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Klimawandel, Hungersnöte und die Zerstörung der Umwelt, verursacht durch die Menschheit: Ist dies das Ende der Zivilisation und werden die Erdgottheiten die Welt vor den Menschen retten? Yoshimizu Eldos neues Werk ist geprägt vom Post-Anthropozän und regt zum Nachdenken an. Ist die Welt ohne uns besser dran?

Der Manga-Einzelband ist das neue Werk des Künstlers Yoshimizu Eldo, der bereits durch seinen Yakuza-Manga Ryuko und seinen Verschwörungsthriller Gamma Draconis aufgefallen und bekannt geworden ist – in der Kunstwelt dagegen wahrscheinlich eher für seine Bildhauerei. Sensibilisiert durch die Pandemie, den Klimawandel, die Abholzung der Wälder versucht er, der Erde selbst eine Stimme in diesem Diskurs zu geben.  

Handlung

Hen Kai Pan ist ein düsteres Urteil über die Menschheit. Erzürnt über die Misshandlung des Planeten, beschließen die Erdgottheiten Nila, Xu Fu, Ombiasa, Honga und Pemaju – deren Namen von Weltreligionen abgeleitet sind – ein ultimatives Urteil über das Schicksal der Menschen zu fällen. Im Zuge dieses Prozesses stellen sie fest, dass sie unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie dieses Urteil aussehen soll. Dies führt zu einem Konflikt zwischen den Gottheiten. Nila hat bereits ihr Urteil gefällt und damit begonnen, die Menschheit mithilfe ihrer Untergebenen Asura zu bestrafen. Diese ist erst der zerstörerischen Göttin ergeben, verwandelt sich aber später als Magical Girl in eine kämpferische Göttin. Nilas Ansicht nach sei die Menschheit ein Tumor, welcher sich in der Erde ausbreite und sie infiziere. Für sie müssten die Menschen und die Erde ausgerottet werden, da ohnehin keine Heilung gebe.

Jede Gottheit sieht eine andere Ursache als größtes Problem der Menschheit. Sie sind sich jedoch einig, dass das so nicht weitergehen kann, und die Menschen für ihre Taten bestraft werden müssen. Nach ergebnislosen Versuchen, die Göttin Nila zu einem Gespräch über das letzte Urteil der Menschheit anzuregen, sehen sich die Erdgottheiten gezwungen, Nila aufzuhalten. Dieses Mal erhalten Sie dabei Hilfe von Asura, die sich im Laufe der Geschichte mit dem Ausgang des Urteils beschäftigt und die Ansichten der Gottheiten hinterfragt.

Charaktere

Obwohl die Kernfrage des Mangas das Urteil über die Menschheit ist, wird sie in der Geschichte so gut wie gar nicht repräsentiert. Die Charaktere der Geschichte, bestehend aus den Erdgottheiten Nila, Xu Fu, Ombiasa, Honga und Pemaju und der kämpferischen Göttin Asura, sind inspiriert von den Weltreligionen. Sie scheinen Repräsentationen verschiedener Facetten der Natur selbst, ihrer Gedanken und Motivationen zu sein.

Schnell fällt der Leser*innenschaft auf, dass die Gottheiten, die über die Erde wachen, menschliche Züge besitzen. Diese spirituellen Wächter*innen verfügen über Stolz, Ego, rationales Denken, verursachen Konflikte und sind in der Lage zu manipulieren. Sie können aber trotzdem zu zerstörerischen Schlussfolgerungen kommen. Dies verstärkt die dringende Notwendigkeit, die unbequeme Frage nach der philosophischen Natur der menschlichen Existenz zu stellen: Verdient es die Menschheit zu überleben? Dies mag düster erscheinen, jedoch ist ein Hoffnungsschimmer zu finden, wenn auch nicht für die Menschheit, so doch zumindest für den Planeten.

Ein Manko ist die fehlende Einsicht in die Denkweisen der Gottheiten. Die Geschichte scheint erdrückt von Spiritualismus und Philosophie, da gibt es nur wenig Platz für die Entfaltung der Charaktere. Interessant wäre es, die Beweggründe der Gottheiten, die sie zu ihrem jeweiligen Urteil geführt haben, zu erläutern. Auch ist nicht sehr verständlich, was Asura dazu bringt, sich von der Göttin Nila abzuwenden und den Erdgottheiten zu helfen. Sie scheint der Menschheit sehr milde gestimmt, jedoch lässt sich im Manga nicht herauslesen, warum. Es herrschte kein Kontakt von ihr zur Menschheit, der sie hätte umstimmen können. Einzig die Unterhaltungen, die sie mit den einzelnen Erdgottheiten führt, scheinen ausschlaggebend für ihren Wandel zu sein.

Zeichenstil und Erscheinungsbild

Ein auffallendes Merkmal des Mangas ist die kulturelle Repräsentation. Die Geister stammen meist aus verschiedenen asiatischen und afrikanischen Glaubenssystemen und der Roman wechselt häufig den Schauplatz (z.B. Japan, Nordindien, Madagaskar, Arizona).

Hen Kai Pans Seiten verwenden viel weißen Raum. Der Himmel, der eigentlich bewölkt sein sollte, ist leer, und ganze Seiten sind großen, menschenleeren Landschaften wie Tundren gewidmet.

© Carlsen Manga!
© Carlsen Manga!

Am auffälligsten ist jedoch Yoshimizus Verwendung von Wasserfarben. Aquarellfarben sind die vorherrschende Darstellungsform in Hen Kai Pan. Sie werden verwendet, um die anhaltenden Auswirkungen der Zerstörung, wie bei Explosionen, zu zeigen, aber auch, um das Wunder der Wiedervereinigung darzustellen. Graustufen tragen dazu bei, die düstere Atmosphäre des Romans zu verstärken.

Nicht selten erstrecken sich Szenen über eine Doppelseite, welches den Fokus auf das Visuelle richtet. Zudem gibt es nicht viel Text und Dialog in Hen Kai Pan. In weiten Teilen trägt ausschließlich seine Kunst die Geschichte voran.

Bewundernswert ist die detaillierte Darstellung von Natur, Landschaft und Tieren, aber auch die von Ruinen und technischen und militärischen Gerätschaften. Somit wird die Schönheit der Natur der Zerstörungswut der Menschen gegenübergestellt.

Kosmotheismus und das Post-Anthropozän in Hen Kai Pan

Trotz der düsteren Aussichten, ist Hen Kai Pan kein gänzlich nihilistisches Werk. Wenn der Manga hinsichtlich der Auslöschung der Menschheit gleichgültig erscheint, dann nur, weil eine Sichtweise vertreten wird, in der die Menschheit nicht im Mittelpunkt des Universums steht. Besonders nach der Dreifachkatastrophe im März 2011, die zu einem katastrophalen Unfall im japanischen Kernkraftwerk Fukushima geführt hat, haben sich Künstler*innen in Japan mit möglichen zukünftigen Gesellschaftsformen und der Frage, was nach einer solchen Katastrophe zu erwarten ist, auseinandergesetzt.

Der Ausblick ist dabei selten positiv. Die Auseinandersetzung führte zu skurriler, dystopischer, postapokalyptischer Science-Fiction, HorrorRoboter-Romanen und soziopolitischer Satire. Vermehrt kann wahrgenommen werden, dass der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt steht und durch seine Fehler sein Recht, am Leben zu bleiben, verwirkt hat -– nicht selten führen diverse Desaster und die schädlichen Gegenmaßnahmen zur endgültigen Auslöschung der Gattung. Die überwiegende Botschaft in solchen Werken ist jedoch, dass das Leben sich durchsetzt. Trotz der nahezu aussichtslosen Situation der Menschheit wird ein Gefühl der Erleichterung und Beruhigung vermittelt.[1] Hen Kai Pan ist der gleichen Kategorie – nämlich den postapokalyptischen Romanen – zuzuordnen.

Die Theorie des Hen Kai Pan – das Ein und Alles – tauchte bereits in den Schriften von Herder, Hamann, Goethe, Schelling, Lessing und andere auf. Der Ursprung dieses Gedankens wird in Ralph Cudworths (1617-1688) Buch The True Intellectual System of the Universe vermutet. Die Hypothese ist, dass „der Monotheismus allen Religionen einschließlich des Atheismus selbst gemeinsam ist. Was allen gemeinsam ist, muss wahr sein und umgekehrt.“ Dies war die Grundannahme der Epistemologie, die „der Idee der Natur und dem Begriff der natürlichen Religion zugrunde lag.“ Cudworth erklärt die Herkunft dieser Theorie im alten Ägypten. Der erste Gott (to Hen) und das Universum (to Pan) seien synonyme Ausdrücke, „weil die erste Höchste Gottheit alle Dinge enthält und sich durch alle Dinge hin ausbreitet.“ Cudworth stellte die „All-Einheitslehre des Hen-kai-Pan als die Quintessenz der ägyptischen Geheimtheologie – und zugleich der allen Religionen gemeinsam zugrundeliegenden natürlichen Theologie“ dar. [2]

Die harten Fakten:

  • Verlag: Carlsen Verlag
  • Autor: Eldo Yoshimizu
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Taschenbuch 210mm (Höhe) x 146mm (Breite)
  • Seitenanzahl: 188
  • Preis: 16,00 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

Fazit

Hen Kai Pan ist eine nachdenkliche Betrachtung, die manchmal nicht detailliert erklärt, aber durchweg atemberaubend und schön anzusehen ist. Die Illustrationen allein sind bereits ein Argument, sich diesem Werk zu widmen. Man muss den Manga auf sich wirken lassen und nicht über die textlosen Stellen hinweg blättern. Die Beschäftigung mit einem äußerst aktuellen Thema auf einer philosophischen und spirituellen Art und Weise dieses Ausmaßes ist in zeitgenössischen Mangas doch eher selten anzutreffen. Um so schöner ist es, ein Werk zu lesen, das zum Nachdenken und zur eigenen Recherche verschiedener Themen anregt.

Durch die eher düsteren Zukunftsaussichten der Menschheit, überragt die Schönheit der Natur und somit ist es beruhigend, dass, auch wenn die Menschen keine zukünftigen Bewohner*innen der Erde sind, das Leben nicht aufhört zu existieren und die Erde somit eine Chance bekommt zu heilen und vielleicht sogar nochmal von vorne anzufangen.

  • Philosophische Themen
  • Wunderschöne Illustrationen
  • Regt zum Nachdenken an
 

  • Keine detaillierten Motive der Charaktere

 

Fußnoten:

[1] Gebhardt, Lisette (2021): Japanische Literatur nach Fukushima. EB-Verlag.
[2] Neugebauer-Wölk, Monika; Zaunstöck, Holger (Hrsg.) (1999): Aufklärung und Esoterik. Felix Meiner Verlag.

 

Artikelbilder: Carlsen Verlag
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Jessica Albert
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

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