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Es ist gemeinhin bekannt, dass es mit jeder neuen Star Trek-Serie auch eine Protagonistin gibt, die nicht namentlich im Vorspann erwähnt wird und dennoch die Show stehlen kann: das Raumschiff. Mit einem neuen Quellenbuch will Modiphius den stillen Heldinnen des Star Trek-Universums nun die gebührende Anerkennung erweisen.

Die Besatzung von Sternenflottenraumschiffen entwickelt im Laufe der Zeit enge Beziehungen zu ihren Raumschiffen. Man denke hierbei an Scotty und seine Liebe zur USS Enterprise von Captain Kirk oder Paul Stamets, welcher in Discovery mit dem Schiff verschmilzt, um durch das Myzel-Netzwerk zu steuern. Diese engen Verbindungen sind nicht verwunderlich. Schließlich ist ein Raumschiff nicht nur der Arbeitsplatz der Offizier*innen im All, sondern gleichermaßen Freizeitort und Heimat für einen selbst wie die eigene Familie. Und dies für viele Jahre, während neues Leben entdeckt und neue Welten erkundet werden.

Das kürzlich erschienene Quellenbuch von Modiphius bezieht sich mit seinem Titel auf die Sternenflotten-Werften im Mars-Orbit und legt inhaltlich vor allem Wert auf eine detaillierte Auflistung von bestehenden Schiffstypen, aber auch Regeln zum Erstellen völlig neuer Raumschiffe. Dazu gesellen sich Informationen zum All-Tag, zu wichtigen Ressourcen für Weltraumfahrer*innen und zur Design-Geschichte der Sternenflotte. Ob das reicht, um selbst (Plasma-)Feuer und Flamme für ein bestimmtes Schiff zu werden, klärt dieser Test.

Starfleets Legacy – Eine kurze Sternenflotten-Biografie

Mit Utopia Planitia erweitert sich der Star Trek Adventures-Kanon um die Serien Picard und Lower Decks, wie auch das bereits seit einem Jahrzehnt laufende MMORPG Star Trek Online, und reicht somit bis ins Jahr 2410. Mit den Anfängen der Sternenflotte im Jahr 2150 fällt dem ersten Kapitel die Aufgabe zu, fast 300 Jahre fiktiver Geschichte gerafft wiederzugeben.

Als Lehrmeister durch die Geschichte der Sternenflotte führt Arnitol Salaya. In einer Art Memorandum für potenzielle Mitgliedswelten wird erklärt, wie aus den zerstrittenen Nationen der Erde nach Ende des dritten Weltkrieges eine vereinigte Erde wurde, welche durch Zefram Cochranes Warp-Flüge Kontakt mit den Vulkaniern herstellte.

Die drei bekanntesten Epochen des Star Trek-Universums werden nacheinander besprochen. Das größte Augenmerk liegt dabei klar auf den Anfangsjahren um Captain Archer und die Crew der NX-Enterprise sowie den romulanischen Kriegen. Dies erscheint sinnvoll, da viele der Informationen, Ereignisse und Akteure in der Serie nur angeschnitten wurden und somit Licht ins Dunkel gebracht wird.

Ein Kapitel zur Ära von Pike, Kirk und Kompagnons fällt, aufgrund seiner Omni-Präsenz im Grundregelwerk, zurecht kurz aus. Dafür ist das Kapitel zum 24. Jahrhundert eine Goldgrube – auch thematisch – für die Autoren, da die Föderation im Zuge der Angriffe der Borg oder des Dominions deutlich mehr und vor allem unterschiedlichere Raumschiffe entwickelt. Dabei werden außerdem schöne Lösungen gefunden, die Budgetrestriktionen der Serien der 90er-Jahre sternenflottengeschichtlich zu erklären.

Mit einem Ausblick auf das 25. Jahrhundert und neue Technologien, wie einem Transwarp-Antrieb, schließt die Geschichtsstunde mit einem insgesamt guten Überblick. Mitunter weniger über die eigentliche Geschichte, aber vor allem über Neuerungen an Sternenflotten-Raumschiffen im Laufe der Jahrhunderte. Nette Dreingaben, wie etwa ein Ratgeber „Essential Viewing“, für Abenteuer, die sich um das eigene Raumschiff drehen, gibt es außerdem.

Utopia Planitia hebt immer wieder die Kontinuitäten der Sternenflotte hervor, nicht nur bei der Namensvergabe der Flagschiffe.

Starfleet Operations – Einmal mit Profis

Auf den ersten Blick ungewöhnlich bei seinem Titel, beschäftigt sich das Kapitel „Starfleet Operations“ erstmal wenig mit der Arbeit als Sternenflotten-Offizier*in. Es legt den Fokus vielmehr auf alltägliche Arbeiten und mögliche Handlungen der SC und ermutigt mit diversen Fragen zum Erstellen einer ausgeprägteren Charakterhintergrundgeschichte. Dabei geht es in kleinen Teilen um Dienstpflichten, vielmehr aber um Möglichkeiten der Erholung auf einem Raumschiff oder Zufallstabellen für Hobbys und Sportarten, welchen der Charakter nachgehen kann.

Die sonst sehr sinnig platzierten Infotafeln nehmen hier etwas überhand und hätten sicherlich in ein eigenes Unterkapitel transferiert werden können. So müssen Lesende von Arbeiten auf der Brücke zu einem zweiseitigen Exkurs über das Brückendesigns von Sternenflottenschiffen springen, landen dann kurz bei Freizeitaktivitäten, die jedoch sofort von großen Infotafeln unterbrochen werden, welche die Computergeschichte der Föderation näher erläutern. Dazwischen sind wiederum verschiedene Aktionen und Regeln zum Bedienen von Computern aufgelistet. Die führt zu häufigem Hin- und Herspringen zwischen den Texten, da es sich zum Teil um sehr grundverschiedene Themen handelt.

Die vorgestellten Orte eines Schiffes sind jedoch detailliert für jede Epoche beschrieben und bieten Möglichkeiten an, wie sie zur Charakterentwicklung und zum Vorantreiben eines Abenteuers genutzt werden können. Dabei wird eine Vielzahl abgedeckt: von Brücke und Krankenstation hin zu Offizier*innen-Messen und Kampfsportplätzen.

Die Beschreibung von Antriebs- und Maschinensystemen ist vermutlich eine der detailliertesten, die es in Star Trek Adventures-Büchern bisher gegeben hat und lässt keine Wünsche offen, wenn es um Material für „Technobabble“ – also das plausibel klingende Referieren von Pseudo-Wissenschaft im Rahmen der jeweiligen Sci-Fi-Welt – geht. Trotz ihrer verwirrenden Anordnung ist es sinnvoll, die Entwicklung von Technologie in Infotafeln querschnittartig wiederzugeben. Die Zufallstabellen geben schnelle Hilfen an die Hand, einen Abenteuer-Aufhänger zu generieren, wenn keine Zeit für genügend Vorbereitung war.

Eine Auflistung der gängigsten Ressourcen wie etwa Dilithium, Deuterium oder Latinum erfolgt ebenfalls, wie auch die Einbindung von Ressourcenknappheit in ein Abenteuer. Dabei geht es nicht nur um spröde wirkende Abbaurechts-Verhandlungen, sondern auch um die Dilemmata, dringend benötigte Ressourcen abzubauen, welche auf einem bewohnten Planeten zu finden sind. Daran anschließend fällt auch ein Abschnitt zum Abenteuer-Typus der Bergung- und Wiedergewinnungs-Operationen samt eigener einleitender Szenarien.

Design Bureau – Die Kunst des Bauens

Schlicht und ergreifend „Design Bureau“ betitelt, beschäftigt sich das dritte Kapitel mit dem Konzipieren von eigenen Raumschiffen. Es begleitet Gruppen dabei, kooperativ und vom ersten Schott an, sich ein neues Zuhause zwischen den Sternen zu schaffen. Dies fängt bei logischen Aspekten, wie der Größe, dem Baujahr und den angedachten wie tatsächlich absolvierten Missionen an, lässt aber auch „charakterliche“ Aspekte nicht zu kurz kommen. So gibt es eine große Tabelle und einen erklärenden Text, wie kleine Eigenheiten, etwa das Quietschen der Turbolift-Türen oder die wechselnde Stimme des Computers, Möglichkeiten sein können, Wiedererkennungswert und Verbindungen zwischen der Besatzung und dem Schiff zu erschaffen.

Regeltechnisch starten werftwillige Gruppen mit einer, je nach Epoche unterschiedlichen, Anzahl von System- und Abteilungspunkten, welche anschließend ausgegeben werden können. Die Systempunkte repräsentieren dabei die Spezialisierungen des Schiffes, die Abteilungspunkte klären die Rolle, die das Schiff in der Flotte einnimmt und welches Personal vor allem darauf stationiert ist. Sind diese verteilt, geben die Bewaffnung, Talente, Fertigkeiten sowie ein Missionsprofil dem eigenen Schiff den letzten Schliff.

Die Charaktererstellung geht dabei ähnlich modular, jedoch auch ähnlich einfach und intuitiv von der Hand, wie sie es bereits bei Sternenflotten-Mitgliedern war, schafft mit der Regelerweiterung aber deutlich mehr spielerische Vielfalt. Denn nicht nur Raumschiffe können erstellt werden, sondern ebenso Shuttles, aber auch eigene Raumstationen. Letztere waren bisher abseits weniger Beispiele wie der Narendra Station oder Deep Space Nine selten zu sehen. Nun kann mit elf neuen Profilen aus einer leblosen Duranium-Konstruktion im All beispielsweise eine Heimat für eine Horde verwaltender Bürokrat*innen oder abgebrühter Grenz-Sheriffs werden. Dabei ist natürlich nicht alles neu im Design Bureau. Vielmehr werden bereits bestehende Inhalte wie die Schiffsprofile oder Waffensysteme mit neuen Inhalten, wie der Schiffserstellung, verwoben.

Die heilige Dreifaltigkeit für Utopia Planitia: Raumschiffe, Raumstationen und Shuttles machen fast die Hälfte des Buches aus und lassen sich mittels diesem erstmals komplett selbst erstellen.

Federation Spaceframes – Ausführliche Marktanalyse

Das Herzstück von Utopia Planitia ist ohne Frage die Auflistung aller momentan spielbaren Raumschiff-Klassen, was immerhin stolze 70 Stück sind. Nach der jeweiligen Ära aufgelistet, bekommt jedes Schiff zwei Seiten Platz. Auf der ersten wird ein Überblick gegeben und steckbriefartig erfahren Lesende, was das Schiff ausmacht und was seine Werte sind oder wonach Schiffe jener Klasse benannt werden. Die zweite Seite stellt ein Schwesterschiff vor, welches sich besonders verdient gemacht hat und über leicht veränderte Fähigkeiten verfügt. Dazu wird die Chronik des Schiffes dargelegt, die als Abenteuer- oder Kampagnenaufhänger verwendet werden kann.

So erfahren Lesende beispielsweise über die FX-Nimitz, ein Schiff der Intrepid-Klasse aus der Archer-Ära, dass es mit vulkanischer Unterstützung aufgewertete Sensoren bekam und am tiefsten in romulanisches Gebiet vordrang. Oder die USS Pathfinder, das Typschiff der Pathfinder-Klasse, welches unter Admiral Tuvok die Dyson-Sphäre erkundete und deshalb mit größeren wissenschaftlichen Laboratorien ausgestattet ist. So bekommen die Schiffe einen weiteren lebendigen Zusatz, und suchenden Runden fällt ihre Entscheidung vielleicht leichter.

Von den 70 Raumschiffen, Shuttles und Stationen sind jedoch nur knapp die Hälfte wirklich neu. Der Rest ist ein „Best-Of“, was seit 2017 zuerst im Grundregelwerk, dann häppchenweise in den Erweiterungs- und Geschichtenbänden erschien. Die „Flotte“ an einem Ort zu sammeln, ergibt Sinn, spart Nachschlagen, ist aber – trotz neuer Grafiken und leicht veränderter Werte – altes Dilithium in neuen Warpantrieben.

Der USS Gagarin war nur ein kurzer Auftritt in Discovery vergönnt. Mit Utopia Planitia ändert sich das. Sie wird als eines der verdientesten Schiffe der Shepard-Klasse eigens vorgestellt.

Gamemastering – Erweiterte Regeln und Mission Briefs

Abgeschlossen wird der Band von einigen Seiten zu erweiterten Regeln und „Mission Briefs“. Die Extraregeln befassen sich allesamt mit Spezialfällen, etwa dem Zusammenflicken von Technik, Naturphänomenen, die sich im Raumkampf zum Vor- oder Nachteil entwickeln können, sowie der Wartung von Schiffstechnik. Dies sind keine Regeln, die sich nicht auch szenisch darstellen ließen, jedoch nette Gimmicks, die auch aus alltäglichen Aufgaben eine Herausforderung machen können. Vor allem sind sie ein nettes Zeichen der Entwickler*innen, welche diese Regeln in Rückbezug auf Anmerkungen von Spielenden geringfügig modifizierten oder direkt einfügten.

Ein praktisches Ausspielen der Schiffe ermöglichen außerdem zehn der mittlerweile etablierten Missionsbriefings. Auf einer Seite werden Ausgangssituation, Konflikt, wichtige Figuren, eine Auflösung eines Kurzszenarios wie auch mögliche B-Plots geliefert. Diese treffen alle möglichen Stimmungen vom skurrilen Aufwachen der Besatzung in einem außerirdischen Schiffsmuseum hin zu klaustrophobischen Horror-Szenarien, welche großteils in den Jefferies-Röhren eines Raumschiffes stattfinden. Hier dürfen keine fertigen Abenteuerbände erwartet werden, aber eine Menge solider Grundgerüste für spannende Abenteuer in den nicht ganz so unendlichen Weiten der eigenen vier Raumschiff-Wände.

Erscheinungsbild

Mit seinem überarbeiteten Layout sieht Utopia Planitia aus wie eine Brückenkonsole aus den Filmen mit der Original-Crew um Kirk, McCoy und Spock. Es handelt sich also weiterhin klar erkennbar um das LCARS-System, welches in den späteren Serien als Darstellungsform fungiert, jedoch mit dominierenden Grün- sowie Pastell-Tönen. Dank eines Indexes lassen sich die verschiedenen Kapitel schnell finden. Jedoch sind die Kapitel selbst, allen voran jenes zu Starfleet Operations, unübersichtlich und mit Infotafeln und Zusatztabellen überfrachtet, was den Lesefluss vielfach nicht nur stört, sondern völlig unterbricht.

Viele hochwertige Illustrationen runden die ansonsten gut lesbaren Texte ab. Erstmals wurde außerdem mehr auf 3D-Animation, etwa bei Modellen von verschiedenen Schiffstypen, sowie schematische Brückenzeichnungen gesetzt.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Modiphius Entertainment
  • Autor*in(nen): Michael Dismuke, Jim Johnson, John Kennedy et. al.
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • Sprache: Englisch
  • Format: Print und PDF
  • Seitenanzahl: 253
  • ISBN: 978-1-80281-032-5
  • Preis: 52,60 EUR (Print), 18,00 USD (PDF)
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, DriveThruRPG

 

Bonus/Downloadcontent

Wer von Missionsbriefings angetan ist, welche jedoch nur einen kleinen Teil dieses Erweiterungsbandes ausmachen, findet auf DriveThruRPG gut 80 Seiten kostenlos verfügbarer Abenteuer-Aufhänger.

Fazit

Utopia Planitia ist ein solider Erweiterungsband. Trotz eines mitunter kniffligen Layouts sind die Informationen zur Geschichte als auch zum Leben in der Sternenflotte unterhaltsam und detailreich aufbereitet. Mit langen Listen von Weltraum-Ressourcen hin zu Zufallstabellen für Wartungsarbeiten und ihre Folgen ist Utopia Planitia vor allem etwas für die Detailverliebten.

Mit der Raumschifferstellung gelingt eine schöne Erweiterung, welche zum Gefühl beiträgt, dass das Schiff nicht nur ein lebloser Gegensand, sondern ein eigens kreierter Charakter mit Persönlichkeit ist. Mit der Raumstationserstellung erschließt sich weiterführend ein völlig neues Kapitel in der Kampagnengestaltung.

Die Schiffsauflistung, die über ein Drittel des Buches ausmacht, führt anschaulich und mit schönen 3D-Modellen die Schwächen und Stärken eines Schiffes sowie bekannte Namenvertreterinnen vor Augen. Großes Manko bleibt jedoch, dass nur die Hälfte der Schiffe neu ist und die andere Hälfte „Refits“ bereits bestehenden Materials sind, die nur mit geringfügig anderen Werten aufwarten können. Aufgrund der Omni-Präsenz des Kapitels im Buch ein recht großer Wehrmutstropfen für nutzenbedachte Käufer*innen. Sonderregeln und Missionsbriefings sind gelungen, bleiben aber Dreingaben.

Somit bleibt Utopia Planitia eher ein Werk für detailversessene Vervollständiger*innen, die jedes Buch haben möchten, als ein Essential. Vieles ist bereits in den gelungenen Quellenbüchern zu den verschiedenen Abteilungen oder Quadranten zu finden. Für 35 neue Schiffe sowie einige zusätzlicher Regeln ist der (zumindest in der Print-Fassung) hohe Preis von 50 Euro nur schwerlich zu rechtfertigen.

 

  • Über 70 Raumschiffe, Shuttles und Stationen
  • Informationen zur Geschichte und zum Leben in der Sternenflotte
  • Solides Regelgerüst zur Erstellung eigener Raumschiffe und Stationen
 

  • 35 Schiffe bereits bekannt und fast 1:1 übernommen
  • Viele eingeschobene Tafeln und Tabellen erschweren Lesbarkeit

 

Artikelbilder: © Modiphius Entertainment
Layout und Satz: Annika Lewin
Lektorat: Rick Davids
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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