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In Living Forest, dem neuen Familienspiel von Pegasus, übernehmen wir die Rolle von vier Naturgeistern, welche versuchen, den Wald vor den Flammen des bösen Feuerwarans Onibi zu retten. Doch im aktuellen Preisträger des französischen Kennerspielepreises spielt ihr nicht zusammen! Am Ende kann nur ein Geist gewinnen und den Wald erobern.

Der Autor Aske Christiansen brennt hier mit seinem Erstlingswerk ein wahres Feuerwerk an Mechaniken ab, die alle nahtlos zueinanderpassen: Deck-Building, Push-Your-Luck, Wettrennen, Meaningful-Choice und mehr.  Getoppt wird dies eigentlich nur noch von dem grandiosen und fantasievollem Artwork von Apolline Etienne, die auch schon Muse oder Momiji illustrierte. Doch fangen wir vorne an und verschaffen uns erst einmal einen Überblick.

Spielablauf

Grundlegend läuft das Spiel über drei Phasen ab, welche so lange rundenweise gespielt werden, bis jemand gewonnen hat. Dazu gibt es drei Siegmöglichkeiten: Jemand hat zwölf Siegpunkte in einem Zug auf dem Tisch liegen, jemand hat am Ende der Runde zwölf unterschiedliche Bäume auf seinem Tableau  oder jemand ist im Besitz von zwölf gelöschten Flammen. Zu Beginn stellen aber erst einmal alle ihren Geist auf den Steinkreis, nehmen sich ihr eigenes Deck und losen aus, wer den heiligen Baum bekommt und damit anfangen darf. In der ersten Phase ziehen alle jeweils gleichzeitig vom eigenen Kartendeck, bis sie drei böse Symbole (Einzelgänger-Tiere) haben. Alternativ können wir aber schon früher aufhören zu ziehen: Wenn wir dadurch nur zwei böse Symbole aufgedeckt haben, bekommen wir einen Vorteil. Wer Mystic Vale kennt, wird sich relativ schnell zu Hause fühlen, denn das Spiel nutzt die gleiche bekannte Push-Your-Luck Mechanik.

Am Anfang haben wir zunächst neun neutrale und fünf Einzelgänger-Tiere im Deck. Nach jeder gezogenen Karte vom Nachziehstapel darf man sich zwar entscheiden, weiterzumachen, aber nach spätestens drei bösen Symbolen ist immer Schluss. Wie bei Mystic Vale gibt es aber auch hier gute Symbole (gesellige Tiere), die die bösen Symbole neutralisieren. Entscheidet man sich schon vor dem dritten bösen Symbol aufzuhören, erhält man eine Extra-Aktion in der folgenden Phase was beim Spielen als sehr wertvoll aufgefallen ist. Hat man also schon zwei schwarze Symbole liegen, KANN man weiterziehen – aber beim dritten verfällt die Bonus-Aktion.

Auf dem Tableau sind schon einige Bonus-Bäume. Unten sieht man eine fertige Zug-Reihe aus Phase 1
Auf dem Tableau sind schon einige Bonus-Bäume. Unten sieht man eine fertige Zug-Reihe aus Phase 1

Haben alle das Ziehen der Reihe beendet, beginnt Phase 2: Nun zählen alle ihre Elemente (Ressourcen) auf den Karten zusammen und können dann reihum entscheiden, welche Aktion(en) sie durchführen. Es gibt insgesamt fünf Symbole, welche die Elemente und damit die Ressourcen darstellen. Diese sind relativ selbsterklärend: Mit Sonnen kann man sich neue Karten kaufen, mit Wasser können Flammen gelöscht werden, mit Pflanzen kauft man sich Bäume. Der Wirbel lässt seinen Geist auf dem Steinkreis weiterlaufen und Siegpunkte, nun, lassen einen eventuell am Ende siegen. Spannend dabei ist, dass mehrere gleichzeitige Aktionen die Elemente nie aufgebrauchen und im Zug immer vollständig zur Verfügung stehen. Und hier wird offensichtlich, dass es von Vorteil ist, mehrere Aktionen zu haben und dass das Risiko, in Phase 1 weiter Karten zu ziehen, nur dann sinnvoll ist, wenn man unbedingt eine bestimmte Karte oder einen bestimmten Baum haben möchte. Dadurch, dass alle nacheinander an der Reihe sind, kann es natürlich passieren, dass einem vorher schon „seine“ Karte weggekauft wird oder alle Flammen gelöscht werden. Hier muss dann improvisiert oder zur Not (oder aus taktischer Überlegung) ein Magie-Fragment gekauft werden. Dieses Magie-Fragment kann in späteren Runden eingesetzt werden, um zum Beispiel ein böses Symbol beim Kartenziehen zu negieren oder einen Feuer-Waran aus dem eigenen Deck zu entfernen. Dazu später mehr in Phase 3. Jedes Mal, wenn jemand eine Karte aus der Auslage mit Sonnen kauft, wird ein Feuer-Kärtchen in den Steinkreis gelegt. Je nach Stärke der Karte hat das Feuer einen unterschiedlichen Wert. Die gekauften Karten erweitern wie gewohnt das Deck und können positive wie negative Symbole und Elemente beinhalten.

Die wunderschönen Tierkarten liegen in der Auslage zum Kauf bereit.
Die wunderschönen Tierkarten liegen in der Auslage zum Kauf bereit.

Mit dem Kauf von Bäumen als Aktion setzt ihr euch stattdessen einen permanenten Bonus. Es kann jedoch immer nur ein Baum pro Aktion gepflanzt werden, welche je nach Kosten unterschiedlich hohe Boni haben. Pflanzt man in einer der vier Ecken auf dem Tableau, erhält man entweder eine Bonusaktion oder zwei Magie-Fragmente. Ein neuer Baum muss dabei immer waage- oder senkrecht zu bereits bestehenden Bäumen angelegt werden. Entscheidet ihr euch als Aktion stattdessen für das Flammenlöschen, müsst ihr so viel Wasser-Elemente aufbringen wie die zu löschenden Plättchen an Zahlenwert haben. Und zu guter Letzt erlaubt es das Wirbel-Element, bis zu der Anzahl an gezogenen Symbolen Schritte auf dem Steinkreis voranzugehen. Überholt man dabei einen anderen Geist, kann man ihm eines seiner drei Bonusplättchen stehlen – was gerade gegen Ende des Spiels immer wichtiger wird. Auch werden auf dem Steinkreis beim Beenden des Zuges Spezialaktionen durchgeführt, sodass ihr hier die Möglichkeit habt, auch auf diese Weise zwei oder sogar drei Aktionen pro Runde durchzuführen.

Auf dem Steinkreis schreiten die Geister voran und können Extra-Aktionen auslösen
Auf dem Steinkreis schreiten die Geister voran und können Extra-Aktionen auslösen

Haben alle ihre Aktionen beendet, erfolgt die letzte Phase. Wirklich interessant ist diese Phase dadurch, dass man hier jetzt gegen den Feuerwaran Onibi antreten muss: Wir zählen nun alle verbleibenden Werte der Feuerplättchen im Steinkreis zusammen und müssen einzeln mindestens die gleiche Menge an Wasser aufbringen. Schaffen wir das nicht, bekommt man für die Anzahl an Plättchen im Steinkreis entsprechend Feuerwaran-Karten in sein Deck gemischt – welche einfach nur ein böses Symbol haben, sonst nichts, und damit das Deck vollmüllen. Anschließend werden wie beschrieben neue Feuerplättchen auf den Steinkreis gelegt und der heilige Startbaum weitergegeben. Dies wird so lange wiederholt, bis jemand gewonnen hat.

Living Forest besteht aus einer Vielzahl von Mechaniken, die wunderbar verbunden wurden und wie Zahnräder in einem Uhrwerk ineinandergreifen. Aber auch optisch ist es ein wirklich ansprechendes Spiel. Die Interaktion zwischen den Beteiligten ist auch nicht zu schwach wie so oft bei Eurogames, aber auch nicht zu hoch wie bei den eher aggressiven Ameritrash-Titeln. Auch ein bischen Glück ist mit dabei, was jedoch durch ausreichend Taktik und vorausplanendes Denken angepasst werden kann.

Die Vielzahl an Möglichkeiten und Varianten, welche zum Sieg führen können, sind eindeutig Pluspunkte. Allerdings halten wir die Klassifizierung „Familienspiel“ von Pegasus für etwas zu seicht. Klar lassen sich die Phasen und Aktionen entspannt auch von Kindern nachvollziehen, jedoch ist es fraglich, ob sich bei ihnen auch die Tiefe des Spiels manifestieren kann. Daher würden wir es fast schon eher in die Kategorie für Kenner*innen stecken. Auch das Thema des Spiels ist zeitlos und lebt vom hervorragenden Artwork, denn Fantasy und Wald sind trendy bei Brettspielsettings. Das Naturthema ist nicht neu, aber Living Forest verbindet alle Mechaniken und Elemente wirklich problemlos mit dem Thema, was es frisch und ansprechend wirken lässt. Die Geschichte hinter dem Spiel ist zwar eher stilistisches Mittel zum Zweck, gibt aber gerade auch Kindern genug Motivation und Fantasie, um den Wald aktiv zu beschützen. Für Brettspielkenner*innen wirkt sie jedoch blass und einfallslos.

Ausstattung

Zunächst müssen wir an dieser Stelle nochmal betonen, dass der absolute Pluspunkt des Spiels bei der Illustration und der künstlerischen Gestaltung liegt. Gerade die Karten sind wirklich wunderschön gezeichnet, aber auch die Bäume, Plättchen, Geister und das Tableau wirken wie aus einem Guss und sind unaufdringlich und passend abgestimmt. Die Ikonografie funktioniert sofort und die einzelnen Elemente sind klar voneinander zu unterscheiden und passen zu den jeweiligen Aktionen.

So sieht das gesamte Spielfeld kurz gegen Ende aus.
So sieht das gesamte Spielfeld kurz gegen Ende aus.

Schaut man in die Box, finden sich dort erstmal viele Pappbögen, aus der wir die etwa 150 Plättchen und restlichen Materialen stanzen. Das Ganze hat eine gute Dicke, was für eine lange Lebenszeit spricht. Auch die 130 Karten sind haptisch einwandfrei und wirken gut verarbeitet. Neben den massig vielen (58) Flammen gibt es noch den Steinkreis als kleines Spielfeld, die vier Tableaus, die als vier Jahreszeiten farblich umgesetzt sind, und die dazu passenden Geisterfigürchen. In der französischen Version waren diese Pappmarker zu dünn, was aber in der Neuauflage von Pegasus behoben wurde. Wir hatten beim Zusammenbau fast schon Probleme, es zusammenzustecken, da die Pappe sehr dick war.

Des Weiteren gibt es noch die zwölf unterschiedliche Baumplättchen in mehrfacher Ausführung und zwei clever gestaltete Halter. die man selbst zusammenbauen muss, die aber das Spielfeld an sich deutlich übersichtlicher machen. Die dort aufgedruckte Anzahl der jeweiligen Bäume in Abhängigkeit zur Spielenden-Anzahl ist für den Aufbau eine gute Hilfe. Außerdem gibt es noch zwei Tableaus für die helfenden Tiere und den Feuerwaran. Die Spielanleitung ist großzügig und übersichtlich gestaltet und vermittelt in recht kurzer Zeit ohne Verständnisprobleme die Regeln. Das Einzige was wir vermisst haben, sind mitgelieferte Tütchen zum besserem Sortieren der zahlreichen Plättchen und Karten sowie eine generelle Hilfe zur Rundenübersicht, wie es bei vielen Kennerspielen heute üblich ist.

Die Spielanleitung kommt sehr übersichtlich und ansprechend daher.
Die Spielanleitung kommt sehr übersichtlich und ansprechend daher.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Pegasus
  • Autor: Aske Christiansen
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • Sprache: Deutsch/Englisch/Französisch
  • Spieldauer: 30–60 Minuten
  • Spieler*innen-Anzahl: 1–4
  • Alter: 10+
  • Preis: 40,00 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

Fazit

Der Spielspaß ist bei Living Forest wirklich hoch. Das Regelwerk ist nicht zu komplex und einigermaßen schnell erklärbar. Die Optik und Gestaltung ist eindrucksvoll schön und alle Spielelemente deutlich zu erkennen und zu verstehen. Die großen Stärken des Titels sind aber die zahlreichen Mechaniken, die nahtlos und fast schon unscheinbar miteinander verbunden sind. Dominant dabei sind dabei ganz klar die Push-Your-Luck- und die Deckbuilding-Mechanik. Der Glücksfaktor ist zwar definitiv präsent, allerdings ist man diesem dank zusätzlicher Mechaniken, Siegbedingungen und Magie-Fragment-Jokern aber nicht schutzlos ausgesetzt. Dies führt dazu, dass jede Partie anders ist, neu gedacht werden muss und man sich auch an die anderen Personen am Tisch anpassen sollte: Die Mitspielerin gegenüber löscht jede Runde Flammen und kommt der Siegbedingung immer näher? Vielleicht sollte man schnell etwas dagegen tun!

Auch das zwei Drittel der Phasen zusammen und parallel ausgeführt werden können, ist positiv und sorgt für wenig Downtime. Und während die anderen ihre Aktionen durchführen, kann man selbst am eigenen Zug basteln und planen. Passt man nämlich nicht auf und kann am Ende den bösen Feuerwaran nicht abwehren, erhält man viele Nieten in sein Deck, was sich spürbar negativ auswirkt und einen zurückwirft. Die Wiederspielanreiz ist ebenfalls sehr hoch, da durch die unterschiedlichen Siegbedingungen eine gewisse Motivation erzeugt wird, auch mal andere Strategien auszuprobieren. Außerdem gibt es einen Solo-Modus, um direkt allein gegen den anzutreten. Dieser Modus ist deutlich dichter an der Story und erhöht vor allem die Gefahr durch das Feuer, jedoch wirkt hier der Steinkreis völlig deplatziert und auch die spannende Interaktion mit anderen geht natürlich verloren.

Welche der vier Waldgeister wird am Ende siegreich sein?
Welche der vier Waldgeister wird am Ende siegreich sein?

Zusammengefasst ist Living Forest also nicht nur optisch gelungen: Auch die klaren Regeln, das haptisch hochwertige und zahlreiche Material sowie die mannigfaltigen taktischen Möglichkeiten und Mechaniken sorgen für langen und hohen Spielspaß. Unentschlossene können das Spiel auf Boardgamearena kostenlos testen.

  • Toller Mechanik-Mix
  • Grandiose Optik
  • Gutes Spielmaterial
 

  • Balancing für Feuerkarten
  • Story etwas dünn


Artikelbilder: © Pegasus Spiele

Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Alexa Kasparek
Fotografien: Stephan Jacob
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

Über den Autor

Stephan Jacob bearbeitetStephan Jacob ist Videospielentwickler und unterrichtet Selbiges auch an Universitäten quer durch Deutschland. Er larpt seit 1999 fast ausschließlich auf Fantasy-Cons und nimmt sein Hobby leider überhaupt nicht ernst. Zu seinen größten Errungenschaften, zählt sein Mitwirken bei den Tyren Nightfire-Filmen und seine Bekanntheit als HelloKittySchield-Meme.

 

 

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