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Ein Recke auf der Flucht. Eine unterschätzte Schwertkämpferin. Eine tieftraurige Prinzessin. Das hat man alles schon mal gehört, doch Autor Aleš Pickar möchte die Regeln für diese Charaktere in seiner High-Fantasy-Saga Kalion umschreiben. Wie weit vermag Die lautlose Woge ihre Leser tatsächlich zu tragen?

Mit Die lautlose Woge stellt Aleš Pickar den Auftakt zu Kalion vor, einer Saga, die laut Klappentext „mit den Normen des High-Fantasy-Genres bricht“ und damit vermutlich, wie so viele andere, in die Fußstapfen von Game of Thrones treten möchte. Derartige Ankündigungen bedeuten inzwischen oft, dass ein konventioneller phantastischer Plot mit realistischen Elementen durchsetzt und mit Sex und Gewalt überwürzt wird, um sich anschließend für die eigene Coolness abzufeiern. Kalion, das sollte man eingangs direkt erwähnen, will mehr als das und wird damit zum eigenwilligen Grenzgänger. Einerseits kreiert Pickar eine düstere Welt voller Einsamkeit und Schwermut jenseits gängiger Klischees, andererseits geschieht in dieser Welt wenig Überraschendes.

Story

Die Länder auf dem von den Göttern verlassenen Kontinent Neroê steuern auf große Veränderungen zu. Doch ihre Bewohner, die Pickar wie Spielfiguren über seine Karte schiebt, haben es noch nicht realisiert. In Gorkonai, wo das lang versklavte Volk der Demenäer gerade seine Ketten abgeworfen und die Macht übernommen hat, entkommt der gorkonische Feldherr Gellen mithilfe der demenäischen Heldin Nelei aus der Kriegsgefangenschaft. Eilig verlässt er das Land, während die nicht ganz freiwillige Retterin den rechtlichen Konsequenzen ihrer Tat ins Auge sehen muss. Im stets auf Frieden bedachten Königreich Kendaré bereitet sich derweil Prinzessin Lindarion auf die politisch motivierte Hochzeit mit dem König von Ximanté vor. Sie ahnt nicht, dass ihr Vetter Romordes und dessen Mutter bereits Intrigen spinnen, um den Thron an sich zu bringen. Zu allem Überfluss sendet das ferne Argasch gerade jetzt Boten, um seine expansiven Absichten kundzutun. Man sieht: Bei allem, was in der Welt von Kalion vor sich geht, ist es gar nicht so einfach, die entscheidende Handlung im Blick zu behalten.

Dass der erste Band einer mehrteiligen Saga einige Startschwierigkeiten hat, kommt häufiger vor. Immerhin muss die Welt, in der die Geschichte spielt, zunächst vorgestellt werden und diese Exposition sinnvoll mit der Handlung zu verbinden gelingt längst nicht jedem. Leider ist auch Kalion von diesem Phänomen betroffen, und so zieht sich die erste Hälfte von Die lautlose Woge ziemlich in die Länge. Wann immer die Handlung in Fahrt kommt, wird sie von der Einführung neuer Charaktere ausgebremst. Gellen, der für ein Verbrechen verurteilt wurde, das er nicht begangen hat, ist über große Teile des Romans auf der Flucht und seinen Verfolgern weit voraus. Die Intrigen in Kendaré sind für die Leser kein wirklicher Grund zur Sorge, denn weder die Prinzessin noch ihr alternder Vater haben genug Raum, um als Figuren Eigenständigkeit zu erlangen. Entsprechend ist es vor allem die Handlung um die Schwertkämpferin Nelei, die der Welt von Kalion Leben einhaucht. Als Tochter eines legendären demenäischen Helden hadert Nelei mit der Rolle, die die Gesellschaft für sie als Frau vorgesehen hat. Eine umgehende Krankheit lässt Teile der Bevölkerung von Gorkonai seit Generationen unfruchtbar werden, sodass der Stellenwert von Fortpflanzung und Mutterschaft stetig zunimmt. War die Seuche ursprünglich der Hauptgrund dafür, dass die Gorkonen ein Volk von Sklavenhändlern wurden, sind nach der Revolte auch die Demenäer davon betroffen. Unter diesen Umständen zählt die Fechtkunst einer exzellenten Schwertkämpferin vor den Räten, die das Land nun regieren, weniger als ihre Fruchtbarkeit. Nelei muss ihre eigenen Interessen zum Wohle ihres Landes zurückstellen – mit verhängnisvollen Folgen …

Die emanzipierte Heldin, deren Geschicklichkeit im Kampf aufgrund ihres Geschlechts nicht gewürdigt wird, ist in der Phantastik ein häufiger Topos, der allerdings selten eine so düstere Wendung nimmt. Die Themen, die Pickar hier gezielt in die Geschichte einwebt, sind komplex und alles andere als unpolitisch. Was sich zwischenzeitig liest wie die High-Fantasy-Version von Margaret Atwoods The Handmaid’s Tale (an dieser Stelle seien etwas zarter besaitete Leser ausdrücklich vorgewarnt) bricht aber jäh ab und wird hastig in konventionellere Erzählstrukturen zurückgeführt. Fast wirkt es so, als schrecke der Roman vor der eigenen politischen Dimension zurück. Dadurch geht allerdings auch die Tiefe verloren, die dieser Handlungsstrang ansonsten hätte erreichen können.

Was beim Lesen außerdem auffällt, ist die fundamentale Einsamkeit der Figuren. In Die lautlose Woge ist jeder ganz für sich und selbst jene Charaktere, die in einer Gruppe unterwegs sind, haben keinerlei Vertrauenspersonen um sich. Die Atmosphäre radikaler Vereinzelung trägt massiv zur spezifischen Stimmung des Romans bei, die bedrückender ist, als man es von dieser Art Phantastik erwartet, und weitgehend darauf verzichtet, ihre düstere Einfärbung als Coolness zu verkaufen. Erst wenn die Protagonisten einander wieder mal knapp verpassen, weiß man, wie sehr man ihnen eine bedeutsame zwischenmenschliche Interaktion wünscht und wie wenig man sie um die in anderen Büchern häufig romantisierte Einsamkeit beneidet.

Die Hintergründe der Welt von Kalion werden in einem prologartigen ersten Kapitel und in Ausschnitten aus verschiedenen historischen Texten wichtiger Persönlichkeiten von Neroê näher erklärt. Während sich so über die erste Hälfte des Romans hinweg ein halbwegs klares Bild ergibt, ergeben Welt und Handlung dennoch bis zuletzt zusammen kein organisches Ganzes. Das merkt man spätestens daran, wie viel spannender das Buch wird, sobald die Mythologie und Geschichte von Neroê ausreichend eingeführt sind und sich endlich das Gefühl einstellt, dass tatsächlich etwas passiert. Leider bleiben zu diesem Zeitpunkt nicht mehr allzu viele Seiten. Dabei gelingen Pickar gewissermaßen auf den letzten Metern einige abenteuerliche Actionszenen, die bei aller plakativen Grausamkeit nicht nur unterhalten, sondern einen das Buch nicht mehr aus der Hand legen lassen. Fast möchte man fragen: „Warum nicht gleich so?“

Schreibstil

Das oben genannte Problem, dass die immer neu einsetzende Exposition in Die lautlose Woge wiederholt die Handlung ausbremst, spiegelt sich auch in der Erzählweise wider. Kapitel verschiedenster Länge stellen die einzelnen Charaktere vor und begleiten sie auf ihren jeweiligen Abenteuern. Da ihnen in ihrer in sich gekehrten Einsamkeit die Möglichkeit fehlt, Weltzusammenhänge, die dem Leser noch unbekannt sind, in einem Gespräch zu erörtern, entstehen extrem introspektive Textpassagen, in denen eine Figur seitenweise über eine geographische oder politische Sachlage sinniert, mit der sie selbst wenig zu tun hat. Das kann mitunter extrem unnatürlich wirken – wer denkt schon ein Kapitel lang über die Geschichte seines Landes nach? – und das Leseerlebnis schon etwas stören.

Ansonsten ist Die lautlose Woge stilistisch recht gelungen. Pickars Sprache ist unkompliziert, aber nie plump. Im Gedächtnis bleiben vor allem die schonungslosen Gewaltdarstellungen, die unangenehm zu lesen sind, dabei aber nie ins Lächerliche oder Voyeuristische gezogen werden. Einzig die Flut an fremden Namen, Sprachen und Bezeichnungen kann mitunter ermüdend sein. Da neben den Protagonisten auch vielen Nebenfiguren ein oder mehrere Kapitel gewidmet sind, erfordert der Roman durchaus ein gesteigertes Maß an Aufmerksamkeit.

Der Autor

Aleš Pickar wurde 1971 in der Tschechoslowakei geboren. 1989 kam er nach München, wo er sich mit Gelegenheitsjobs durchschlug. Ein Ventil für seine Kreativität fand er dort zunächst in der Musik und seiner Band Concrescence. Auch war er 1993 Mitbegründer des einschlägig bekannten Underground-Labels Ant-Zen, das er zwei Jahre später verließ, um nach Indien zu gehen. Mit dem 2012 gegründeten Ambient-Projekt Tidal Flow bleibt er diesen musikalischen Wurzeln aber treu.

Pickar, der sich selbst mit Nachdruck als Feminist bezeichnet, bereiste nicht nur Indien, sondern auch Indonesien und den Balkan und setzte sich aktiv für Frauenrechtsgruppen und gegen Kinderhandel ein. Dieses Engagement schlägt sich auch in Motiven seines ersten Romans Die dunkle Stadt nieder, der den Beginn der vierteiligen Reihe In den Spiegeln darstellt. Der Sammelband mit den ersten drei Romanen dieser Reihe wurde 2011 für den Deutschen Phantastik Preis nominiert.

Erscheinungsbild

Die lautlose Woge hat ein auffälliges Cover, das sich gerade eben so an den Inhalt des Romans rückbinden lässt. Der orangefarbene Einband zeigt einen stilisierten ockerfarbenen Tigerkopf mit gelb leuchtenden Augen – vermutlich eine Darstellung des Gottes Arkron in Tiergestalt. Weit aufschlussreicher sind die Zeichnungen auf der Innen- und Rückenklappe. Sie zeigen Nelei mit ihren beiden legendären Schwertern, sowie einen Mann, bei dem es sich zweifellos um Gellen handelt. Das Papier ist ungewöhnlich dick, sodass man den Umfang zunächst weit über die tatsächlichen 250 Seiten schätzt.

Jeder Kapitelanfang wird von einem kleinen Kartenabschnitt begleitet, auf dem man gezeigt bekommt, an welchem Ort die Handlung nun fortgeführt wird – eine unschätzbare Hilfe beim Zurechtfinden in Neroê. Eine vollständige Karte findet sich am Schluss des Romans. Dort stößt man auch auf das Inhaltsverzeichnis, das ich persönlich am Anfang schmerzlich vermisst habe.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Periplaneta
  • Autor: Aleš Pickar
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Taschenbuch
  • Seitenanzahl: 264
  • ISBN: 978-3-959-96032-8
  • Preis: 14,50 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Bonus/Downloadcontent

Auf seiner Homepage gibt Aleš Pickar allgemein recht viel über die Welt von Kalion preis. Hier kann man auch ein 12seitiges Heft anfordern, in dem alle relevanten Figuren der Saga aufgelistet sind und das das Lesen erheblich vereinfachen dürfte. Auch kann man hier einen Glossar herunterladen, der einen sicher durch die phantastische Terminologie hinter der Geschichte um Nelei und Gellen führt.

Außerdem liegt dem Roman eine witzige Broschüre bei, die als fiktiver Mini-Reiseführer zu einem Urlaub in Neroê einlädt. Sie beinhaltet eine größere Version der Karte und führt auf charmante Art und Weise die „Sehenswürdigkeiten“ der Welt von Kalion vor.

Wie üblich bietet Amazon einen Blick ins Buch an.

Fazit

Aller Anfang ist schwer, und so ist der Einstieg in Kalion mit Die lautlose Woge eher ein durchwachsener. Der Roman ist sprachlich gut und besticht mit einer ungewöhnlichen Stimmung, die von rau bis melancholisch gehen kann. Dabei verliert er sich jedoch immer wieder in der Beschreibung einer Welt, deren direkter Zusammenhang mit der Handlung sich zum Teil erst in späteren Bänden wird erschließen können. Viele Figuren – vor allem der edle, zu Unrecht verurteilte Held und die unglückliche Prinzessin – scheinen neben der ungewöhnlichen Atmosphäre etwas arg konventionell, und die Vielzahl an Nebenfiguren sorgt dafür, dass die erste Hälfte des Buchs sehr ereignislos wirkt. Einige spannende Ideen, die dem Plot unerwartete Wendungen geben, verlaufen leider erst mal im Sand, und so bleibt das Potential einer zusätzlichen tieferen Dimension der Handlung unausgeschöpft.

Für die Saga als Ganzes muss das allerdings nicht viel heißen. Vermag die zweite Hälfte von Die lautlose Woge zwar nicht ganz über die erste Hälfte hinwegzutrösten, stimmt sie doch optimistisch, was die Fortsetzungen angeht. Pickar wäre nicht der erste, den die Begeisterung für die eigene Welt so sehr mitreißt, dass er seine Leser damit erst mal über den Haufen reitet. Gleichzeitig kann ich mir gut vorstellen, dass sich die Figuren, die einem bereits vage bekannt vorkommen, im Zusammenspiel mit dem leserfreundlichen Stil zum Vorteil auswirken und das Buch zwar nicht zu anspruchsvoller, aber doch zu sehr solider Unterhaltungsliteratur machen. Es wird seine Fans schon finden. Insofern sei der Roman vor allem denen ans Herz gelegt, die sich für jene Art High Fantasy begeistern können, die vor Brutalität nicht zurückschreckt, sie aber auch nicht unnötig beschönigt.

Artikelbild: Periplaneta
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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