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Die zerbrochene Puppe von Judith und Christian Vogt war eine der Erfolgsgeschichten der letzten Jahre. 2012 erschienen, begeisterte die Erzählung nicht nur Leser und Kritiker gleichermaßen, sondern wurde auch noch mit dem Deutschen Phantastik Preis 2013 als bester deutschsprachiger Roman ausgezeichnet. Ein Jahr später konnte auch die Anthologie Eis und Dampf, welche mehrere Kurzgeschichten im gleichen Setting spielen lässt, viel Lob einheimsen.

Beiden Büchern gemein ist, dass sie den Leser in eine durchdachte, glaubwürdige Steampunk-Welt führen. Natürlich eignet sich ein schon so weit entwickeltes Setting auch ideal für ein Rollenspiel. Daher veröffentlichte der Uhrwerk Verlag nun für das frisch ins Deutsche übersetzte, erzählerisch orientierte Universalregelsystem Fate Core einen Quellenband, welcher das qualitativ hohe Niveau der literarischen Vorlagen sogar noch übertrifft.

Spielwelt

Die Hintergrundgeschichte dürfte den Lesern der Romane hinlänglich bekannt sein: Im neunten Jahrhundert n. Chr. kommt es zu einem schweren Vulkanausbruch in Island. Eine neue Eiszeit ist die Folge, welche den gesamten Norden unbewohnbar macht, die Entdeckung Amerikas verhindert und viele Millionen Europäer dahinrafft. Doch die Menschen trotzen diesen Widrigkeiten mit ihrem Erfindungsreichtum. Im Jahr 904 nach der langen Nacht (Beginn der Eiszeit), also dem 19. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, sind die Menschen wesentlich höher entwickelt. Mit Lochkarten programmierte Maschinen, Luftschiffe als Fortbewegungsmittel, die Nutzung künstlicher Gliedmaßen – all das ist alltägliche Normalität in dieser Welt.

Natürlich hat diese lange Eiszeit auch geopolitische Auswirkungen. Die europäischen Machtverhältnisse haben sich, obwohl an die realhistorische Entwicklung angelehnt, deutlich verschoben. Ænglang beispielsweise ist fast komplett mit Eis bedeckt und spielt politisch daher eher die zweite Geige. Zumindest dank seiner technischen Innovationen wie beispielsweise der Dampfmaschine kann es sich immerhin noch wirtschaftlich zwischen den Großmächten behaupten.

Neben den mehr oder minder historisch angehauchten Staaten finden sich in Eis & Dampf auch mehrere „Neuschöpfungen“ oder „Neuinterpretationen“ historischer Regionen. Prominentestes Beispiel hierfür ist sicher das freie Friesland. Dieser schmale Küstenstreifen an der Nordsee hat sich über Jahrhunderte seine Unabhängigkeit bewahrt. Bewohnt von voneinander unabhängigen heidnischen Stämmen, bietet er den perfekten Rückzugsort für Luftpiraten.

Und solch ein Rückzugsort wird auch für die meisten Spielercharaktere dringend notwendig sein. Denn sicher werden einem in den Abenteuern die verschiedensten Organisationen und Geheimbünde in die Quere kommen. Bibliker und Gnostiker führen ihren mehr oder minder verdeckten eigenen Religionskrieg miteinander. Der Freihandelsbund Lufthansa macht Jagd auf Luftpiraten und Konkurrenten. Und die europäischen Adelshäuser spionieren und intrigieren kompromisslos gegeneinander. Die Spielwelt von Eis & Dampf ist also definitiv keine friedliche und bietet somit mehr als genügend Möglichkeiten spannende Abenteuer, diplomatische Verwicklungen und haarsträubende Konflikte zu erleben.

Inhalt

Diese Spielwelt mitsamt ihrer speziellen Regeln will uns der Quellenband nun in sieben Abschnitten näher bringen. Dabei wird jedes Kapitel von dem Auszug aus einer Kurzgeschichte abgeschlossen, welche die Beispielcharaktere in Aktion zeigt. Nach einer Aufzählung der zahlreichen Mitwirkenden, einem Vorwort, einem übersichtlich angelegten Inhaltsverzeichnis und einer Erklärung über die Buchnutzung geht es dann auch schon los:

  1. Willkommen in der Eiszeit
    In diesem 34 Seiten umfassenden Kapitel wird dem Leser die Spielwelt näher gebracht. Beginnend mit einer Chronologie der Ereignisse über die wichtigsten sozialen Gruppen bis hin zu wissenschaftlichen Errungenschaften erhält man hier bereits einen guten Einblick darüber, worum es in Eis & Dampf eigentlich geht.

  2. Eis & Dampf mit Fate
    Auf 21 Seiten wird dem Leser erklärt, wie er dieses Steampunk-Setting stilecht mit Fate Core spielen kann. Dabei werden keine Regeln erklärt, denn die befinden sich ja im Grundregelwerk, sondern lediglich neue Fertigkeiten, neue Stunts, die passende Ausrüstung etc. benannt und mit Werten versehen. Dieser Abschnitt geht nahtlos über in…

  3. Einer der vielen Beispielcharaktere aus Eis und Dampf
    Einer der vielen Beispielcharaktere aus Eis & Dampf

    In der bemalten Haut eines Friesen – Archetypen
    Hier werden typische Beispielcharaktere beschrieben, angefangen vom draufgängerischen Völkerkundler über die verführerische Spionin und die verrückte Wissenschaftlerin bis hin zur nubischen Söldnerin (die allerdings an manchen Stellen unnötigerweise diskriminierend als „Mohrin“ bezeichnet wird – allerdings ist diese meine persönliche „Gutmenschen“-Meinung). Da Rollenspiel ein Gruppenerlebnis ist, finden sich ferner noch ein paar Worte über Archetypen als Themengruppe sowie ein beispielhaftes Luftschiff. Dieser Abschnitt umfasst 16 Seiten.

  4. Richtig Dampf machen
    Eine Seite mehr, nämlich 17 Seiten, umfasst das Kapitel für Spielleiter. Hier werden Tipps für die Gestaltung von Abenteuern gegeben (z.B. Entermanöver und Verfolgungsjagden), Kampagnenvorschläge und Gegnerprofile. Alles, was ein Spielleiter halt so braucht. Diesen Abschnitt, gerade wegen der wichtigen Gegnerprofile, hätte ich persönlich zwar am Ende des Buches positioniert. Da man sich das entsprechende Kapitel aber mit dem Lesebändchen markieren kann, sollte dies im Spielbetrieb nicht ins Gewicht fallen.

  5. Die Welt der Eiszeit
    Mit 38 Seiten eines der umfangreicheren Kapitel des Quellenbands. Hier werden die verschiedenen Länder der Spielwelt mehr oder minder ausführlich beschrieben. Besonders erwähnenswert finde ich hier noch den Vorschlag, dass man ganze Nationen als Spielcharaktere nutzen kann um eine diplomatisches Ränkespiel im Stil von Game of Thrones zu veranstalten.

  6. Besondere Schauplätze – Blickpunkte
    Noch etwas umfangreicher mit 42 Seiten ist dieses Kapitel. Der Name sagt schon, worum es geht: Berühmte Orte wie die schwimmende Stadt auf dem Eisberg, Æsta, und die Sperrzone Prag. Neben einer genauen Vorstellung des Schauplatzes inklusive besonderer Orte und Personen gibt es auch jeweils einen Abenteuervorschlag.

  7. Klar Luftschiff zum Entern! – Geschichten und Szenarien
    Bis hierhin haben wir nun alles, was man für ein zünftiges Steampunk-Abenteuer braucht: Spielwelt, Charaktere, Gegner. Was fehlt noch? Ein Abenteuer! Im letzten Kapitel findet sich mit Carnevale Macabro ein komplett ausgearbeitetes Abenteuer, welches die Spieler mit mehreren finsteren Geheimgruppen um eine wertvolle Bibel ringen lässt. Besonders gefallen hat mir dabei besonders, dass verschiedene Einstiegsszenarien für alle möglichen Charaktertypen ausgearbeitet wurden. Übersichtliche Diagramme zeigen hier zudem an, wer was wie mit wem zu schaffen hat, sodass auch Einsteigerspielleiter gut den Überblick behalten. Neben diesem spannenden, durchaus kampflastigen Abenteuer finden sich noch weitere Szenariovorschläge in dem 31 Seiten umfassenden Kapitel.

Abgeschlossen wird das Buch dann noch mit einem vierseitigen Register.

Preis-/Leistungsverhältnis

Der Preis von 27,95 EUR scheint mir vollkommen angemessen. Wie vom Uhrwerk Verlag gewohnt ist die Druckqualität über jeden Zweifel erhaben. Und inhaltlich bekommt man für sein Geld eine komplett ausgearbeitete Spielwelt mit zahlreichen Abenteuervorschlägen. Dabei sind die Texte flüssig lesbar und gut lektoriert. Hier gibt es wirklich nichts auszusetzen.

Erscheinungsbild

Eis & Dampf Cover FATE Uhrwerk Verlag Christian VogtEis & Dampf kommt als 214 Seiten starkes Hardcover im B5-Format. Der Umschlag mit dem stylischen Cover ist farbig, der Inhalt kommt in Graustufen auf matt-weißem Papier. Auch ein stabiles Lesebändchen ist enthalten. Man sieht dem Buch einfach an, dass es hochwertig produziert ist. Die mit recht großen, gut lesbaren Buchstaben geschriebenen Texte werden durch gelegentliche, zumeist mindestens halb- oder gar ganzseitige Bilder und Landkarten aufgelockert.

Auch wenn man teilweise deutlich erkennt, dass verschiedene Künstler am Werk waren, sind die scharf gedruckten Illustrationen doch durchweg optisch ansprechend und in der Lage, die passende Stimmung zu transportieren.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Uhrwerk Verlag
  • Autor(en): Christian Vogt & Diverse
  • Erscheinungsjahr: 2015
  • Sprache: Deutsch
  • Format: B5 Hardcover
  • Seitenanzahl: 214
  • ISBN: 978-3-95867-019-8
  • Preis: 27,95 EUR (Print) 14,99 EUR (PDF)
  • Bezugsquelle: Amazon, Sphärenmeister

 

Bonus/Downloadcontent

Auf der offiziellen Webseite zu Eis & Dampf  kann man Charakterbögen, Archetypen und Szenarien herunterladen.

Fazit

Mit Eis & Dampf bekommt man ein wirklich gelungenes Steampunk-Komplettpaket. Die Welt ist stimmig und komplex, die Regelerweiterungen sind passend, die Abenteuer(-Vorschläge) sind spannend. Und nicht nur einen Abenteurer, sondern gleich ein ganzes Luftschiff oder gar eine ganze Nation zu verkörpern hat natürlich seinen ganz eigenen Reiz. Auch die Optik, die Texte und die Druckqualität sind gelungen. Ich gebe zu, ich hätte vorher nicht gedacht, dass ich so begeistert sein würde.

Ich muss mich schon ganz schön anstrengen, um überhaupt einen Kritikpunkt zu finden. Und tatsächlich! Einige wenige Bilder sind doppelt drin. Klingt viel zu pingelig? Ist es auch, aber ich finde sonst einfach nichts zu meckern. Daher bleibt mir nur die Empfehlung: Wer Steampunk auch nur irgendwie mag und zudem mit Fate etwas anfangen kann, sollte hier unbedingt mal einen Blick riskieren.

Daumen5maennlich

Artikelbilder:  Uhrwerk Verlag
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

5 Kommentare

  1. Danke für die Rezension. Freut mich besonders, wenn Übersichtlichkeit und Lesbarkeit positiv auffallen. Ein Settingband ist eben auch immer ein Nachschlagewerk.
    Hier gebe ich einen kurzen Einblick ins Buch, inkl. Vorschau aufs „Seitenzählwerk“: https://youtu.be/JYxnA3X2yA0

    Einer der „zahlreichen Mitwirkenden“

    P.s.: kleiner Tippi: Lufthanse statt Lufthansa

  2. Hallo und von mir auch vielen Dank für die tolle Rezension!
    Was den Ausdruck „Mohrin“ angeht: Der wird im Band nicht „outgame“ benutzt, taucht aber einige Male in der aus Sicht eines der Archetypen geschriebenen Kurzgeschichte auf. Ein adliger Lebemann wie Eugen Oswald Leopold denkt leider auch in unserem alternativen 19. Jahrhundert in rassistischen Klischees. Das Rollenspiel will natürlich niemanden dazu anhalten, solche diskriminierenden oder rassistischen Begriffe zu verwenden, aber es kann reizvoll sein, im Spiel einen Charakter solche Vorurteile überwinden zu lassen. Und Eugen weiß schon, was er an Amanikahatashan hat. :)

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