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Fesselnde Romane, Pageturner, diese Art von Geschichten, die man kurz vor dem Schlafengehen noch in die Hand nimmt, um ein einzelnes Kapitel zu lesen und die man dann einfach nicht aus der Hand legen kann. Doch was ist ihr Geheimnis, und was hat es mit dem Erzähltraum zu tun?

Jeder wird schon einmal ein gutes Buch gelesen haben, das einen bewegt hat. Ein Buch, das man unter keinen Umständen aus der Hand legen wollte und in einem Rutsch durchgelesen hat. Wenn wir solche Bücher finden, dann tauchen wir beim Lesen in eine völlig neue Welt ein. Vielleicht erdenken wir uns am Rande eigene Geschichten in dieser Welt, warten auf Fortsetzung oder lesen es erneut. Bei derartigen Büchern weiß man bereits instinktiv, was mit einem fiktionalen Traum gemeint ist. Dieser Artikel gibt euch einen Überblick über die Eigenschaften eines Erzähltraums, was ein guter Erzähltraum ist und wie Autoren ihn zerstören können. Wer sich tiefer mit der Materie beschäftigen möchte, findet hier auch Lesetipps zu weiterführender Literatur.

Der fiktionale Traum

Der amerikanische Schriftsteller und Universitätslehrer John Gardner formulierte sein Konzept des fiktionalen Traumes („fictional dream“) in seinem Werk The Art of Fiction: Notes on Craft for Young Writers. Gemäß Gardner funktioniert Fiktion („fiction“) dahingehend, dass sie einen Traumzustand für den Leser erschafft. So lange der Autor diesen Traumzustand aufrecht erhält, würde der Leser nicht daraus erwachen und stetig weiterlesen. Gleichsam würde der Leser an die vom Schriftsteller erschaffene fiktionale Welt glauben, da sie in seinem Erzähltraum Gestalt annimmt und somit wahr wird. 

Gardner erklärt dies damit, dass besagter fiktionaler Traum zunächst im Kopf des Autors entsteht. Die Aufgabe des Schriftstellers besteht nun darin, dies für den Leser niederzuschreiben, sodass derselbe Traum in den Köpfen der Leser entstehen kann.

Gardner vertritt die Auffassung, dass der Prozess des Schreibens ein künstlerischer Schaffensprozess ist. Häufig findet sich jedoch auch die Auffassung, dass Schreiben ein Handwerk sei, welches sich in wesentlichen Zügen erlernen lässt. Ganz gleich, welche Sichtweise man vertreten mag, unzweifelhaft ist es der Autor, der mit einem spannenden Werk besagten Traum in den Köpfen seiner Leser entstehen lässt.

Die wissenschaftlichen Hintergründe zum Entstehungsprozess eines Romans sollen an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden, da dies zu weit vom ursprünglichen Thema wegführen würde. Wer tiefer in die Materie einsteigen möchte, kann auf eine Vielzahl von Publikationen zurückgreifen, welche sich an angehende Autoren wenden. Die Autorenratgeber von Stephan Waldscheidt werden im Verlauf des Artikels noch erwähnt, aber auch www.neobooks.com bietet eine lesenswerte und kostenfreie Autorenwerkstatt an.

Vom fiktionalen Traum zum Erzähltraum

Der deutsche Autor Stephan Waldscheidt hat neben einigen Romanen auch Schreibratgeber für Autoren verfasst. In seinen Ratgebern greift er den fiktionalen Traum auf, wobei er hierfür den Begriff „Erzähltraum“ verwendet.

„Den ich lieber Erzähltraum nennen will, weil >fiktionaler Traum< ja bloß eine wortwörtliche Übersetzung aus dem Englischen ist.“
(Aus: Schreiben hoch 3. Schreibratgeber-Paket für Autoren)

Der Begriff „Erzähltraum“ klingt tatsächlich weniger sperrig als „fiktionaler Traum“, deshalb wird auch hier fortan dieser Begriff verwendet.

Eine genaue Definition für den Erzähltraum sucht man vergeblich, der Begriff erschließt sich eher aus dem oben bezeichneten Konzept von John Gardner oder auch aus den Ratschlägen für Autoren von Stephan Waldscheidt. Vereinfacht ausgedrückt lässt der Erzähltraum den Leser die Tatsache vergessen, dass er lediglich geschriebene Worte abliest.

Solche Romane ziehen uns so tief in den Erzähltraum, dass man vorhat, nur ein einziges Kapitel vor dem Schlafengehen zu lesen – und plötzlich ist es halb vier Uhr morgens. Verkaufsfördernd werden solche Bücher auch als Pageturner bezeichnet – und es sind solche Pageturner, die den Leser träumen lassen und somit zum Verkaufsschlager werden.

So ziemlich jeder Leser kennt den Zustand, vollkommen in einer Geschichte gefangen zu sein.

Unabhängig vom Begriff hat wahrscheinlich jeder Leser bereits eigene Erfahrungen mit dem Erzähltraum gemacht. Wir leiden mit dem Protagonisten, wir wollen dem Kommissar zurufen, wer der Mörder ist, oder aber dem Helden, dass er die nächste Türe nicht öffnen darf, weil sich dahinter eine Falle befindet.

Auf der Suche nach neuem Lesestoff besucht man für gewöhnlich eine Buchhandlung oder schaut beim Online-Händler seiner Wahl. Letztendlich fällt die Entscheidung auf ein Buch, dessen Genre den eigenen Interessen entspricht. Man schaut auf das Cover, liest den Klappentext und kauft den Roman, von dem man sich eine gute Geschichte erhofft. Wenn der Autor nun einen starken Einstieg in die Geschichte geschrieben hat, ist der Leser direkt mitten drin im Erzähltraum und verbleibt dort, vorausgesetzt, Autor und Lektorat beherrschen ihr Handwerk.

Ein guter Spannungsbogen, glaubwürdige Charaktere, eine in sich stimmige Welt, das sind einige der Grundvoraussetzungen für eine gute Geschichte und somit Garanten für einen tollen Erzähltraum.

Der Erzähltraum wird gestört durch …

In verschiedenen Ratgebern für Autoren finden sich Hinweise darauf, was man vermeiden sollte, um den Leser nicht aus seinem Erzähltraum erwachen zu lassen. Jedoch haben auch das Lektorat und die Typographie des Textes Einfluss darauf, ob der Leser in seinem Traum gestört wird oder gar, im schlimmsten Fall, das Buch an die Seite legt. Derartige Störungen können durch trivial scheinende Fehler ausgelöst werden, wie beispielsweise einen übersehenen Rechtshcreibfehler. Hast Du es gemerkt? Selbst kleine Fehler stören den Lesefluss und können sich negativ auf den Erzähltraum auswirken. Sobald sich Fehler jedoch häufen oder der Leser gar Sätze mehrmals lesen muss, um den Sinn zu erfassen, dann wird der Erzähltraum mit Sicherheit unterbrochen.

… Beschreibungen und Erklärungen

Neben Fehlern oder der Lesbarkeit des Textes an sich gibt es eine Vielzahl von Fehlern, welche der Autor vermeiden kann, um den Erzähltraum aufrechtzuerhalten. So finden sich im Der Herr der Ringe von J.R.R. Tolkien lange Passagen, in denen der Autor ganze Landstriche beschreibt, durch die sich die Leser regelrecht durchquälen mussten. Ein sicherer Hinweis darauf, dass der Erzähltraum an dieser Stelle gestört ist. Dem Werk insgesamt tut dies keinen Abbruch und so manch ein Leser mag auch die Detailtiefe bewundern, aber vom Grundsatz her ist dies nicht ideal vom Autor gelöst worden.

Neben Beschreibungen können auch Erklärungen den Leser aus seinem Erzähltraum wecken, denn diese stellen immer einen Eingriff des Autors dar. Der Autor läuft Gefahr, dem Leser vor Augen zu führen, dass dieser nur eine Geschichte vor sich hat. Zudem können Beschreibungen und Erklärungen die Geschichte auf einen rein informativen Wert reduzieren. Besser ist es allemal, wenn der Autor nach dem Grundsatz „show, don’t tell!“ verfährt und Erklärungen sowie Beschreibungen kurz und knapp abhandelt, so sie denn erforderlich sind.

… Wechsel der Erzählperspektive

Häufig findet sich der Hinweis für angehende Autoren, dass Wechsel der Perspektive den Leser aus dem Erzähltraum wecken könnten und daher zu vermeiden seien. Dies wiederum ist eine Einschätzung, die lediglich dann zwingend zutreffend ist, wenn zwischen einer personellen und auktorialen Erzählperspektive gewechselt wird. In den drei zuletzt von mir rezensierten Büchern finden sich Perspektivenwechsel, welche von den Autoren gut gelöst wurden. Darunter zum Beispiel Das dunkle Archiv von Genevieve Cogman und Die 13 Gezeichneten von Judith & Christian Vogt. In diesen Romanen wird der Erzähltraum keineswegs negativ beeinflusst.

… Wiederholungen

Fifty Shades of Grey war ein durchschlagender Erfolg, es gab jedoch auch Leser, welche den ersten Roman frustriert beiseitegelegt haben. Ungezählte Male spricht die Protagonistin mit ihrer inneren Göttin, wird die RayBan-Sonnenbrille von Mister Grey erwähnt und erfahren wir, dass die Jeans bei ihm auf den Hüften sitzt wie bei niemanden sonst. Die schiere Anzahl an Wiederholungen derselben Phrasen ist entnervend und kann bei dem ein oder anderen Leser durchaus den Erzähltraum zerstören.

… Formal ungewöhnliche Einstiege

In einigen Romanen beginnen Kapitel mit einer Orts- und Zeitangabe. Hierbei besteht die Gefahr, dass die Form den Inhalt überlagert und dadurch von der Geschichte ablenkt. Dem Leser wird mit derartigen Einstiegen vor Augen geführt, dass er nur eine Geschichte liest und dies kann seinen Erzähltraum stören. Dies muss allerdings nicht so sein, denn es gibt durchaus erfolgreiche Bücher, die zeigen, dass solche ungewöhnlichen Einstiege funktionieren. Markus Heitz verwendet diese in seinen Romanen über die Zwerge und die Albae, Andreas Brandhorst in seiner Kantaki-Saga.

Fazit

Fiktionaler Traum oder auch Erzähltraum, zwei Begriffe, welche dieselbe Bedeutung haben und mit denen die meisten von uns schon eigene Erfahrungen gesammelt haben dürften. Mit dem Erzähltraum wird der Zustand bezeichnet, wenn der Leser in einen Roman eintaucht und vor seinem geistigen Auge die Welt und Charaktere Gestalt annehmen. Ein guter Erzähltraum ist ein Garant für ein gutes Buch, das der Leser nicht mehr aus der Hand legen will, bis er die letzte Seite gelesen hat. Außerhalb von Ratgebern für Autoren werden diese Begriffe sehr selten verwendet, dabei sind sie sehr gut geeignet, um auszudrücken, was Bücher mit uns anstellen.

Bücher sind äußerst vielschichtig, und ebenso verhält es sich mit dem Erzähltraum. Ein interessantes und spannendes Buch kann uns mit Leichtigkeit in einen Erzähltraum ziehen, Fehler oder Schwächen können uns jedoch auch wieder daraus erwachen lassen. Wer über diesen Artikel hinaus mehr zu diesem Thema erfahren möchte, kann ein Blick in The Art of Fiction: Notes on Craft for Young Writers von John Gardner werfen oder sich das Schreibratgeber-Paket Schreiben hoch 3 von Stephan Waldscheidt anschauen.

 

Artikelbilder: © pathdoc – fotolia.com, Die Verlage, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur

 

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