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Wie gut kenne ich die Person am Tisch und kann ich ihr vertrauen? In Mantis Falls werden wir Zeug*innen von etwas, was man lieber nicht gesehen hätte. Nun zählt nur noch eins, gemeinsam aus der Stadt entkommen – oder etwa nicht?

Irgendwann in den 1940ern in einer Stadt in den Bergen. Nebel zieht durch die Straßen. Es wird Abend und langsam wird einem bewusst, dass man vielleicht gar nicht mehr hier sein sollte. Hier auf der Straße, wenn es dunkel ist. Nach all dem bleibt aber keine andere Wahl. Es gibt keinen anderen Weg mehr zu beschreiten. Nicht nach dem, was geschehen ist; nach dem, was beobachtet  wurde. Alles, was bleibt, ist die Flucht. Allein wäre das unmöglich, zum Glück gibt es noch eine weitere Person, mit der die Flucht sicher gelingen wird. Aber irgendetwas ist seltsam…

So oder so ähnlich sollte es in den Köpfen der Spieler*innen aussehen, welche sich in das Werk von Distant Rabbit Games entführen lassen. Mit dem Spiel, welches 2020 über die Plattform Kickstarter angepriesen und bereits nach nur zwei Stunden finanziert war, haben sie sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, ein Social Deduction Game herauszubringen, welches im kleinen Kreis funktionieren soll.

Ob ihnen das gelungen ist und wie das Spiel im Allgemeinen abläuft, wird im Folgenden näher betrachtet.

Spielablauf

Grundsätzlich ist das Spielprinzip sehr strukturiert und schnell zu erlernen. Nachdem alle Personen am Tisch zufällig eine Rolle (Attentäter*in / Zeug*in) zugewiesen bekamen – wobei bei zwei Spielenden zwei Zeugen-Karten sowie eine Attentäter-Karte im Deck ist – mit Handkarten ausgestattet wurden und sich eine eigene Strategie überlegt haben, wird versucht, durch das Laufen über modulare Straßenfelder zum „Ende der Straße“ zu gelangen, wo das rettende Fluchtfahrzeug steht, um die Stadt zu verlassen.

Eine Spielrunde ist dabei in sechs Schritte untergliedert, welche von den Spieler*innen abwechselnd komplett durchgeführt werden. Dazu gehört es unter anderem, sich bewegen zu können, ein Ereignis zu ziehen, sich vorzubereiten, auf das Ereignis zu reagieren und es schließlich abzuhandeln, bevor man neue Karten zieht. Und schon ist man fertig mit dem Zug.

Besonders dabei ist jedoch, dass beide spielende Parteien auf das gezogene Ereignis reagieren dürfen. Auch wenn es vorkommen kann, dass das Ereignis verdeckt gezogen wird und es nur eine der Spielparteien kennt.

Übersichtlich doch spannend präsentiert sich Mantis Falls
Übersichtlich doch spannend präsentiert sich Mantis Falls

Dieser Rundenablauf wiederholt sich so lange, bis eine der Siegbedingungen eingetreten ist: Die Zeug*innen gewinnen, indem sie gemeinsam die Stadt verlassen, oder der*die Attentäter*in gewinnt, wenn alle anderen Charaktere sterben.

Was hier mit wenigen Sätzen den Spielablauf umreißt, wird dem Spiel so jedoch nicht wirklich gerecht, denn es gibt noch einige Facetten, welche es tiefgründig und jede Runde erneut spannend machen.

Näher betrachtet

Denn Bewegungsphase ist nicht gleich Bewegungsphase. Während in dieser Phase ein Schritt auf das nächste Straßenfeld gemacht werden kann, kann diese taktisch auch stattdessen genutzt werden, um einen Ablagestapel für „gespeicherte Energie“ nach und nach zu füllen, um so später im Spiel ausnahmsweise zwei Schritte zu gehen oder sich zu heilen.

Auch ist es möglich, mit einem „Bus“ Kartenabschnitte zu „überlaufen“ oder anderes zu tun, was jeweils von der gewählten Strategie sowie den vorhandenen Aktionskarten abhängt.  Aber Vorsicht, jede*r am Tisch hat auf diesen „Energiestapel“ Zugriff und ein richtig gewählter Abstand (vor oder sogar hinter) zu dem anderen Charakter kann spielentscheidend sein.

Auch die Möglichkeit, gemütlich mit dem Bus zu fahren, besteht, ebenso wie das Telefonieren nach Hilfe, vorausgesetzt man hat die richtige Karte auf die Hand gezogen. Für bestimmte Aktionskarten ergibt es auch Sinn, etwas Abstand zu den Mitspielenden zu lassen oder zu gewinnen, denn diese kann sich positiv auf erhaltene Effekte auswirken.

Besondere Spannung in jede Runde bringen die Ereigniskarten. Eine Ereigniskarte kann eine „Widerstandskarte“ oder aber ein „Vorfall“ sein, wobei man gegen letzteren recht wenig ausrichten, sondern sich nur auf die Effekte vorbereiten kann. Zudem gibt es beide Ereigniskartensorten als „sichtbar“ oder „unsichtbar“, sodass die Partei, welche das Ereignis gezogen hat, es offen zeigen oder aber verdeckt ablegen und über seine Inhalte lügen darf.

Dies ist schließlich auch der Punkt im Spiel, der die meiste Kommunikation bedingt.

„Was ist das Ereignis und wie gehen wir (gemeinsam) dagegen vor?“

Dabei kann über mögliche Aktionskombinationen gesprochen werden, ob man als Team (je nach entsprechender Aktionskarte) vorgeht oder einfach versucht, irgendwie allein durch die Runde zu kommen.

In diesem Spielabschnitt, bis zum Abhandeln der Aktion, kann getrickst, gelogen, getäuscht und diskutiert werden, wobei das Spiel dem Tricksen auch Grenzen setzt. Denn auch wenn über die genauen Inhalte „unsichtbarer“ Karten, die verdeckt abgelegt werden, gelogen werden darf, dürfen Rahmenparameter, beispielsweise angegebene Wunden, nicht verändert werden. Da kommt es auf die Ehrlichkeit aller Spielenden an.

So manches Ereignis wird gezogen, wenn man es gerade nicht brauchten kann.
So manches Ereignis wird gezogen, wenn man es gerade nicht brauchten kann.

Ereignisse bedingen zudem oft auch das Verteilen von Schadenspunkten, sodass es hierdurch recht schnell passieren kann, dass ein Charakter schwerer verletzt wird als andere.

Da im Grundspiel (Einstiegsvariante) alle Charaktere die gleichen Lebenspunkte haben und man vom Start her bereits eine Karte hat, die den Mitspielenden 75 % der Lebenspunkte streitig machen kann, kann es zudem schnell mal zum Ableben eines Charakters kommen.

Doch Totgesagte leben ja bekanntlich länger, sodass das Spiel einem sterbenden Charakter noch eine „letzte Chance“ gewährt, um dem Tod von der Schippe zu springen und das Spiel fortzusetzen.

Auch die Aktionskarten geben Raum für Spannung und Taktik. Grundsätzlich kann immer mindestens eine Karte gelegt werden. Weitere Karten sind nur dann möglich, wenn diese derselben Kategorie angehören.

Abwechslungsreiche Aktionsarten und Kategorien bestimmen das Spiel
Abwechslungsreiche Aktionsarten und Kategorien bestimmen das Spiel

Dadurch untergliedert sich die Hand in Kategorien, wodurch es letztlich sein kann, dass die Spielenden eine wunderbare Kartenkombination auf der Hand haben, diese aufgrund von inkompatiblen Kategorien jedoch nicht ausspielen können.

Zudem haben mache der Handkarten Bedingungen, welche an den Spielplan oder aber das Mitwirken Mitspielender geknüpft sind. Neben Mitspielenden gibt es auch noch „Verbündete“ als Karten im Spiel, welche ebenfalls durch Aktionskarten erlangt werden können. Je nach Stärke dieser „Verbündeten“ muss hierzu jedoch erst eine passende Anzahl der entsprechenden Karten gesammelt werden.

Um in das Spiel hineinzufinden, ist die Anleitung, welche einen strukturierten, nach Phasen sortieren Aufbau aufweist, eine große Hilfe. Besser allerdings ist hier wie auch in den meisten anderen Spielen: Ausprobieren!

Natürlich funktioniert das aber nur dann, wenn sich zumindest eine*r an die Anleitung gesetzt hat. Jede*r kann innerhalb weniger Spielzüge schließlich in das Spielgeschehen eintauchen und anfangen, Strategien zu verfolgen. Für den Anfang bietet das Regelwerk dafür erste Tipps und Hinweise, wie man als Neuling gut durch eine Runde kommt.

Da durch ein wiederholtes Spielen die Komplexität des Spiels auch immer weiter zunimmt und man erst bei späteren Durchgängen Möglichkeiten und Strategien entwickelt, um nicht aufzufallen oder durch reinen „Zufall“ den anderen Charakteren ein paar Lebenspunkte streitig zu machen, kann durchaus der Wunsch entstehen, eine neue Partie anzuhängen, um Weiteres auszuprobieren.

Doch nicht jede Strategie lässt sich umsetzen, denn trotz aller Planung und Taktik werden die Aktionskarten zufällig gezogen, und es ist daher Glückssache, welche Aktionskarten in der Hand landen. Hat man sich dann irgendwann an dem Grundspiel satt gespielt, wartet Mantis Falls gleich mit drei Erweiterungen auf, die nahtlos in das Spiel integriert werden können. Bei diesen handelt es sich um:

Vollmond

Eine Ergänzung des Grundspiels, die nach Möglichkeit alsbald in das Spiel aufgenommen werden sollte, da es dieses komplexer macht. Sie liefert neue Charaktere abseits von Städter*innen aus dem Grundspiel, weitere Aktionskarten sowie neue Verbündete.

Durch die neuen Aktionen und Charaktere, welche auch unterschiedliche Lebenspunkte haben, gewinnt das Spiel deutlich an Charme und verleiht den Charakteren Tiefe.

Triade

Bei Triade handelt es sich um eine Drei-Personen-Erweiterung des Grundspiels. Die hier enthaltenen Karten sind zwingend erforderlich, um einen Spielablauf zu dritt zu ermöglichen. Denn unter anderem wird eine weitere „Zeugen“-Karte beim Spielaufbau hinzugefügt, um weiterhin ein Spiel mit nur Zeug*innen zu ermöglichen.

Bei einem Spiel zu Dritt wird auch der Rundenablauf etwas verändert und es entstehen neue Regeln, da eine dritte Partei nicht direkt in die Aktionsphase eingreifen darf.

Unter der Rose

Hierbei handelt es sich um eine Erweiterung für wirklich erfahrene Spieler. Sie umfasst lediglich sieben Karten, welche jedoch das Spiel maßgeblich beeinflussen können. Durch diese Erweiterung bekommt jeder Charakter von Spielbeginn an einen individuellen „Agenten“ an die Hand, welcher von Zeit zu Zeit auftaucht und ins Spiel eingreift.

Die Hilfe des Agenten ist nicht kostenlos. Spätestens vor der Flucht aus der Stadt muss dieser durch das Ablegen einer passenden Anzahl an Aktionskarten „bezahlt“ werden. Die Erweiterung fügt Möglichkeiten der Deckmanipulation hinzu und ergänzt das Spiel um eine Ressourcenmanagement-Facette, durch welche das Spiel erheblich komplexer wird.

Ausstattung

Durch den sehr erfolgreichen Kickstarter-Auftritt hat man sich bei Distant Rabbit Games nicht lumpen lassen und dem Spiel Einiges mit auf den Weg gegeben. Neben der schlicht gehaltenen Schachtel, welche durch eine Stärke von 2mm sehr robust ist und ein Leinenfinish bekommen hat, sind die Spielkomponenten (Figuren, Wunden- und letzte-Chancen-Anzeiger) aus Holz, was dem Spiel ein qualitativ hochwertiges Aussehen verleiht.

Ein kleines Extra befindet sich zudem auf der Innenseite des Deckels für jene, die sich Mantis Falls als Stadt gern bildlich vorstellen wollen, denn hier ist eine kleine Karte der Stadt und der Umgebung eingebracht worden.

Zu den Karten, welche durch ihr allgemein schlichtes Design und die „Schreibmaschinen“-Schrift wunderbar in das beabsichtigte Noir-Setting passen, wurden direkt Kartenhüllen mitgeliefert, um sie vor Abnutzung zu schützen. Denn nichts wäre ärgerlicher, als eine Kante in der „Attentäter“-Karte, welche die Rolle sofort preisgibt.

Der Spielplan ist eine schön gestaltete Stoffauflage mit entsprechenden Bereichen für die Kartenstapel, welche ebenfalls einen hochwertigen Eindruck vermittelt. Neben dem illustrierten Regelwerk befindet sich zudem ein Aktionskartenkompendium in der Schachtel, in welchem alle vorhandenen Aktionskarten genau beschrieben werden und wie man sie in welcher Rolle am besten nutzen kann.

Als kleine und nette Ergänzung ist auf den letzten beiden Seiten ein kurzer Comic, welcher die Geschehnisse vor dem Spiel zusammenfasst und einen Einstieg liefert.

Für Ordnung sorgen die enthaltenen Stoffsäckchen
Für Ordnung sorgen die enthaltenen Stoffsäckchen

Um das gesamte Material auch gut sortiert zu bekommen, befinden sich kleine Stoffsäckchen in der Schachtel, welche den jeweiligen Kartentypen zugeordnet sind.

So befinden sich etwa die gleichen unaufdringlichen Editionssymbole auf dem Säckchen, wie auch auf den Karten. Dadurch ist es leicht, die Erweiterungen am Ende eines Spiels wieder aus dem Grundspiel auszusortieren.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Schwerkraft (Distant Rabbit Games)
  • Erscheinungsjahr: 2021
  • Sprache: Deutsch / Englisch
  • Spieldauer: 60-90 Minuten
  • Spieler*innen-Anzahl: 2 3
  • Alter: ab 14
  • Preis: 36 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon

 

Bonus/Downloadcontent

Neben dem Spiel wurde durch die erfolgreiche Finanzierung über Kickstarter auch ein offizieller Soundtrack für Mantis Falls freigeschaltet. Dieser kann über die Verlagsseite von Distant Rabbit Games oder etwa über Spotify wiedergegeben werden.

Weiterhin wird auf der Verlagsseite auch das eine oder andere Album von Spotify verlinkt, welches sich neben dem Soundtrack ebenfalls zum Eintauchen in das Spiel eignet.

Fazit

Grundsätzlich schafft Mantis Falls, was es erreichen wollte. Von der ersten Minute an misstraut man der anderen Person am Tisch und letztlich versucht man, auch wenn man selbst „nur Zeuge“ ist, dem anderen Charakter vorbereitend so viele Wunden zu verpassen, dass im Zweifel ein schneller Todesstoß gesetzt werden kann.

Leider ist es aber auch genau das, was den eigentlichen Grundgedanken des Spiels etwas zerstört. Denn zumindest bei den bisher gespielten Partien kam es nicht zu viel Kommunikation.

Jede*r am Tisch hat versucht, für sich irgendwie vorwärts zu kommen und dem anderen Charakter Wunden zu verpassen. Der Grund hierfür könnte vor allem an der Wahrscheinlichkeit liegen, mit der man mit eine*r Mörder*in am Tisch sitzt. Im Spiel zu zweit liegt die Chance bei zwei Drittel, beim Spiel zu dritt bei drei Viertel.

Da es dank seiner Regeln für den Einstieg sehr zugänglich ist, ist das Spielprinzip schnell erklärt und lässt sich nach einer kurzen Runde zum Eingewöhnen auch von allen gut spielen. Auch die zusätzlichen Erweiterungen sind durchaus sinnvoll und bereichern das Spiel.

Das Ziel, ein Social Deduction Game zu kreieren, welches im Spiel zu zweit schon Spaß macht, hat man geschafft, auch wenn es im Spiel zu Dritt nochmal ein deutliches Plus an Spannung bringt, da nicht alle Charaktere am Tisch automatisch als feindlich einzustufen sind. Hier erst gilt es wirklich herauszuarbeiten, wer einem Böses will.

Für sein Geld bekommt man mit Mantis Falls aber in jedem Fall ein qualitativ hochwertiges Spiel mit einem enormen Wiederspielwert, da keine Partie der vorherigen gleicht. Und solltet ihr jetzt Lust bekommen haben, öfter auch mal kleinere Spiele auszuprobieren, dann lohnt sich auf jeden Fall ein Blick in die Auflistung über fünf weitere Spiele, die man zu zweit spielen kann.

  • Qualitativ hochwertig
  • Spielerweiterungen schon vorhanden
  • Leicht zu lernen
 

  • Weniger kommunikativ
  • Mit dem „Feind“ zu spielen ist zu wahrscheinlich

 

Titelbild: © Schwerkraft (Distant Rabbit Games)
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Katrin Holst
Fotografien: Thomas Mottl
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

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