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Drei Tage ohne Tageslicht, mit wenig Individualität und einem totalitären System. Was für die einen nach Horror klingt, ist für andere eine spannende Erfahrung. Das [Tales] Inside entführt uns in eine dystopische Welt, in der man auch viel über sich und sein LARP lernen kann. 

Wir schreiben eine finstere Zukunft, in der vermutlich nur 200 Menschen überleben konnten. Seit 500 Jahren erhalten diese eine streng hierarchische und totalitäre Gesellschaft in einem Bunker aufrecht und sichern somit den Fortbestand der Menschheit. Die Gesellschaft ist in fünf Kasten geteilt. Regiert von der Administration, medizinisch betreut von den Versorgern, geschützt von der Security, unterhalten und bei Laune gehalten von den Gesellschaftern, in Betrieb gehalten von den Arbeitern.

Rahmenbedingungen

Gleich vorweg sei gesagt: So ein LARP ist nichts für Leute, die einen Abenteuer-Con oder ein Action-Spiel wollen. Die tiefe Welt, das liebevolle Balancing zwischen Systemtreue und Unzufriedenheit sowie das Play-to-Lose- bzw. oder Play-to-Struggle-Konzept lädt ein zu tiefem Charakter- und Systemspiel für jene, die sich darauf einlassen wollen.

Ausstattung

Die Ausstattung des [Tales] Inside ist überwältigend. Die Otherlife Games-Orga hat eine vollständige Fabrikhalle nicht nur mit Lautsprechern, Militär-Schlafräumen und Sanitätsanlagen ausgestattet, sie hat auch viele technische Stationen, verschiedene miteinander verbundene Terminals und ein Telefonnetz eingebaut.

Die Overalls, die die Individualität und Sexualität der Spieler maximal verschleiern, sowie Kartons, die für das IT-Gepäck ausgegeben werden, leisten ihr übriges, um ein totalitäres Mangelszenario zu simulieren. Das Essen war schlicht, aber gut. Viele Spieler wünschten sich noch mehr „Bunkerfraß“ für die Immersion. Zusatz-Goodies (Schokolade, Cola) gab es für IT-Genussmarken. Die Technik funktionierte noch nicht immer überall (dies ist allerdings Setting-Konform), doch sie leistete einen phantastischen Beitrag zur Immersion und zum Weltengefühl.

Die Halle in Dinslaken ist schlichtweg der ARCOS-Bunker. Wer ein vollständiges Abtauchen in eine andere Welt sucht, wird hier sehr glücklich werden. 

Organisation

Moritz Jendral hat die Bilddokumentation übernommen.

Run 1 von [Tales] Inside hatte einige organisatorische Kinderkrankheiten, wie es bei einem Projekt dieser Größenordnung allerdings erwartbar gewesen ist. Der Check-In verzögerte sich um mehrere Stunden, die Ausgabe von Overalls und Essen schloss sich noch einmal an und trübte bei manchen die gute Stimmung. Hier spielte wohl auch eine Rolle, dass die Versorgerkaste zu ihrer Überraschung auch für Essens- und Spüldienste eingeteilt war. Hier wäre es möglich, diese Tickets verbilligt anzubieten. So kann man Leuten einen Gefallen tun, die sich den Run eigentlich nicht leisten können, und hat sie vorher informiert, dass sie eine Stunde am Tag im Spiel tatsächliche Arbeiten durchführen müssen.

Die Verzögerung machte sich hinterher bei den Workshops für die einzelnen Kasten sowie für das freitagabendliche Gleiten ins Spiel schmerzlich bemerkbar. Einweisungen in das Status-Spiel blieben rudimentär und waren sicher für Anfänger nicht ausreichend. Einweisungen in bestimmte Technikabläufe (Telefon, IRIS-Terminals, Reaktor) fielen gleich vollständig weg. Diese Kritikpunkte sind der Orga natürlich bekannt, mit dem zweiten Run bietet sich somit die Gelegenheit, die Schwierigkeiten anzugehen.

Als Fotograf war der in der Szene bekannte Moritz Jendral dabei, der extrem professionell fotografierte und dabei die Immersion kaum störte. Einmal mehr bedauert man nun seine Entscheidung, die LARP-Fotografie einzustellen – zum Glück hat er hier eine Ausnahme gemacht.

Design

Die Hintergrundwelt, der Bunker ARCOS, sowie die Einteilung der Bewohner in fünf Kasten eines totalitären Regimes kann gar nicht genug gelobt werden. Man konnte sowohl in das tiefe Charakterdesign von Jorina Havet abtauchen als auch in das Spiel in seiner Kaste, das laut vielen Stimmen zu einem großartigen Gemeinschaftsgefühl des „Wir gegen Die“ geführt hat. Die Charaktere waren keine Helden, sondern Menschen mit Wünschen und Ängsten, die versuchten, in einem Mangelszenario zu überleben. Auch die Antagonisten, eine Rolle, für die man sich gesondert anmelden musste, hatten immer eine menschliche Motivation und waren keine generischen Bösewichter. Das ergab eine reichhaltige Welt mit vielen Zwischentönen, auf welche man sich OT durchaus freuen darf.

Play2Lose als zentrales Spielelement

Das Play-to-Lose (auch Play-to-Struggle oder Play-to-Drama), dem die Orga mit diesem Spiel ein Fanal setzte, lädt zu rücksichtsvollem Spiel und dem Schaffen von Spielangeboten ein. Im Vorfeld des Runs galt es, sich in eine Intensitätsskala von 1 bis 3 einzuordnen, um festzulegen, wie hart das Spielerlebnis sein durfte. Das half den Darstellern von System-Oberen bei der Beurteilung, wie strikt man gegen andere beim Statusspiel sein durfte.

Diese Einstufung sollte Schule machen (ebenso wie der IT-Befehl zum Verringern der Intensität: „Das möchte ich jetzt wirklich, wirklich, wirklich nicht, Sir!“). Tatsächlich muss man moderne SpielerInnen nicht bremsen, weil sie selten zu hart sind. Hilfreich wäre es sogar, nicht nur die Intensität via Codewort verringern, sondern über ein anderes Codewort erhöhen zu können, beispielweise „Das wollte ich nicht, Sir, bitte, bitte, bitte entschuldigen Sie“, womit man seinem Gegenüber völlig IT kommunizieren könnte, dass man auf eine Konfrontation aus ist und für einen Fehler zur Rechenschaft gezogen werden möchte.

Das Spiel – aus persönlicher Sicht eines Administrators

Dass das Spiel eines totalitären Systems auf Opfer- wie Täterseite stark zum Nachdenken einlädt, ist klar. Ich versuche ja, meine Oneshot-Charaktere wie geklaute Autos zu spielen: Man drückt auf das Gaspedal, bis der Tank leer ist, und schrottet das Ding im Zweifel an der nächsten Friedhofswand, weil man die Kurve nicht gekriegt hat.

Teil Eins, bis Samstagmittag:

Das Spiel kam durch den späten Einstieg nur langsam in Gang. Die Technik, insbesondere IRIS, funktionierte noch nicht so recht, was besonders die Administratoren in ihrem Handlungsspielraum einschränkte. Eine Administration, die von oben herab ständig Dinge verkündet und Leute rufen lässt, hätte ein noch intensiveres Feeling hinterlassen. Zumindest konnte man dieses Feeling ein bisschen schaffen, indem Bürger Rot, der höchste Bürger im System, stets Marken verteilen ließ und die Bürger im gleichem Atemzug zu einem Termin rufen ließ. Absurder lässt sich Bürokratie fast nicht darstellen.

Dennoch hat die mangelhafte Lautsprecheranlage dazu geführt, dass Bürger für Termine mühevoll gesucht werden mussten. Hier waren besonders die Administratoren aus den unteren Rängen gefragt, die dadurch das Spiel der höheren Charaktere immens trugen. Leider sorgte dieser Umstand im besonderen Maße dafür, dass die Administratoren viel Zeit in ihrem Büro-Trakt verbrachten, denn nur dort konnte man sich gegenseitig informieren.

Das Spiel eskalierte viel zu früh.

Das Spiel eskalierte allerdings viel zu früh mit dem Tod von Bürger Rot, der versuchte, einen Arbeiter-Streik zu beenden. Dadurch verlor die Administration, die sich noch nicht hatte etablieren können und die auch noch keinen rechten Druck hatte aufbauen können (der von anderen Kasten gewünscht wurde), ihre Basis und ihre Glaubwürdigkeit.

Teil Zwei, Samstagnachmittag

Durch den zu frühen Tod von Bürger Rot und den Teilsieg der Arbeiter war die Administratoren-Kaste demontiert, bevor sie richtig Fuß fassen konnte. Die Unterstützung durch die Security, das Exekutiv-Organ, war verloren und musste in mühseliger Kleinarbeit wiedererobert werden. Das war natürlich auch ein interessantes Spiel, führte jedoch dazu, dass das Standing der Administratoren nicht mehr vorhanden war – denn die Bürger mussten keine Konsequenzen fürchten. Das hat das Admin-Spiel auch im weiteren Samstag wirklich schwierig gemacht. Auch die Security kam kaum dazu, das Weltgefühl des Bunkers durchzusetzen, waren sie doch zu sehr mit anderen Dingen und vielen internen Machtwechseln beschäftigt.

Status-Spiel funktioniert von unten. Wenn jeder ein Revoluzzer sein will, hast du oben keine Macht mehr. Man kann die Leute nicht mehr hart anfassen, wenn du total den Rückhalt verloren hast und keine Konsequenzen mehr ausführen kannst. Die Security war ja „auf deren Seite“, die Masse der Revoluzzer plötzlich Legion. Wenn dich gefühlt jeder zweite, dem du begegnest, respektlos anmacht, dann ist es schwer, das System aufrechtzuerhalten und jedem die Grad 3-Intensität zu geben, die er haben will. Ich als Grad-3-Spielerin mit hohem sozialem Status fand die Reaktionen der Leute oft zu weich. Das ist in so einem Spiel ein Geben und Nehmen.

Hier ist ein wenig Kritik anzumelden: Ich hatte den Eindruck, dass die Administration insgesamt als „der Feind“ gesehen wurde, und nicht als seit Jahrhunderten integriert in das Gesamtsystem. Dass die Existenz der Admins generell in Frage gestellt wurde („warum brauchen wir die eigentlich?“, „Was machen die eigentlich?“), hinterließ einen merkwürdigen Eindruck. Der Bürokratie-Teil des Admin-Spiels ist natürlich teilweise mit komisch-absurden Zügen versehen. Aber ich finde es schon sehr modern, dass ein sein Leben lang geknechteter Arbeiter sich plötzlich im Stande sieht, einen Staat zu leiten und auf die Regierung zu verzichten.

Jeder will Rebellen spielen.

Auch muteten die Forderungen der Arbeiter an vielen Stellen sehr modern an. Es wurden 6-Tage-Wochen mit freien Tagen, Anwälte bei Prozessen, umfassende Arbeitnehmerrechte und eine Räterepublik gefordert, in einer Welt, wo so etwas weder bekannt noch naheliegend war. Zwar gab es verbotene Bücher, doch wie sich ein über Jahrzehnte indoktrinierter Bürger sofort in moderne Gesellschaftskonzepte einfinden konnte, blieb schleierhaft.

Am Samstagnachmittag entstand daher ein Spannungsloch. Hier wussten viele nicht, wie sie sich und anderen Spiel generieren konnten und unterließen es auch. Dieses Eskalationsprinzip sollte in den Einleitungsworkshops beim nächsten Mal deutlich hervorgehoben werden. Ich fasse mir hier auch selbst an die Nase: ich hatte die Möglichkeit, das schleifende Spiel aus der Versenkung zu holen und habe zu spät reagiert. Aber das schien vielen so gegangen zu sein. Vielleicht auch weil einigen Spieler begannen, Spielelemente wie Plots auf „normalen“ Cons zu bespielen und dringend das Bedürfnis hatten, erfolgreich Plots zu lösen oder sich dem Gewinnen zu widmen. In einem Setting, wo man nicht gewinnen kann und Plots ein Vehikel für dramatischen Szenen sein sollen, funktioniert das leider nicht.

Bei vielen Spielern hielt sich diese Lethargie bis spät in die Nacht, konnte doch im Endeffekt jeder tun und lassen was er wollte, da das System nicht mehr durchsetzbar war. Ein paar Spieler begannen dann jedoch, stoisch das System zu bespielen, das zuvor mehrfach gestürzt wurde. Das gab dem Ganzen einen erfreulich absurden Touch.

Teil Drei, Sonntagvormittag

Am Sonntag kam es dann dank erfolgreicher Eskalation zu einem wirklich furiosen Finale. Ein Verbrecher sollte in dem Aufzug nach oben geschickt werden, um aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden, was nichts anderes als die Verurteilung zum Tod bedeutete. Was die Administration nicht wusste, aber ahnte, war, dass die Security sich längst erneut mit den Aufständischen verbündet hatte. So mündete die Hinrichtung im Aufstand, anstelle der Vollstreckung des Urteils kam es zur Verhaftung der gesamten Administration. Das Spiel endete bittersüß darin, dass jeder bekam, was er wollte, und doch niemand mit dem Ergebnis glücklich sein konnte …

Was vom Bunker bleibt

Die Orga hat ein sehr liebevolles und wertiges Konzept ausgearbeitet. Das beweisen alleine schon die vielen Spieler (bislang knapp die Hälfte des ersten Runs), die bereits jetzt ihre Teilnahme an Run 2 planen. Für Run 3, der international werden soll und daher auf Englisch, gibt es auch schon zahlreiche Wiederholungsbürger, auch wenn bisher kein Termin aussteht. Die Ausstattung konnte auf ganzer Linie überzeugen, denn es gab wirklich an jeder Ecke irgendetwas zu entdecken.

Es zeigt sich aber auch, wie schwer es Spielern fallen kann, sich auf ein fremdes Konzept vollständig einzulassen und liebgewonnene und wichtige Werte der realen, aufgeklärten Gesellschaft auszublenden. Auf der einen Seite ist das ein gutes Zeichen, beweist es doch, wie viele Menschen ein stark ausgeprägtes Unrechtsbewusstsein haben. Auf der anderen Seite bringt einen das, zu früh und zu stark ins Spiel übertragen, vielleicht um die ein oder andere einzigartige Spielerfahrung. Hier können intensivere Workshops sicher einen Beitrag leisten, damit nicht bei Run 2 auch gegen ein System rebelliert wird, das es nie gab.

Bilder: © Otherlife Games, sonst wie ausgewiesen

Über die Autorin

Lena Falkenhagen studierte im echten Leben Germanistik und Anglistik an der Universität Hannover und arbeitet seitdem als freischaffende Autorin, Lektorin, Übersetzerin und Computerspiele-Designerin. Über das Rollenspiel DSA betrat sie bereits mit elf Jahren die Welt der Geschichten und verliebte sich tief ins Erzählen. Sie gehörte von 1994 bis 2011 der DSA-Redaktion an und schrieb neben vielen Abenteuerbänden und Hintergrundbüchern vier Romane für Aventurien.

Von ihren vier historischen Romanen beim Wilhelm Heyne Verlag wurde Die Lichtermagd mit dem DeLiA-Preis 2010 ausgezeichnet. Für Markus Heitz’ Justifiers-Romanserie (Space Fiction) wechselte sie mit Undercover in eine ferne, zukünftige Welt. Seit 2012 gestaltet sie Welt und Story des deutschen Computerspiels Drakensang Online. Auch wenn die Reise in der Phantastik begann, wechselt Lena heute fließend zwischen vielen Welten hin und her und fühlt sich in jeder gleichermaßen zuhause. So auch in der Wahlheimat Berlin.

Co-Autor 

http://2.gravatar.com/avatar/b5d3c6c805a2bf98bc83954be051dfb7?s=100&d=retro&r=gMichael Engelhardt hat Allgemeine Rhetorik und Erziehungswissenschaft in Tübingen studiert. Seit 2003 ist er nun schon LARPer und hauptsächlich auf Fantasy-Cons zu finden. Ab und wann verirrt er sich aber auch mal in Science-Fiction-oder Zombie-Settings. Bei den Teilzeithelden ist er stellvertretender Chefredakteur und verantwortlich für die Ressorts LARP und Cosplay. Neben Beiträgen zu LARP und Cosplay, widmet er sich gerne auch mal einem Spiel, Filmen und Musik.

 

 

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