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500 Jahre sind vergangen, seit eine große Katastrophe die Menschen in unterirdische Bunkeranlagen trieb. Behütet von einer KI hat sich eine dystopische Gesellschaft entwickelt, in der das Individuum nichts zählt und Namen Nummern gewichen sind. Basierend auf einem Live-Rollenspiel entführt uns die Newcomerin Jorina C. Havet in tiefste Abgründe.

Wie würde sich eine Gesellschaft entwickeln, die vor vielen Generationen gezwungen wurde, in Bunker tief unter der Erde zu fliehen? Wie verhindert man, dass die Menschen dieser Gesellschaft irgendwann durchdrehen und Anarchie Einzug hält? Wie stellt man für die Zukunft das Überleben einer ganzen Spezies sicher? Nicht das erste Mal stellt sich eine Autorin oder ein Autor diese Fragen, doch die dabei gezeichneten Gesellschaften sind sich meist ähnlich: Schmutzig, brutal und mit einem Hauch Anarchie. Was aber, wenn der Gang unter die Erde lang vorbereitet war und ein straffes Kasten-System entwickelt wurde? Mit Tales Inside: Bürger Orange 764 wagt Jorina C. Havet eine andere Herangehensweise als die meisten Autorinnen und Autoren. Besonders spannend ist dabei, dass die Grundlage des Buches das von Kritikerinnen und Kritikern gefeierte LARP Tales: Inside ist. So entspringt die Geschichte des Buches nicht nur der puren Phantasie der Autorin, sondern konnte live erlebt werden, sodass tatsächliche Geschehnisse Einfluss auf den Roman nehmen konnten.

Story

Bürger Orange 764 ist Reaktortechnikerin und damit zuständig für die Wartung der Lebensquelle der vermutlich letzten verbliebenen Menschen, doch etwas stimmt nicht. Erinnerungsfetzen und fehlendes Wissen offenbaren 764, dass sie eigentlich Teil der Security, also der Bunkersicherheit war. Warum sie versetzt wurde und warum man ihr Gedächtnis gelöscht hat, ist ihr vollkommen unklar. Damit beginnt auch schon das Abenteuer auf der Suche nach der eigenen Identität, in einer Gesellschaft, wo diese nichts zu zählen scheint.

Von Anfang an ist das Setting düster und beklemmend, 764 scheint nicht nur verloren, sie ist verloren. Obwohl eine Nummer statt eines Namens die Protagonistin geradezu entmenschlicht, gelingt es Jorina C. Havet dennoch, einen Charakter zu schreiben, den man nachfühlen kann. Das trifft auch auf die Nebencharaktere zu, denen 764 im Verlauf ihrer Geschichte begegnet.

Die Geschichte selbst entwickelt sich recht langsam und versucht dabei, die Leserin oder den Leser in die Welt einzuführen. Doch allein die Gesellschaftsstruktur als solche ist schon recht komplex, und ohne den Appendix am Ende des Romans wäre sie nur schwer zu durchschauen. Mehr Tempo hätte der Roman auf keinen Fall vertragen, und ab der Mitte zieht dieses dann auch angenehm an, sodass man am Ende schließlich auf ein rasantes Finale zusteuert.

Herauszuheben ist dabei der Fokus auf den Versuch der einzelnen Bürger, Menschlichkeit in einem durch und durch unmenschlichen System zu bewahren. Kleine Gesten, Blicke, der Hauch einer Berührung drücken hier so viel mehr aus, als große Gefühlsausbrüche es könnten.

Schreibstil

Der Roman ist aus Sicht von Bürger 764 in Form von Gedanken und Erinnerungsfetzen geschrieben. Diese und auffällig fehlende Teile des Gedächtnisses schaffen einen interessanten Charakter, der plausibel und nicht konstruiert wirkt. Obwohl die Gedankenwelt von 764 dadurch nicht einfach ist, bleibt diese stets gut lesbar und nachvollziehbar. Das gilt auch für den Roman in Gänze. Obwohl es manchmal schwer ist, die Gesellschaft und das Setting zu verstehen, bleibt das Buch durchgängig flüssig lesbar, da die Geschichte von 764 sehr gut erzählt wird. Gewöhnungsbedürftig dürfte einzig sein, dass vollkommen unabhängig vom Geschlecht immer von „dem Bürger“ die Rede ist. Teil der Welt ist, dass Geschlecht keine Bedeutung zu haben scheint, und dem Zeitgeist des vermeintlichen Einschlusses der Gesellschaft in den Bunker durch das Maskulinum Rechnung getragen wurde.

Havet fängt mit ihren detaillierten, aber nicht übertriebenen Beschreibungen gut die Atmosphäre ein und vermittelt diese der Leserin oder dem Leser. Hier haben wir keine endgültig gescheiterte Gesellschaft, sondern eine, die irgendwie funktioniert, aber alles andere als erstrebenswert ist. Der Kern einer Dystopie wird in Tales: Inside Bürger Orange 764 daher ausgezeichnet getroffen. Leider erfährt man nur am Rande etwas über die Welt selbst, die aber in den wenigen kurzen Einblicken sich mehr als nur spannend darstellt. Immerhin wird hier ein das Individuum verachtendes, ja geradezu faschistisches System gezeichnet. Hier wäre ein tieferer Einstieg in den geplanten Fortsetzungen wünschenswert.

Die Autorin

Jorina C. Havet ist leidenschaftliche Larperin und Game Designerin. Sie liebt es, detailreiche, tiefgründige Welten zu erschaffen und zum Leben zu erwecken. Tales: Inside Bürger Orange 764 ist ihr Erstlingswerk, das sie im Eigenverlag publiziert. Havet lebt und arbeitet in Göttingen.

Erscheinungsbild

Das Cover ziert eine Realaufnahme des LARPs Tales: Inside. Zentral leicht transparent ist das Symbol der Arbeiter-Kaste, in der der Hauptteil des Romans spielt. Das ganze Cover ist düster und industriell gehalten und spiegelt die bedrückende Stimmung einer dystopischen Gesellschaft gut wider.

Im Buch selbst gibt es zudem Grafiken und Erläuterungen, die die Gesellschaftsstruktur verdeutlichen sollen, sowie die Dramatis Personae.

 

Die harten Fakten:

  • Verlag: Amazon
  • Autor: Jorina C. Havet
  • Erscheinungsdatum: 2020
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Taschenbuch/eBook
  • Seitenanzahl: 301
  • ISBN: 9783948785000
  • Preis: 12,99 EUR (Softcover)/ 2,99 EUR (eBook)
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Fazit

Dystopien sind nicht erst 2020 total in, und so muss sich Tales: Inside Bürger Orange 764 einer harten Konkurrenz stellen. Doch der vorliegende Roman ist erfrischend anders, zeigt er doch eine faschistische Gesellschaft, in der einzelne um ihre Menschlichkeit kämpfen.

Auch wenn die Welt sich nicht ganz der Leserin oder dem Leser erschließt, bleibt es ein spannendes Buch mit einer beklemmenden Geschichte. Havet fängt die Essenz einer Dystopie, eines zutiefst pessimistischen Zukunftsbildes sehr gut ein. Dabei lässt sie aber doch den ein oder anderen Hoffnungsfunken aufkeimen, der diese schlimme Gesellschaft erträglicher macht. Zudem verspricht der bereits angedeutete Plot, der die Buchreihe umspannen soll, großes Potenzial für nervenaufreibende Stunden im Bunker. Ganz besonderen Charme hat der Roman zudem dadurch, dass man sich beim Lesen stets bewusst machen sollte, dass zahlreiche Menschen diese Welt im Rahmen des Live-Rollspieles Tales: Inside tatsächlich erlebt haben.

Tales: Inside Bürger Orange 764 ist eine astreine Dystopie und damit tief pessimistisch, düster und bedrückend. Zwar gibt es, wie oben geschrieben, ein paar Hoffnungsschimmer, aber diese reißen den wolkenverhangenen Bunkerhimmel nicht auf. Das sollte einem klar sein. Happy Ends sind hier eher nicht zu erwarten, dafür persönliche Schicksale, Verzweiflung und enttäuschte Hoffnung. Wer sich aber darauf einlässt, wird in eine spannende Welt eintauchen, in der dieser Roman nur an der Oberfläche zu kratzen scheint.

 

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