Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten

Im Mai 2015 erschien die deutsche Version der zum zehnjährigen Jubiläum herausgebrachten, liebevoll Director’s Cut genannten Version von American Gods. Angesichts dessen und der großen Fangemeinde, der sich Autor Neil Gaiman international erfreut, ist es für mich Zeit, einen Blick auf und vor allem in dieses Buch zu werfen.

Story

Die Hauptfigur Shadow Moon sitzt wegen eines missglückten Raubüberfalls im Gefängnis. Beziehungsweise saß er, denn das Buch beginnt damit, dass er aufgrund des Unfalltodes seiner Frau Laura früher entlassen wird. Auch sein bester Freund kam bei dem Unfall ums Leben, sodass Shadow nichts von dem geblieben ist, was er nach dem Gefängnis vorzufinden hoffte.

Noch auf dem Weg zur Beerdigung begegnet er dem mysteriösen Mr. Wednesday, der einiges über Shadow zu wissen scheint, was er eigentlich nicht wissen könnte. Mit völliger Selbstverständlichkeit bietet er Shadow einen Job als Leibwächter an. Nach kurzem Zögern nimmt dieser an und gerät dadurch in einen Konflikt, von dem er nichts wusste. Er wusste bisher nichteinmal von der Existenz der Konfliktparteien. Denn alte Götter wie die der nordischen oder ägyptischen Mythologie streiten mit den neuen Göttern, beispielsweise denen der Massenmedien oder des Internets. Wobei eigentlich nicht von einem Streit die Rede sein kann, denn auch die alten Götter sind sich untereinander nicht einig.

American Gods spielt jedoch in den Vereinigten Staaten, nicht im Herkunftsland der alten Götter. Denn, so die dem Buch zugrunde liegende Theorie, Götter und andere mythologische Wesen existieren dadurch, dass an sie geglaubt wird. Die Einwanderer brachten also ihre Götter und andere mythologische Wesen mit in die Neue Welt. Mit der Zeit entstanden dort neue, während die alten immer mehr in Vergessenheit gerieten. Naheliegenderweise gefällt das nicht allen von ihnen.

Shadow gerät durch Mr. Wednesday tief in den Konflikt der Götter hinein, ohne lange Zeit selbst zu wissen, wie bedeutend seine Rolle dabei ist und was das alles mit ihm persönlich zu tun hat.

Das Buch ist intelligent aufgebaut, immer wieder werden einzelne Abschnitte eingestreut, die Figurenhintergründe beleuchten. Einige der Gestalten mögen etwas speziell wirken in ihrer Sicht auf die Welt oder ihrem Handeln, aber es sind schließlich Götter. Dabei versinken sie nie im Klischee, auch wenn es angerissen und teilweise augenzwinkernd reflektiert wird.

Die anfangs außenstehende Perspektive kann der Leser gut mit Shadow teilen, der so glaubhaft ist, dass man ihm auf der Straße oder in der U-Bahn begegnen könnte.

Der Spannungsbogen beginnt am Anfang durch den Auftritt von Mr. Wednesday recht steil, schnell stellt sich die Frage, wer oder was dieser seltsame Fremde ist. Zwar verliert der Spannungsbogen zwischendurch etwas an Fahrt, doch an dieser Stelle können Innenschau und Reflektion seitens Shadow stattfinden, bevor die Spannung wieder anzieht.

Schreibstil

Neil Gaiman wirft den Leser gemeinsam mit Shadow in die Grausamkeit des Schicksals, das ihm zum Tod seiner Frau die Entlassung aus dem Gefängnis beschert. Mit Shadow mitzufühlen ist einfach, denn er steht klar und eindeutig im Fokus der Erzählung. Dabei ist er anfangs mehr Beobachter denn treibende Kraft der Handlung, was sich im Verlauf des Buches jedoch zunehmend ändert. Dazu ist er in seinem Tun und Denken eine zutiefst lebensnahe Figur, wenn auch er etwas Mysteriöses an sich hat, das sich erst mit der Zeit offenbart.

Das Buch lässt sich flüssig lesen, Dialoge werden teilweise in Umgangssprache geführt, ohne durch zu viele Slangbegriffe unverständlich zu werden.

Von Anfang an werden teilweise winzige Hinweise und scheinbare Seitenhandlungen gestreut, die nachher alle in den Haupthandlungsstrang münden. Es erfordert einiges an Konzentration, sie alle beim ersten Lesen zu bemerken und ihnen die angemessene Bedeutung einzuräumen, wobei sich die Geschichte aber auch ohne alle Hinweise gut verstehen lässt. Der Wert beim erneuten Lesen ist durch diese Details natürlich ganz enorm, selbst dem aufmerksamsten Leser kann etwas durchrutschen. Ich habe auch beim vierten Lesen noch Kleinigkeiten entdeckt, die mir nie zuvor aufgefallen sind. Dadurch ist es ein Buch, das Konzentration bei der Lektüre erfordert, nichts, was sich einfach so wegliest.

American Gods ist eigentlich nicht wirklich gewalttätig, es suhlt sich nicht in Blut oder Gedärmen. Doch wenn Gewalt vorkommt, ist die Beschreibung recht explizit, es wird nichts ausgewalzt, aber auch nichts beschönigt. Für Leser, die rosafarbene Einhörner auf Blumenwiesen bevorzugen, ist es unter anderem deswegen eindeutig die falsche Lektüre.

Das Buch gibt einerseits die Möglichkeit, Götter und andere Wesenheiten aus Shadows Sicht kennenzulernen. Für einen mythologisch gebildeten Leser sind außerdem zahlreiche Feinheiten zu entdecken und Erkenntnismomente zu haben, Figuren bereits anhand der ersten Beschreibung vor Shadow zu identifizieren. Daneben wird auch immer wieder in kürzeren Abschnitten erzählt, wie einzelne Götter nach Amerika gekommen sind oder was sie dort aktuell machen, was auch den mythologisch weniger bewanderten Leser abholt. Auch sind einige Figuren der in Deutschland weniger bekannten, amerikanischen Folklore entnommen, sodass das Buch Wesenheiten beschreibt, die für die meisten hiesigen Leser neu sind. Es bildet also ganz nebenbei noch.

American Gods erschien 2001 im Original und 2003 erstmals auf Deutsch. Zum zehnjährigen Jubiläum 2011 erschien auf Englisch eine Version des Romans, die Neil Gaiman ursprünglich als finale Fassung angesehen hatte, quasi ein literarischer Directors’ Cut. Um ein strafferes Buch veröffentlichen zu können, hatte Gaiman vor der Erstveröffentlichung auf Verlagswunsch leicht gekürzt.

Im Mai 2015 erschien der Director’s Cut in neuer Übersetzung von Hannes Riffel auf Deutsch. Die Übersetzungen sind beide von guter Qualität, sie lassen sich auch im Vergleich mit dem englischen Original lesen ohne Schmerzen zu leiden. Auch wurde auf eine größere Übersetzung von Namen verzichtet, nur die Namen einiger Götter, vor allem der aus dem slawischen Sprachraum, wurden in der deutschen Schreibweise aufgeführt.

Die Director’s Cut-Version ist im Deutschen etwa 30 Seiten länger als die vorherige. Der zusätzliche Platz wird vor allem für Beschreibungen, Charakterisierungen und weitere Details verwendet, die Haupthandlung an sich ist davon unberührt.

Die deutsche Taschenbuchauflage von 2005 und das Hardcover von 2003 sind mittlerweile vergriffen.

Preis-/Leistungsverhältnis

Für 14 EUR bekommt man ein dickes Taschenbuch randvoll mit einer guten Geschichte und einigem Zusatzmaterial. Da American Gods mir auch beim vierten Lesen noch immer viel Freude bereitet, denke ich, dass es wirklich mit einem ausgezeichneten Preis-/Leistungsverhältnis aufwartet. 14 EUR lassen sich deutlich schlechter investieren. Das E-Book ist mit 10,99 EUR allerdings nur wenig günstiger als die gedruckte Version.

Erscheinungsbild

Neil Gaiman American GodsDer Autor Neil Gaiman ist in der Phantastik alles andere als unbekannt, hat er sich doch mit den Sandman-Comics, einigen Folgen Dr. Who, Coraline und anderen Büchern einen Namen gemacht. Für American Gods gewann er sowohl den Hugo als auch den Nebula Award, zwei der bedeutendsten Preise für Phantastik im englischsprachigen Raum und darüber hinaus.

Das aktuelle Cover zeigt in Blautönen eine Straße durch eine eintönige Landschaft unter düsteren Wolken, an deren Ende ein Blitz einschlägt. Das Motiv lässt ein Roadmovie assoziieren, durchaus passend aufgrund der zahlreichen Reisen von Shadow und Mr. Wednesday kreuz und quer durch die USA und auch der inneren Erkenntnisreise des Protagonisten.

Der Druck ist gut, die Schriftgröße angemessen, das Buch ist jedoch nicht ganz leicht aufgrund seines Umfangs.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Eichborn Verlag (2015), Heyne Verlag (2005)
  • Autor(en): Neil Gaiman
  • Erscheinungsjahr: 2005 bzw. 2015
  • Sprache: Die Originalsprache ist englisch, die bibliographischen Angaben beziehen sich jedoch auf die deutsche Version.
  • Format: mittleres Taschenbuchformat
  • Seitenanzahl: 672 (2015), 624 (2005)
  • ISBN: 978-3847905875 (2015)
  • Preis: 14,00 EUR (2015)
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Bonus/Downloadcontent

Die aktuellste Auflage ist ergänzt um mehrere Vorworte, die die Entstehung des Buches und der langen Version erklären, außerdem enthält sie ein Interview mit dem Autor und weitere Bonustexte.

Neil Gaiman hatte 2001 den Entstehungsprozess seines Buches online begleitet. Unter dieser Adresse sind die Blogeinträge immer noch einsehbar, vorausgesetzt, man ist der englischen Sprache mächtig.

Fazit

Vor meiner ersten Lektüre war ich zugegeben skeptisch, Götter und andere mythologische Figuren, die durch das moderne Amerika wandern, erschienen mir eher wie die Möglichkeit, Klischees und Witze zu reißen. Doch bereits nach wenigen Seiten wusste ich es besser. Zwar sind viele Dinge durchaus extrem lustig, aber der Grundtenor ist eindeutig ernster, teilweise fast tragischer Natur.

Anders als beispielsweise Der Sternwanderer ist American Gods ganz klar für ein erwachsenes Publikum geschrieben und kein All-Age-Titel.

Für Liebhaber einer ausgefeilten Geschichte mit vielen Details ist American Gods eine wunderbare Lektüre. Gleiches gilt für alle, die gerne mythologische Elemente in neuem Gewand lesen.

Wer jedoch eine leichte Lektüre ohne Nachdenken möchte, sollte die Finger davon lassen. Gleiches gilt für alle, die Probleme mit ungeschönten Beschreibungen von Gewalt haben.

Angesichts des hohen Wiederlesewerts, der gut komponierten Story und der liebevoll charakterisierten Figuren gebe ich einen klaren grünen Daumen.

Daumen5weiblich

Artikelbilder: Eichborn Verlag
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

 

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein