen über den Auslegungsstreit zwischen den beiden verfeindeten Welten nicht.

Der Roman ist dicht, anspielungsreich und so konzipiert, dass viele Grundlagen dieses gärenden Universums erstmals wirklich deutlich werden. Das tut er allerdings auf Kosten seiner emotionalen Grundlage: Da man bereits früh aufhört, für die Figuren zu hoffen, hinterlässt das Finale zwar eine gewisse intellektuelle Befriedigung, diese ist jedoch nur von einem unbestimmten Unwohlsein begleitet, einer Mischung aus Ekel, Langeweile und latentem Mitleid mit den Bewohner*innen der Unterwelt, die gerne mehr’Welt wäre.

  • Einzigartige, abstoßende Welt
  • Einzelhandlungen brennen sich ins Gedächtnis ein
  • Stilistisch beeindruckend
 

  • Kein wirklicher emotionaler Kern
  • Irgendwann wird der Verwesungshorror repetitiv
  • Rassistisches Trope

 

Artikelbilder: © homunculus Verlag
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Maximilian Düngen
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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