Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

Der Speichermann beweist eindrucksvoll, dass die Weihnachtszeit die perfekte Vorlage für schaurige Geschichten liefern kann. Die Adaption der Kurzgeschichte von Kai Meyer folgt den Begegnungen eines Jungen mit dem titelgebenden Wesen und überzeugt durch die melancholische Handlung und stimmungsvolle Bildgestaltung.

Weihnachten gehört in unserer Kultur zu einem der wichtigsten Festtage, weswegen sich eine Vielzahl von Filmen, Büchern und Graphic Novels um den Heiligen Abend abspielen. In dieser Hinsicht war bisher Klaus – Die wahre Geschichte von Santa Claus meine Leseempfehlung für die (vor-)weihnachtliche Zeit. Doch mit Der Speichermann ist unerwartet ein würdiger Konkurrent für das Fantasy-Werk von Grant Morrison auf der Bildfläche erschienen.

Die Graphic-Novel-Adaption der Kurzgeschichte des deutschen Phantastik-Autors Kai Meyer, unter anderem bekannt für die Krone der Sterne-Trilogie, schafft eine schaurige Atmosphäre mit Weihnachtsbezug. Zu verdanken ist dies auch den wunderschönen Bildern der Illustratorin Jana Heidersdorf. Ihr merkt es bereits: Dieser Kurzcheck wird für Der Speichermann positiv ausfallen.

Handlung & Charaktere

Der große Speicher wirkt beunruhigend auf den kleinen Jungen, aber bei weitem nicht so sehr wie der Abtransport des Sarges seiner Mutter in den unteren Geschossen des Landsitzes. Alte Möbel und Statuen erschaffen eine Welt, in der die Zeit anders zu vergehen scheint. Doch das Seltsamste findet sich hinter einer Wand aus Ölgemälden: Ein alter Mann spricht den verunsicherten Jungen an. Das Kind brauche keine Angst zu haben, meint die Gestalt, denn sie sei in Wahrheit der Weihnachtsmann. Zum Beweis bietet der bärtige Herr dem Jungen eine Zimtschokolade als Geschenk an. Das Kind müsse lediglich zu ihm kommen und diese abholen.

Doch der Junge hört auf den Rat seiner Eltern, dass Kinder nie Geschenke von fremden Leuten annehmen sollten. Dazu gehören logischerweise auch seltsame Männer, die auf dem eigenen Speicher hausen. Dafür hat der „Weihnachtsmann“ eine einfache Lösung parat: Der Bube muss einfach als Erwachsener wiederkommen.

Die gesamte Faszination der Geschichte geht von den Interaktionen dieser beiden Akteure aus. Kai Meyer erzählt eine Geschichte über viele Lebensjahre hinweg, in denen der im Laufe der Geschichte erwachsen werdende Junge dem alten Mann immer wieder auf dem Speicher begegnet. Dabei wird eine unheimliche Atmosphäre geschaffen, ohne dass vom Speichermann eine unmittelbare Bedrohung auszugehen scheint. Er führt nie offensichtlich etwas Böses im Schilde, doch als Leser*in erkennt man dennoch, dass etwas nicht stimmt. Die Neugierde auf dieses Geheimnis, gepaart mit der melancholischen Grundstimmung, ist die Grundlage der Faszination dieser Graphic Novel.

Das Ende bildet den Höhepunkt der Kurzgeschichte, wenngleich es für einige Leser*innen vielleicht zu traurig ist. Hier empfiehlt sich die Lektüre des Nachworts von Kai Meyer, durch die man seine Absichten besser versteht. Mit dieser Zusatzinformation gewinnt die vermittelte Botschaft zusätzlich an Gewicht, auch wenn die Kurzgeschichte alleinstehend in sich stimmig, rund und faszinierend ist. Gemeinsam mit der ursprünglichen Textfassung als Anhang komplettiert dieses Nachwort das Leseerlebnis.

Zeichnungen & Kolorierung

Einen großen Anteil an der Faszination dieser Graphic Novel hat die visuelle Gestaltung von Jana Heidersdorf. In kühlen Farben, die wunderbar zur melancholischen Stimmung der Geschichte passen, erweckt sie den Speicher mit seinem übernatürlichen Charme zum Leben. Der Hauptschauplatz der Handlung ist schummrig und fremdartig, ohne dass es einen expliziten Grund für die wahrgenommene Bedrohung gibt. Dies trifft ebenso auf den alten Mann zu, der wie ein freundliches Großväterchen wirkt. Wären da nicht seine Augen, die etwas Bedrohliches ausstrahlen, könnte man seinen Angeboten fast erliegen.

Dank des zeichnerischen Stils, der an Gemälde aus Öl- oder Pastellfarben erinnert, vermittelt Der Speichermann einen antiquarischen Eindruck. Das verstärkt authentisch das Gefühl, sich auf dem Speicher eines alten Herrenhauses zu befinden. Darüber hinaus setzt die Künstlerin Licht und Schatten geschickt ein, um die Emotionen des Protagonisten zu betonen. In glücklicheren Lebensabschnitten wirken die Bilder vergleichsweise freundlich, während das melancholische Ende dunkel gehalten ist.

Der Speichermann ©Splitter
Der Speichermann © Splitter

Die harten Fakten

  • Verlag: Splitter
  • Autor*in: Kai Meyer
  • Zeichner*in: Jana Heidersdorf
  • Sprache: Deutsch
  • Seitenanzahl: 72
  • Preis: 18,00 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

Fazit

Der Speichermann ist eine zur winterlichen Jahreszeit passende Schauergeschichte, die man am besten mit einem heißen Getränk vor einem Kaminfeuer genießt. Ebenso wie der titelgebende Speichermann zieht uns Kai Meyer in seinen Bann. Die Geschichte lebt von ihrer mysteriösen Atmosphäre und der Neugier nach der Auflösung. Dabei vergehen Jahre wie im Fluge und das Leben des Protagonisten verkommt neben den Begegnungen mit dem alten Mann zu einer Randnotiz. Die Erzählung mündet in einem traurig gestalteten Finale, das die Handlung allerdings passend zu Ende führt.

 Die Wirkungskraft von Meyers Worten wird durch Jana Heidersdorf Künste auf eine neue Stufe gebracht. Melancholisch träumerische Bilder bringen die übernatürliche Atmosphäre des Speichers und seines Bewohners zum Leben. Der Speichermann ist für mich ein Paradebeispiel, wie eine bereits qualitative Erzählung durch die richtigen Bilder aufgewertet kann. Die kühle Farbpalette der Künstlerin greift die Grundstimmung der Handlung perfekt auf und lässt die Lesenden sich in der Lektüre verlieren. Wenn Jana Heidersdorf bereits bei ihrer ersten Graphic-Novel-Adaption eine solche Qualität beweisen kann, hoffe ich auf viele weitere Werke der Berliner Illustratorin.

Artikelbild: © Splitter
Layout und Satz: Nina Horbelt
Lektorat: Lukas Heinen
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein