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Vom Entrechteten zur Legende: Ein junger Mann erhält eine magische Maske, die ihn die Kraft des Waldes beschwören lässt. Doch diese Macht fordert einen hohen Preis und so nimmt das unbarmherzige Schicksal seinen Lauf. Jenseits gängiger Klischees entführt Lian Hearns neue Saga in ein mittelalterliches Japan voller Magie und Schwermut.

Über zehn Jahre ist es her, dass Lian Hearns Der Clan der Otori fester Bestandteil jeder gut sortierten Jugendbuchabteilung war. Weshalb das Samurai-Epos es damals nicht in die normalen Phantastikregale schaffte, ist im Nachhinein schwer nachzuvollziehen. Auf die eigentliche Trilogie über das junge Paar Takeo und Kaede und deren Kampf um die Clansherrschaft folgten ein Sequel und ein Prequel, die aber niemand so richtig lesen wollte. Nun kehrt Hearn mit Die Legende von Shikanoko zurück, um sich einer neuen Saga zu widmen. Die Ankündigung war vielversprechend genug, um es zu einem unserer Herbstbücher zu machen: ein figurenreiches Intrigenspiel um die Herrschaft des Landes, ein mythisches Setting, in dem es von Magiern und Fabelwesen nur so wimmelt, all das vor der Kulisse des mittelalterlichen Japans. Aber kann diese neue Reihe mehr hervorrufen als einfach nur Nostalgie?

Story

Das Reich der acht Inseln steht kurz vor einem Machtwechsel. Der Clan der Miboshi hat sich mit dem Fürstabt vom Tempel Tyosonji zusammengeschlossen, um ihr eigenes Oberhaupt gewaltsam auf den kaiserlichen Lotusthron zu setzen, und die entstehenden Unruhen wirbeln menschliche Schicksale durcheinander wie totes Laub. Die Tochter eines Fürsten flieht mit einem kleinen Jungen, der kein anderer als der letzte rechtmäßige Thronerbe ist, aus der Hauptstadt. Eine leidgeprüfte Frau kämpft gegen alle Traditionen um den Besitzanspruch auf ihr heimatliches Gut und ist bereit, dafür über Leichen zu gehen. In den Tiefen des schwarzen Waldes gebiert eine Hexe fünf Vätern fünf Kinder, die zu Dämonen heranwachsen werden. In diesen unsicheren Zeiten, in denen Brüder sich bekriegen und die Toten keine Ruhe finden, wird der geheimnisvolle Krieger Shikanoko, das Kind des Hirsches, zur Legende.

Der Held entgeht nur knapp einem Mordversuch.

Von einem habgierigen Onkel um seine Erbschaft, das Fürstentum Kumayama, gebracht, entgeht der junge Held nur knapp einem Mordversuch und flieht in die Wildnis, wo ein Berghexer ihm eine verzauberte Maske anfertigt, mit der er die Kraft des Waldes beschwören kann. Über Umwege gelangt er auf das Gut Matsutani, auf dem er der Familie von Fürst Kiyoyori begegnet und in dem weisen Meister Sesshin eine Mentorfigur findet. Doch auch hier ist niemand vor den politischen Intrigen der machthungrigen Miboshi sicher. Kiyoyoris Sohn wird entführt, und als er selbst den Reizen der Hexe Tora verfällt, wendet sich seine Gattin gegen ihn. Zugleich hat es der teuflische Fürstabt auf Shikanokos magische Hirschmaske abgesehen und entsendet seine Schergen. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis der junge Krieger ihm in die Hände fällt. Allerdings ist dies nicht die einzige Gefahr, der er ausgesetzt ist, denn die urwüchsige Macht der Maske lässt sich nicht beherrschen. Währenddessen wächst in der fernen Hauptstadt eine ungewöhnliche Heldin heran: Nishimi no Akihime träumt eigentlich davon, ins Kloster zu gehen. Doch als die Miboshi die Macht an sich reißen, fällt ihr die Aufgabe zu, mit dem rechtmäßigen Thronerben, der selbst noch ein Kind ist, zu fliehen. Noch ahnt sie nicht, dass am Ende dieser Flucht Schicksal und Verhängnis auf sie warten – in der Gestalt Shikanokos …

Die Legende von Shikanoko wirkt weniger wie ein klassischer Fantasyroman als wie eine genuine Mythenerzählung. Einerseits gehorcht die Welt, in die Hearn ihre Leser eintauchen lässt, bestimmten unerschütterlichen Gesetzen. Jede Handlung jeder noch so unwichtig scheinenden Figur ist fest in den umfassenden Handlungszusammenhang eingebettet und hat Folgen für alle Beteiligten. Diese Folgen gehen manchmal weit über die Sphäre des Menschlichen hinaus, denn die Natur und die Welt der Geister sind in diesem Roman keine unbeteiligten Reiche, die klar von der Handlungswelt abgegrenzt sind, sondern fester Bestandteil derselben. Ein Verstoß gegen die Weltordnung ist immer ein Verstoß auf allen Ebenen zugleich, und so lehnen sich nicht nur die Menschen, sondern auch Geister und die Natur selbst, auf, wenn ein unrechtmäßiger König den Thron besteigt. Andererseits gehorcht diese mythische Weltordnung nicht den moralischen Unterscheidungen in Gut und Böse, richtiges und falsches Handeln, die traditionell fest zum Repertoire der phantastischen Literatur gehören. Shikanoko ist ein Held, der gravierende, ja sogar moralisch verwerfliche Fehler macht, deren Folgen mitunter unzeitgemäß wirken können. Dabei wird er jedoch nicht als gekünstelt unmoralischer Antiheld inszeniert. Wer einen unmoralischen Helden schreibt, erkennt die Unterscheidung von Gut und Böse bereits an. Die Legende von Shikanoko hingegen verweigert diese anachronistische Unterscheidung und zeigt den Mythos als moralische Grauzone, in der jeder mit den Folgen seiner Taten leben muss.

Das Buch lebt von den Verstrickungen seiner Nebenfiguren.

Da die Erzählung Shikanoko nicht in den Mittelpunkt stellt, sondern sich ausführlich mit allen Charakteren beschäftigt, die für seine Legende von Bedeutung sind, lebt das Buch sehr von den Verstrickungen seiner Nebenfiguren, deren Wege sich oft und gern kreuzen. Diese Begegnungen wirken nie unnatürlich oder forciert, sind aber andererseits nie ganz zufällig. Trotz seiner vielen Handlungsstränge ist der Roman so hervorragend strukturiert, dass sich der Eindruck bildet, es sei das Schicksal selbst, das immer genau jene Figuren zueinander führt, deren Vorgeschichten und psychischen Strukturen aufeinander antworten. Wenn zum Beispiel Hina, ein Mädchen, das von Kindheit an in Shikanoko verliebt ist, Akihime begegnet, die Shikanokos tragische große Liebe ist, so liest sich dies nicht wie ein billiger Trick, der mehr Drama erzeugen soll, sondern schlicht wie Fügung. Jedes bisherige Ereignis im Leben der beiden jungen Frauen führte sie notwendig an jenen Ort, an dem sie sich begegnen. Dabei wirkt keine Nebenfigur jemals, als sei sie nur aus Zweckmäßigkeit geschrieben. Hearns Stärke gegenüber anderen Mythenerzählungen ist die Ernsthaftigkeit, mit der sie nach dem Innenleben ihrer Charaktere fragt. Was treibt sie an, diese Figuren aus einer früheren, magischen Zeit, was bringt sie dazu, Teil einer großen Legende zu werden? Weshalb stehen sie auf welcher Seite und was geht in ihren Köpfen vor sich, während sie zum Spielball des Schicksals werden? Ist die Welt von Shikanoko fremder, magischer und vielleicht auch brutaler als jene vom Clan der Otori, so sind ihre Figuren doch tiefer und nahbarer.

Wer mit dem Themenbereich Kunstmythos allgemein wenig anfangen kann und einen herkömmlichen Roman erwartet, wird von all diesen Faktoren eher abgeschreckt sein. Wer sich auf die spezifische Erzählweise und Weltenlogik eines solchen Mythos einlassen kann, wird Die Legende von Shikanoko nicht mehr aus der Hand legen wollen. Die wendungsreiche Handlung hat zwar keinen herkömmlichen Spannungsbogen, wird aber nie langweilig. Gelegentlich überwältigt sie einen vielleicht mit der raschen Folge von Ereignissen, die den Werdegang des Protagonisten beeinflussen, lässt jedoch auch immer wieder Raum, die schwermütige Atmosphäre des Romans zu atmen.

Schreibstil

Auch die Erzählweise ist stets darauf bedacht, eher Mythenerzählung als moderner Roman zu sein, übertreibt es damit jedoch nicht. Der Stil ist beschreibend und stark vom Geschehen dissoziiert, eine Wertung der Handlung findet quasi gar nicht statt. Selbst die inneren Regungen, Hoffnungen und Wünsche der Figuren werden ungewöhnlich teilnahmslos wiedergegeben, als liege das Erzählte bereits lange zurück. Dabei werden die Perspektiven aller Beteiligen nachvollzogen, und die Nüchternheit, mit der ihre Gedanken bloßgelegt werden, könnte man mit Gleichgültigkeit verwechseln, würde sie nicht von einer unglaublichen Liebe zum Detail begleitet, die versichert: Hier erzählt jemand, dem es wichtig ist, die Figuren ganz und gar zum Leben zu erwecken. Da er die Handlung nie unnötig aufhält und man sich vergleichsweise schnell in ihn einfindet, trägt der distanzierte Stil massiv zu dem Gefühl bei, einen Mythos mitzuerleben.

Die Komposition, die aus vielen einzelnen Kapiteln, die unterschiedlichen Figuren gewidmet sind, eine Gesamthandlung macht, ist schlichtweg meisterhaft. Diese Erzählweise, einzelne Figurenperspektiven verschiedenen Kapiteln zuzuordnen und diese mit den entsprechenden Namen zu betiteln, liegt schwer im Trend und begegnet einem überall, wird jedoch selten so wohldurchdacht eingesetzt. Hier gibt es keinen Handlungsstrang, der nicht mit den anderen zusammenhinge, keine Figur, deren Sinn sich erst im Nachhinein erschließt. Man merkt sofort: Dies sind nicht verschiedene Geschichten, die gleichzeitig stattfinden, sondern Aspekte einer einzigen großen Geschichte, die fest zusammengehören.

Die Autorin

Lian Hearn heißt eigentlich Gillian Rubinstein und wurde 1942 in Großbritannien geboren. Sie wuchs in England und später Nigeria auf, studierte moderne Sprachen und entwickelte eine Leidenschaft für asiatische Geschichte und Kultur. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern im Süden Australiens. Hearn war bereits die Autorin zahlreicher Kinder- und Jugendbücher, als sie 2001 Across the Nightingale Floor (dt. Das Schwert in der Stille) schrieb. Das Pseudonym Lian Hear – Lian, das Ende von Gillian, nach einem Spitznamen aus Kindertagen, Hearn nach dem Autor Lafcadio Hearn – wählte sie vor allem, um ihr Image als Kinderbuchautorin hinter sich zu lassen und sich erstmals an eine erwachsene Leserschaft zu richten. Das erste Buch der Clan der Otori Saga war jedoch so erfolgreich, dass sie nur ein Jahr später ihre wahre Identität aufdeckte.

Nachdem die eigentliche Handlung der Saga 2004 mit Brilliance of the Moon (dt. Der Glanz des Mondes) zu Ende ging, veröffentlichte Hearn 2006 unter dem Titel The Harsh Cry of the Heron (dt. Der Ruf des Reihers) einen Roman über die Zukunft der Figuren und im folgenden Jahr das Prequel Heaven’s Net is Wide (dt. Die Weite des Himmels). Es folgten die beiden historischen Romane Blossoms and Shadows und The Storyteller and his Three Daughters, die beide, wie ihr gesamtes früheres Werk, nicht ins Deutsche übertragen wurden. Die Idee zu Die Legende von Shikanoko kam ihr auf einer ihrer Japanreisen und ist stark von japanischen Epen wie Heike Monogatari inspiriert. Die ersten beiden Bücher, Emperor of the Eight Islands und Autumn Princess, Dragon Child, erschienen im Original als zwei Bücher, wurden für den deutschen Buchmarkt jedoch zusammengefasst. Am 22. Februar erschien bei uns mit Die Legende von Shikanoko – Fürst des schwarzen Waldes die zweite Hälfte der Saga.

Erscheinungsbild

Der Schutzumschlag des Buches glänzt buchstäblich mit einem recht aufwändigen Golddruck. In einem rotbelaubten Herbstwald steht eine Gestalt in einem weiten, kimonoartigen Gewand. Ihr Gesicht ist verborgen, ihre Haare sind zusammengebunden und in der Hand hält sie ein Katana. Das Bild ist zu stilisiert um es einer Figur oder Szene im Buch zuzuordnen, fängt aber die Stimmung des Romans hervorragend ein. Das Buch selbst ist so hochwertig, wie man es von einem großen Verlag erwartet.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Fischer Sauerländer
  • Autorin: Lian Hearn
  • Erscheinungsdatum: 24. August 2017
  • Sprache: Deutsch (aus dem Englischen übersetzt von Sibylle Schmidt)
  • Format: gebunden
  • Seitenanzahl: 592
  • ISBN: 978-3-7373-5466-0
  • Preis: 19,99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Bonus/Downloadcontent

Vorne im Buch gibt es eine Karte, die man gelegentlich zu Rate ziehen kann, um sich die Bewegungen der Figuren besser vor Augen zu führen. Die Personenliste ist eine große Hilfe, um zwischen den zahlreichen Charakteren mit langen japanischen Namen nicht den Überblick zu verlieren. Sie ist gut sortiert und leicht zu Rate zu ziehen.

Am Ende des Buches erklärt die Autorin in einer kurzen Anmerkung ihre wichtigsten Quellen und Inspirationen. Außerdem enthält das Buch eine Leseprobe für den zweiten Teil.

Auf Amazon gibt es natürlich einen Blick ins Buch.

Fazit

Die Legende von Shikanoko – Herrscher der acht Inseln ist ein ungewöhnlicher Roman, dessen Stil und Inhalt sich stark an tatsächlichen Mythenerzählungen orientieren. Wenn man gewillt ist, sich darauf einzulassen, erwartet einen ein spannendes und einzigartiges Leseerlebnis. Obwohl – oder gerade weil – die Erzählweise eine gewisse Distanz zu den Figuren aufrechterhält, fühlt man sich beim Lesen direkt in eine Legende aus ferner Vergangenheit hineinversetzt, die ihre Fremdheit für den modernen Leser nie ganz ablegen wird. Dennoch sind die tragischen Verstrickungen der einzelnen Figuren durchaus berührend. Shikanoko, der als in vielerlei Hinsicht eher passiver Held zum Spielball des Schicksals wird, ist der Dreh- und Angelpunkt der gesamten Geschichte und der gemeinsame Nenner der zahlreichen Nebencharaktere. Deren Einzelschicksale wiederum sind so gekonnt aufeinander abgestimmt, dass die Gesamthandlung nie in viele Nebenhandlungen zerfasert und aus den Augen verloren wird.

Vor allem überzeugt der Roman jedoch mit seiner Atmosphäre. Hearn gelingt es, mit einfachen Stilmitteln eine entrückte Stimmung zu erzeugen, die selbst in den fröhlicheren oder bewusst komischen Passagen des Buchs nie ganz verloren geht. Dass hier keine klare Grenze zwischen der menschlichen Welt, dem Geisterreich und der Natur gezogen wird, sondern alle zu jedem Zeitpunkt ineinander fallen, trägt massiv zur mythischen Qualität des Werks bei. Das gilt auch für die moralische Ambivalenz der meisten Figuren. Statt einem modernen Gut-Böse-Dualismus zu folgen, gehorcht die Geschichte ihren eigenen archaischen Gesetzen. Auf jeder Seite spürt man das Verhängnis, das sich über die Figuren senkt wie Regen über den welkenden Herbstwald. Sie leiden so schön, die tapferen, ernsten und vom Schicksal gezeichneten Figuren Lian Hearns, da möchte man gerne noch ein weiteres Mal mitleiden.

Dass das Buch preislich etwas höher angesiedelt ist, als man vom Genre gewohnt ist, liegt nicht nur an der Qualität der gebunden Ausgabe, sondern auch daran, dass hier zwei englische Romane zusammengenommen und als einer verkauft werden. Insofern ist der Preis durchaus gerechtfertigt.

Artikelbild: Fischer Sauerländer, Bearbeitet von Verena Bach
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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