Geschätzte Lesezeit: 11 Minuten

1970 schrieb der Philosoph Günther Anders in Der Blick vom Mond darüber, was Weltraumflüge mit dem Selbstverständnis der Menschheit machen. 49 Jahre später will Günther-Anders-Preisträger Dietmar Dath wissen, was Weltraumflüge mit dem Sozialismus machen, und schickt seine Figuren zum blauen Riesen am Rande des Sonnensystems.

Es wirkt beinahe, als habe man Dietmar Dath gedrängt, den 2017 erschienenen Roman Der Schnitt durch die Sonne ein zweites Mal zu schreiben – aber diesmal bitte mit Raumschiffen. Dabei hat Dath, seines Zeichens Filmkritiker und Schmuckkommunist bei der FAZ, noch nie irgendwelche bildungsbürgerlichen Berührungsängste an den Tag gelegt, wenn es um genretypische Science-Fiction-Elemente geht. Das zeigt auch der verlagsinterne Wechsel zur hauseigenen Phantastikmarke Fischer Tor, wo die lose Fortsetzung vergangenen Herbst erschien. Gelesen haben muss man den Vorgänger, in dem eine Gruppe Menschen geistig auf die Sonnenoberfläche projiziert wird, freilich nicht. Neptunation – oder: Naturgesetze, Alter! spielt in derselben Welt und einige Figuren tauchen in Nebenrollen wieder auf, aber letztlich steht das Wissenschaftsepos über Weltraumreisen und Sozialismus für sich.

Daths Platz in der deutschen Gegenwartsphantastik zu bestimmen, ist dabei nicht immer einfach. Was er schreibt, verbleibt nicht im Bereich der spannungsgeknechteten Unterhaltungsliteratur, sondern wird automatisch zu einer Auseinandersetzung mit dem Genre selbst: einem Austesten der produktiven Möglichkeiten von Science-Fiction als Kulturtechnik. Insofern komplementiert der neue Roman Daths sein im selben Jahr erschienenes Sachbuch Niegeschichte – Science-Fiction als Kunst- und Denkmaschine. Damit sticht er unter den deutschsprachigen Neuerscheinungen 2019 hervor wie eine Mondfähre zwischen Flugzeugen. So fühlt sich Neptunation tatsächlich an wie ein suchendes Tasten nach einer neuen Science-Fiction, die auch über den US-Buchmarkt hinaus im internationalen Austausch steht. Noch während sich der Roman beinahe spöttisch vor der Golden-Age-Größe Robert A. Heinlein verbeugt, schlägt der Plot Töne an, die mit Vertreter*innen der aktuell im Aufschwung begriffenen chinesischen Science-Fiction wie Cixin Liu oder Hao Jingfang weit mehr gemein haben als mit deren zeitgenössischen englischsprachigen Counterparts – eine Wahlverwandtschaft, welche durch die dem Roman vorangestellten Zitate von Mao-Zedong-Nachfolger Deng Xiaoping noch bekräftigt wird.

Story

Wo sich eine große Quest auftut, darf eine geheimnisvolle Mentorenfigur nicht fehlen. In Neptunation übernimmt diese Rolle, die sonst üblicherweise alten Männern mit variabler Bartlänge zukommt, die exzentrische und scheinbar alterslose Komponistin Cordula Späth, die sich auch sonst gelegentlich in Daths Romanen herumtreibt. Als sozialistische Version von Nick Fury versammelt sie ein Team hochspezialisierter Wissenschaftler*innen, garniert es scheinbar zufällig mit einem begabten Teenager und einem kernigen Söldner, holt noch einen mit seiner Familiengeschichte ringenden Linguisten dazu, um dann alle gemeinsam auf große Weltraumreise zu schicken. Ihr Ziel: Die Verfolgung des Raumschiffs „Iwan Jefremov“, das bereits kurz vor dem Ende des Kalten Krieges unter ostdeutsch-russischer Führung ins All aufbrach, gewissermaßen als ein letzter Kraftakt des Kommunismus, um nach den Sternen zu greifen. Das verschollene Schiff, das nach einer Meuterei unter dem Namen „Eolomea“ weiterflog, sendet seit einiger Zeit Signale vom Neptun, die es zu entschlüsseln gilt. Doch bald wird die Besatzung der Aufklärungsmission in ganz eigene Abenteuer verstrickt. Es stellt sich heraus: Die Galaxie ist bevölkerter als man denkt, und Cordulas Crew stehen Entdeckungen bevor, die an den Grundfesten dessen rütteln, was wir Naturgesetze nennen.

Menschheitsgeschichten

Dass Dath sich zunächst auf etwa hundertfünfzig Seiten den Raum lässt, seine Figuren einzeln einzuführen, ist keine vergeudete Lesezeit, denn diese tragen fortan sicher durch die Handlung, tun sich ohne hyperindividualistische Heldenallüren zu einem sozialen Mikrokosmos mit wechselnder Besetzung zusammen und erinnern daran, dass Weltraumgeschichten immer zuerst von Menschen handeln und erst danach vom All. So entfalten gerade die Reisekapitel, in denen die Besatzung des Schiffs über Jahre hinweg ihren Alltag gestaltet, in Coronazeiten ein unerwartetes Identifikationspotential – keine abwegige Assoziation, zogen doch der ehemalige Raumfahrer Thomas Reiter und die Astrophysikerin Sibylle Anderl kürzlich im FAZ-Feuilleton Parallelen zwischen der Quarantäne in den eigenen vier Wänden und dem Leben auf der ebenfalls extrem beengten Raumstation. Freilich hat die Besatzung in Daths Roman deutlich mehr Platz, doch auch sie muss mit dem leben und arbeiten, was sie an Bord hat, und das sind, während sich die Ereignisse zuspitzen, zunehmend die Anderen. Die Figuren lernen voneinander, organisieren Musikveranstaltungen und Kinoabende, verbringen ihre Zeit mit Austausch und Diskussion, Vorträgen und schließlich auch Theater. Neugier und Wissensdurst vertreiben die Langeweile und dass in den kulturellen Exkursen der Figuren durchaus Sinnstiftung liegt, wird nie in Zweifel gezogen – auch dann nicht, als es zur ersten Katastrophe kommt.

Dabei sind Dath als ehemaligem Herausgeber der Popkulturzeitschrift Spex Unterscheidungen zwischen Hochkultur und Pop, zwischen Arthouse und Mainstream naturgemäß gleichgültig. Es ist das Menschliche, das hinter all dem zum Vorschein kommt, dem seine, und damit die Aufmerksamkeit der Figuren gilt. So hängt über dem Bett von Cordula Späth nicht etwa ein Rembrandt oder van Gogh, sondern ein Photo von Miley Cyrus und Ariana Grande, Erinnerung an eine verpasste Konzertgelegenheit. Man kann viel lernen aus diesen Anspielungen und Bezügen, mit denen Dath seine eigene kleine Weltausstellung anreichert: über Filme, Literatur, Musik, und darüber, was es heißt, eine Menschheit zu lieben, die in ihren verschiedensten kulturellen Errungenschaften ständig über sich hinaus und dabei doch zugleich zusammenwächst. Das geht einher mit einem Menschenbild, das sich gerade nicht in Abgrenzung vom Fremden und Nichtmenschlichen konstituieren muss. Das Unbehagen, das aufkommt, sobald die ersten technisch augmentierten Menschen auftauchen, wird nicht nur zerstreut, sondern geradezu abgewatscht, wenn diese sich als wertvolle Ergänzung zur bisherigen Besatzung erweisen. Für posthumanistische Dystopien ist in Neptunation kein Platz. Am Ende der monumentalen Reise ist ohnehin keine Figur mehr frei von technischen Implantaten und die Frage, ob sie das weniger menschlich macht, stellt sich gar nicht erst. Letztlich ist es das irgendwann auf der Reise erwachsen gewordene Teenagermädchen Filipa, das die entscheidende Erkenntnis ausspricht: „Der Mensch ist was, das sich verändern kann.“

Gedachtes und Ungedachtes

Deutlich komplizierter ist das, was sich hinter dem saloppen alternativen Titel Naturgesetze, Alter! verbirgt. Die wissenschaftlichen Dispute und Exkurse im Roman strafen jede Unterscheidung zwischen harter Science-Fiction und politischer Science-Fiction Lüge. Wie schon im kulturellen Bereich begnügt Dath sich nicht mit einer einzigen Wissenschaft, sondern lässt gleich mehrere miteinander in Dialog treten und spürt dabei allen, und ihrem Verhältnis zueinander, nach. Verschiedene Figuren scheinen aus ihren jeweiligen Professionen heraus blind in der Gegend herumzurätseln, und doch arbeiten sie, so ahnt man, am selben Problem, an den absoluten Grundlagen der Gesetzmäßigkeiten des Universums. Wissenschaftsphilosophisch gerät die Erzählung dabei mehr als einmal in unsichere Fahrwasser. Man möchte am liebsten Namedropping mit Namedropping kontern und den einen oder anderen monologisierenden Charakter beiseite nehmen und ihm vorschlagen, vielleicht mal Ernst Cassirer zu lesen. Aber dafür gibt es ja schließlich Romanfiguren: damit sie aussprechen können, was eventuell noch nicht ganz durchdacht ist.

Zu einer ähnlich befriedigenden Einheit, wie die kulturellen Exkurse sie im gemeinsamen Menschheitsgefühl finden, gelangt die philosophisch-wissenschaftliche Motivik nie. Ebenso lassen sich die politischen Dynamiken zwischen den Figuren nie in Wohlgefallen auflösen. Cordula Späth redet zwar oft, gern und zunehmend ausschweifend über die heterogene Geschichte des Sozialismus, die in den sowjetischen und ostdeutschen Figuren ebenso verkörpert wird wie in den chinesischen, aber gelebt wird politische Theorie an Bord der diversen Raumschiffe letztlich nur in der Ambivalenz, in der sie uns auch in der Wirklichkeit begegnet. Denn beim Forschen und Entdecken merkt man den Menschen ihre politische Einstellung nicht an, und zu ideologischen Grundsatzfragen kommt es fast nur durch Cordula Späth selbst, die neben allen hehren Zielen, das wird schnell klar, ihr eigenes Süppchen kocht. Neptunation hält keine klaren Antworten bereit und stellt noch nicht einmal klare Fragen, aber wer Neues denken möchte, muss ohnehin auf vorgeprägte Begriffe verzichten. Insofern ist das alles Jammern auf hohem Niveau.

Schreibstil

Als Roman entspricht Neptunation Ursula K. LeGuins Carrier Bag Theory of Fiction, oder auch ästhetischen Theorien des frühen 20. Jahrhunderts, welche nicht die Handlungen, sondern die Welthaltigkeit als zentrales Merkmal der Textgattung Roman hervorhoben. Wer Romane schreibt, schafft eine komplette Welt, die, angefüllt mit lebendigen Details, immer größer ist, als das, was man von ihr liest. Dath nähert sich dieser Forderung an, indem er keine der zahlreichen Figuren in den Mittelpunkt stellt. Cordula Späth, als Figur, die die Handlung ins Rollen bringt und mit viel gutem Willen als Protagonistin fungieren könnte, muss sich schon deswegen in endlosen Monologen verlieren, weil wir nur von ihr keine Innenperspektive gezeigt bekommen. So bleibt sie der Leserschaft ebenso rätselhaft wie ihrem Weltraumteam. Bis zuletzt bleibt unklar, wessen Geschichte überhaupt erzählt wird, denn wie eine Person, deren Geschichte es zwischenzeitlich zu sein schien, gegen Ende plötzlich erfasst: „Geschichten von Menschen sind aus Geschichten von anderen Menschen zusammengesetzt.“

Dass Dath Namen, Theorien und Fachbegriffe ebenso regelmäßig in den Text einstickt wie Songzitate und Popkulturreferenzen, kann leicht als intellektueller Einschüchterungsversuch verstanden werden, erschwert die Lektüre aber kaum. Anstrengender ist der häufige Wechsel zwischen Deutsch und Englisch, wenn die internationale Crew versucht, über Sprachgrenzen hinweg zu kommunizieren.

In den Dialogen haben alle Figuren ihre eigene Ausdrucksweise, wobei der Wechsel zwischen lockerer Alltagssprache und hochgestochenem Fachjargon manchmal gekünstelt wirkt. Schade ist, dass die inneren wie äußeren Wandlungen, welche die Figuren durchmachen müssen, sich kaum auf deren Sprache auswirken. Nach Jahrzehnten an Bord spricht Amerikanerin Liz noch immer so unsicher Deutsch, dass sie ständig ins Englische springt, und wenn Filipa, die inzwischen weit über 30 sein müsste, noch immer klingt wie der Teenager, der sie einmal war, mag das zwar dem Wiedererkennungswert dienen, irritiert aber dennoch.

Der Autor

Dietmar Dath, geboren 1970 in Rheinfelden, ist ein deutscher Schriftsteller, Übersetzer, Musiker und Publizist. Er studierte Physik und Literaturwissenschaften und veröffentlichte 1995 den Roman Cordula killt Dich, in dem Cordula Späth ihren ersten Auftritt hat. Mit dem Science-Fiction-Roman Die Abschaffung der Arten schaffte er es 2008 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde, wie auch 2013 für Pulsarnacht, mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet. Ab Ende der 1990er war er als Redakteur bei der Spex und später beim Feuilleton der FAZ tätig, wo er heute vor allem als Filmkritiker fungiert. 2018 erhielt Dath den Günther-Anders-Preis für kritisches Denken. In der Dankesrede sprach er über die Bedeutung von Kritik und das Potential von Science-Fiction. Auf Grund seiner klaren politischen Position tritt der Systemkritiker auch in linksaktivistischen Kreisen in Erscheinung, so etwa 2019 bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz.

Erscheinungsbild

Das Buch ist, wie von Fischer Tor nicht anders gewohnt, hochwertig, allerdings nicht ganz so gründlich lektoriert, wie man sich gewünscht hätte. Das Coverdesign zeigt eine Astronautin, die – das Abzeichen an ihrem Ärmel verrät es – zur deutsch-chinesischen Raumeinheit gehört und hinter der ein sternendurchsetztes All in eine rote Gebirgswelt übergeht. Offenbar überlagert das Thema Sozialismus die farbschematisch naheliegende Alternative des blauen Meeresplaneten Neptun. In diesem Zusammenhang verwundern allerdings die stilisierten Sonnenstrahlen im Hintergrund, die auch im Buch jedes neue Oberkapitel schmücken. Nun mag China das Land der aufgehenden Sonne genannt werden und ebenso mag Dath seine Figuren als vom Sonnenlicht gelesene Menschen bezeichnen, aber gerade im Zusammenhang mit der roten Farbe erinnert dieses Design primär an die Kyokujitsuki, die Flagge der aufgehenden Sonne, die mit China zunächst gar nichts zu tun hat, sondern als japanische Militärflagge historisch sehr anders konnotiert ist.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Fischer Tor
  • Autor: Dietmar Dath
  • Erscheinungsdatum: 25. September 2019
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Broschiert
  • Seitenanzahl: 688
  • ISBN: 978-3-5967-0223-7
  • Preis: 16,99 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

Fazit

Es gibt deutsche Literaten, die gelegentlich wie aus Versehen mal einen Science-Fiction-Roman schreiben, der dann genau so große (oder kleine) Literatur ist, wie ihr sonstiges Werk, aber mit dem Phantastischen in Wahrheit nichts zu tun haben möchten. Dietmar Dath gehört nicht dazu. Er schreibt Science-Fiction aus Überzeugung und die Liebe zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Genres prägt Neptunation noch stärker als seine früheren Romane. Die Suche nach dem verschollenen Raumschiff Eolomea führt sein Team aus Wissenschafter*innen und anderweitigen Expert*innen unter Leitung der exzentrischen Sozialistin Cordula Späth durch Gefahren und Zwischenfälle an den Rand des Sonnensystems, wo sie sich mit dem Neudenken von Naturgesetzen konfrontiert sehen. Dabei bestehen sowohl die eigentliche Gefahr als auch die größte Hoffnung noch immer in dem, was die Menschen von der Erde mit sich in den Weltraum tragen. Als verkopfte und exkursreiche Wissenschaftsfiktion für Fortgeschrittene wäre der Roman etwas sperrig, würden nicht seine Figuren in ihrer ständigen Bemühung um kulturelle wie wissenschaftliche Sinnstiftung ihn zugleich ausgesprochen menschlich machen. Politisch ambivalent, motivisch komplex und fern von plumpen Antagonismen wie Mensch vs. Maschine ist Neptunation einer der reichhaltigsten Romane des letzten Jahres.

Es gibt bereits am Ende des Vorgängerromans Der Schnitt durch die Sonne einen kurzen Moment, in dem man plötzlich den Eindruck hat: hier öffnet sich eine ganze Welt dem Licht und gibt einen Blick auf die Menschheit frei, wie Dath sie sieht. Dann schiebt sich eine Wolke davor und lässt einen zurück zwischen gelehrten Gedanken und schönem Geschwurbel. Das Ganze fühlt sich an wie eine verpasste Gelegenheit. Neptunation hingegen hat viele solcher Momente. Aber nun sind sie mehr als ein vereinzeltes Aufblinken, sie bilden Formen, Gestalten, Konstellationen und erleuchten schließlich den ganzen Roman wie Schlüsselmomente für etwas, das sich erst noch offenbaren muss. Hoffen wir, dass Dath und Cordula Späth noch nicht fertig miteinander sind.

 

Artikelbild: Fischer Tor, depositphotos ©lurii
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein