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Steampunk verbinden die meisten wahrscheinlich ebenso wie ich mit abenteuerlichen Geschichten voll rauchender, von Kohle und Zahnrädern angetriebenen Maschinen und oft auch Änderungen in der Welt.

All dies trifft auch auf die Ætherwelt von Anja Bagus zu, nur das dort mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine Veränderung in der Welt stattfand. Ein grüner Nebel steigt über manchen Gewässern auf, der Æther genannt (und im Buch konsequent mit Æ geschrieben) wird. Trotz seiner mysteriösen Herkunft eignet er sich für eine Vielzahl von Dingen: er treibt Luftschiffe und Automobile, Maschinen und Waffen an. Mit ihm lassen sich Unsummen verdienen und Wissenschaftler aller Disziplinen forschen an weiteren Einsatzmöglichkeiten.

Aber der Æther verändert nicht nur Materialeigenschaften, sondern auch die Welt. Mythengestalten erwachen zum Leben, einige Menschen verwandeln sich sogar in solche. Dass die Kirche Mythenwesen, gleich was sie zuvor waren, als Verdorbene und Teufelsbrut ablehnt, verschärft die sozialen Spannungen, die aus dem Erwachen ohnehin entstanden sind.

Story

Waldesruh spielt in den Tagen um Jahreswechsel 1912 auf 1913 im und beim beschaulichen Hotel gleichen Namens in der Nähe von Baiersbronn im Schwarzwald. Alles ist winterlich und bald verschneit, es gibt Schlittenpartien und Liederabende.

Falk Bischoff ist hierher gekommen, um eine Glashütte für das Unternehmen seiner Familie zu kaufen. Allerdings interessiert ihn die Glashütte weitaus weniger als die Forschungen des Glasermeisters, der wohl Æther mit Glas verband. Falk selbst hatte damit geforscht bis etwas schiefging und eine Explosion seine Arbeit zerstörte und auch seine Augen in Mitleidenschaft zog. Seitdem kann er Übernatürliches sehen, verheimlicht diese Fähigkeiten jedoch, um nicht von einer abergläubischen Bevölkerung selbst als „Verdorbener“ behandelt zu werden.

Minerva Freifrau von Rappenfeld-Zähringen begleitet als Gesellschafterin ihre Mutter in den Urlaub im Schwarzwald. Dabei versucht sie, sich über ihre Zukunft klarzuwerden, denn ihr Mann, ein Autokonstrukteur, starb bei einem Unfall und als junge Witwe bleiben ihr nur die Möglichkeiten einer neuen Ehe oder Gesellschafterin ihrer Mutter zu bleiben. Dass sie selbstbewusst ist und es nicht gewohnt, sich bevormunden zu lassen, macht die erste Option nicht gerade einfacher für sie.

Richard zu Kirchbronn ist preußischer Offizier und im Auftrag des Staates im Schwarzwald, denn auch die Armee hat Interesse an den Forschungen in der Glashütte. Doch daneben führen ihn die Visionen einer Hexe, die geträumt hat, dass sich wichtige, entscheidende Ereignisse in den nächsten Tagen abspielen werden und dass eine Frau eine bedeutende Rolle spielen wird.

Die Geschichte beginnt nach einem zuerst scheinbar kontextlosen Prolog damit, dass der Glasermeister ermordet und seine Forschungen gestohlen wurden, sodass keiner mehr weiß, woran er nun wirklich gearbeitet hat und wie weit seine Ergebnisse schon waren. Dazu haben die meisten Einheimischen kein großes Interesse daran, den Mord aufzuklären. Denn die Region hat sich zu einem Zentrum paranormaler Aktivitäten entwickelt, eine ominöse christlich geprägte Splittergruppe macht Jagd auf alles, was verändert und verdorben ist und die Meisten sind generell Fremden gegenüber reserviert.

Doch Falk ist nicht bereit, auf die Forschungsergebnisse zu verzichten und auch Richard wüsste gern, wer die Arbeit des Glasermeisters gestohlen hat. Beide Männer wissen nicht, worin diese eigentlich bestand, aber der Leser bekommt schnell den Verdacht, dass sie etwas mit einigen der Vorfälle zu tun haben könnte, die im und um das Hotel stattfinden.

Mittendrin ist Minerva, die von beiden Männern in ihre Arbeit einbezogen wird und sich schnell emotional zwischen ihnen wiederfindet, denn beide machen ihr den Hof.

Währenddessen rückt der Jahreswechsel und mit ihm die Erfüllung der Hexenprophezeiung immer näher.

Erzählt wird aus außenstehender Perspektive, die vorwiegend Minervas Gedanken und Gefühle begleitet. Aber nicht nur sie, sondern auch das Innenleben von Falk, Richard und zahlreichen Nebenfiguren wird dem Leser präsentiert.

Neben den Szenen im und um das Hotel und seine Gäste werden immer wieder Ereignisse und Gespräche zwischen Einheimischen erzählt. Diese ermöglichen dem Leser, das Treiben der veränderte Wesen jagenden Sekte und ihres seltsamen Propheten kennenzulernen und weitaus eher als die drei Hauptfiguren, plausible Verdächtigen über den Mörder und dessen Motive anzustellen.

Schreibstil

Anja Bagus erzählt flüssig und baut die Geschichte spannend auf. Die Liebesgeschichte ist nach dem ersten Drittel zwar etwas vorhersehbar, aber der Kriminalfall wartet immer wieder mit Ergänzungen und neuen Erkenntnissen auf.

Die leicht angespannte Stimmung ist nach wenigen Seiten sehr präsent und wird konsequent durchgehalten.

Auch in das Setting der alternativen Welt lässt sich leicht einsteigen, da es eine Reihe vertrauter Elemente enthält: politische Reiche der Geschichte, bekannte Mythenwesen, gesellschaftliche Normen des frühen 20. Jahrhunderts und steampunktypisch Veränderungen an realer Technik. Einige Elemente sind aber leider etwas zu vertraut, besonders die Drachen. Eigentlich spielen diese kaum eine Rolle und werden mehr am Rande erwähnt. Doch ein goldener und ein schwarzer Drache, die unvorhergesehenerweise auftauchen, sich bekämpfen und Pläne haben, die kein Mensch kennt oder versteht, erinnern doch arg an Nachtmeister und Dunkelzahn aus Shadowrun.

Bedauerlicherweise bleibt neben der spannenden Krimihandlung die Figurenentwicklung zurück. So ist Richard ein aufrechter, ehrenhafter Soldat, von Anfang bis Ende. In dieser Rolle ist er konsequent durcherzählt, aber er ist auch nicht mehr.

Ähnliches gilt für Falk, auch er entwickelt sich innerhalb der Geschichte nicht, sondern bleibt leicht ruppig mit einem guten Herzen.

Minerva ist manchmal keck und aufrecht, aber das Potential, das sie als Witwe und Mitkonstrukteurin eines Rennfahrers hätte, wird nicht ausgenutzt. Ihr verstorbener Gatte könnte ebenso gut ein Buchhalter gewesen sein, dabei ist eine autobauende Frau in der Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts reichlich skandalös. Das wird sogar angerissen, aber nicht weiter vertieft. Sie müsste keine Skandalnudel sein, aber das Potential wird einfach liegengelassen.

Andere Figuren sind einfach nur reine Klischees, wie beispielsweise Minervas Mutter, eine alternde, sich stets in den Vordergrund drängende Diva.

Ärgerlich ist es, dass sich einige der verwendeten Namen sehr ähneln. Irgendwann kam ich an den Punkt, wo ich zurückblättern musste, um die korrekte Zuordnung der Herren „Stifter“, „Stürmer“ und „Schüler“ zu klären.

Ebenfalls fand ich es schade, dass einiges Wissen über Glasherstellung leserseitig vorausgesetzt wird, um einige Details zu verstehen.

Lob möchte ich jedoch für den Titel loswerden. Waldesruh ist einerseits der Name des Hotels, in dem ein bedeutender Teil der Handlung spielt und sich die Hauptfiguren immer wieder treffen. Andererseits assoziiert der Begriff natürlich, dass im Wald alles ruhig und friedlich sei, was sich natürlich schnell als absolut unwahr herausstellt. Dennoch gelingt es mehr als einer Nebenfigur, ihre eigene, innere oder auch ewige Ruhe im Wald zu finden.

Die Autorin

Anja Bagus (geboren am 15.05.1967) stammt aus der Region, in der sie schreibt: sie wurde in Baden-Württemberg geboren und verbrachte ihre Kindheit zwar nicht im Schwarzwald, aber am Kaiserstuhl, was beides im ehemaligen Großherzogtum Baden liegt. Heute lebt die Heilpraktikerin mit Familie und Haustieren im Ruhrgebiet. In ihrer Freizeit spielt sie Tischrollenspiele und larpt.

2013 veröffentlichte sie mit Ætherherz ihren ersten Roman, dem schnell weitere folgten: Waldesruh ist der Beginn ihrer zweiten Trilogie in der von ihr erdachten Ætherwelt.

Preis-/Leistungsverhältnis

Wie so oft ist dies bei Romanen nicht einfach zu beantworten. Der Preis liegt mit 14 EUR im üblichen Bereich für ein Buch dieses Formats und Umfangs. Ich bereue die Lektüre nicht, bin aber nicht genug begeistert, um mir die Folgebände zuzulegen.

Erscheinungsbild

Waldesruh Anja BagusDas Cover ziert ein verschneiter Tannenwald, wobei aus der mittleren Tanne ein blutiges Hirschgeweih wächst. Im Vordergrund sind einige Anzeigen zu sehen und eine Wolke grünen Nebels schlängelt sich über den Wald nach oben. In geschwungenen Buchstaben sind oben Titel und Autorin und unten „Ein Ætherwelt-Roman“ über das Cover geschrieben, dazu gesellt sich in serifenloser Schrift der Verlagsname. Bedauerlich ist an dem blaugrünen, zur Stimmung sehr passenden Cover jedoch, dass die Schrift teilweise über das Geweih gelegt wurde und dadurch die Bildwirkung beschädigt.

Im Inneren erwartet den Leser nichts wirklich Ungewöhnliches. Das Layout ist buchtypisch schlicht, wobei jedes Kapitel mit einem schwungvollen Initial eingeleitet wird. Satz, Lektorat und Druckqualität lassen wenig Wünsche offen, wobei ich schlechtsichtigen Menschen eher die E-Book-Version nahelegen würde, der Druck ist eher klein. Dazu ist das Papier etwas dünn, so dass der Text von der Papierrückseite durchschimmert, was das Lesen nicht unbedingt vereinfacht.

Im Anhang wartet neben einer Leseprobe aus dem nächsten Band ein kleines Glossar mit alemannischen Begriffen und Wesen der Ætherwelt auf den Leser. In der vorliegenden Form ist es mir jedoch zu knapp geraten.

Gewünscht hätte ich mir vor allem eine Art Mythenführer. Zwar sind Begriffe wie „Erwachte Wesen“ und „Æther“ erklärt, doch als Nicht-Schwarzwälderin sind mir weder Glasmänner noch Mummeln ein Begriff. Das Buch lässt sich auch ohne verstehen, ein Mythenlexikon würde aber den Zugang deutlich erleichtern.

Ähnliches gilt für die verwendeten alemannischen Begriffe. Die Dialoge der Schwarzwälder sind in ihrer Aussage völlig verständlich, aber ein ausführlicheres Glossar hätte nicht geschadet.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Edition Roter Drache
  • Autor(en): Anja Bagus
  • Erscheinungsjahr: 2014
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Broschur
  • Seitenanzahl: 260
  • ISBN: 978-3939459842
  • Preis: 14 EUR (Broschur), 3,99 (E-Book)
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Bonus/Downloadcontent

Bonus- oder Downloadcontent gibt es nicht.

Fazit

Waldesruh punktet ganz klar mit der Stimmung eines edlen Hotels zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit Gästen, die hier Urlaub oder Geschäfte machen wollen. Währenddessen gehen die einheimischen Bewohner des Schwarzwaldes in die Kirche oder folgen einem seltsamen Propheten, in jedem Fall aber lehnen sie abergläubisch alle Veränderten ab und legen wenig Wert darauf, dass sich Außenstehende in ihre Angelegenheiten einmischen.

Die Ætherwelt des Steampunk-Settings der Autorin ist dem Leser gut zugänglich, auch weil sie in weiten Teilen Vertrautes aufnimmt und leicht verfremdet. Als Beispiel mag hier der Rolls Royce Green Ghost dienen, ein Luxusauto, was auch sonst, aber mit Æthereinspritzung. Die Idee der Welt an sich ist schön, aber einiges wirkt zu sehr aus anderer Quelle vertraut.

Bei den die Welt bevölkernden Wesen aus der Mythologie dagegen hat die Autorin teilweise etwas zu viel Vorwissen vorausgesetzt, nicht jeder ist mit den Mythengestalten des Schwarzwaldes vertraut.

Die Handlung begleitet einen preußischen Offizier, der versucht, eine Katastrophe zu verhindern, einen Unternehmer, der eigentlich nur eine Glashütte kaufen wollte und eine junge Witwe, die versucht, ihr Leben zu sortieren. Die Figuren sind nett, können aber ihr volles Potential nicht entfalten. Dazu entwickeln sie sich nicht weiter im Verlauf der Handlung, was dem Buch eine Menge Schwung und Kraft nimmt. Sie bleiben das, was sie sind, von Anfang bis Ende ohne Brüche und Tiefen.

Die Krimihandlung um einen ermordeten Glasermeister und dessen gestohlene Forschungsergebnisse weiß allerdings zu fesseln und wird nur gelegentlich durch zu starke Namensähnlichkeiten verschiedener Figuren gestört.

Aufgrund all dieser Tatsachen ziehe ich ein gemischtes Fazit: Waldesruh ist eine nette Lektüre, die sehr viel mehr hätte sein können.

Daumen3weiblich

Artikelbild: Edition Roter Drache
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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