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Seit neun Jahren segelt die Demeter von Varna nach Whitby. Das Segellarp wurde seit 2015 zehn Mal durchgeführt. Wie verändert sich ein Larp über die Jahre? Worin liegt der Reiz, ein Spiel so oft zu veranstalten? Und wie unterscheiden sich internationale Runs von deutschsprachigen?

Es ist neun Jahre her, seit Fabian Geuß über das Segellarp „Demeter“ berichtete. Den Erfahrungsbericht über die erste Fahrt der Demeter findet man hier. Im Herbst 2024 ist nun der elfte Run des Spieles angesagt. Doch auch ein Larp verändert sich über die Jahre.

Triggerwarnungen

Horror, Tod, Blut

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Das Setting

Auf der Pippilotta fanden auch schon vor Demeter Larps statt (Bild: © JP Bichard)

Im Jahr 1897 fährt das Handelsschiff Demeter von Varna, Bulgarien, in Richtung England. Die ganze Fahrt scheint verfolgt von düsteren Omen und seltsamen Geschehnissen; die Passagiere und Crew verfallen alle langsam dem Wahnsinn.

Die Geschichte orientiert sich an der Fahrt der Demeter aus Bram Stokers Dracula. Im Larp tauchen Vampire jedoch nur sehr am Rande auf, vielmehr geht es um die Themen, die den Mythos umranken. Das Spiel arbeitet mit Horrorelementen, Mystik und Aberglaube – es gibt kaum NSCs, im Zentrum stehen die Spielercharaktere, ihre Beziehungen und Hintergründe. Und von Anfang an ist klar: Wenn das Schiff die britische Küste erreicht, wird keine lebende Seele mehr an Bord sein.

OT spielt das komplette Larp auf dem Schoner „Pippilotta“, einem Traditionsschiff, welches darauf ausgelegt ist, Menschen historisches Segeln näher zu bringen. Abgelegt wird in Kappeln, wohin nach einer viertägigen Rundfahrt auch wieder zurückgekehrt wird. Die genaue Route hängt von Witterungsbedingungen ab. Zu gut dreißig Spielenden kommen Spielleitung, Küche, sowie OT-Skipper und Crew, die beim tatsächlichen Segeln helfen.

Genretechnisch kann das Spiel zu internationalem Nordic- oder Modern-Larp gezählt werden – Begriffe, die in den Anfängen des Spiels im deutschsprachigen Raum noch kaum bekannt waren.

Auf internationalen Gewässern

In den Grundzügen ist das Spiel seit dem ersten Run 2015 immer noch das gleiche: Die Besatzung der Demeter und ihre Gäste überleben die Überfahrt nach England nicht. Es wird mit dem unerklärlichen, seltsamen und nicht greifbaren Bösen gespielt, ohne dass es einen klar verfolgbaren Plot mit Rätseln und eine eindeutige Lösung gibt. Über die zweieinhalb bespielten Tage kommen immer düsterere Dinge ans Licht und die Figuren zerstören sich gegenseitig.

Das erste Spiel war zwar auf Deutsch, inzwischen werden die meisten Runs jedoch auf Englisch gespielt. Die meisten Spielenden kommen aus Europa, viele aus den näheren Ländern wie Deutschland, Dänemark oder den Niederlanden. Wie jedes Larp mit größerem Einzugsgebiet, treffen auch hier unterschiedliche Spielkulturen aufeinander. Das Designdokument und Workshops nehmen einen jedoch gut an die Hand, um einen gemeinsamen Konsens zu finden.

Auch wenn die Charaktere die gleichen bleiben, verändern sie sich durch Überarbeitungen und eine andere Besetzung (Bild: © Kai Mattern)

Mit der Übersetzung der Charaktere veränderte sich aber auch vieles. „Eigentlich verändern sich die Charaktere jeden Run“, erzählt Steve Deutsch (he/they), der als einziges Orgamitglied von Anfang an bis heute immer dabei ist.

In der ersten Durchführung wurden die Rollen nach Wunsch der Spielenden geschrieben. Inzwischen sind es feststehende Rollen mit verknüpften Hintergründen, welche auf bei der Anmeldung angegebenen Präferenzen gecastet werden.

„Wir haben auch viel überarbeitet. So sind zum Beispiel rassistische Klischees in Hintergründen weggefallen und bei fast allen Rollen ist es egal, als was für ein Geschlecht sie bespielt werden.“ Sexismus und Queerfeindlichkeit sind explizit kein Thema des Spiels, es kann also auch weibliche Matrosinnen oder Geistliche geben.

Auch sind die bespielten Themen in möglichst vielen Hintergründen untergebracht. Das Spiel soll auch funktionieren, wenn jemand ausfällt. Die Rollen hängen also nicht davon ab, wie andere ihre Figur spielen. So entwickeln sich auch jedes Mal andere Geschichten. Das Larp ist stark spielergetrieben und abgesehen von ein paar Fixpunkten und dem unausweichlichen Ende ist sehr frei, was genau passiert.

Das Spiel wächst mit

Da das Spiel in der Nebensaison stattfindet, trägt auch die Kälte zu der düsteren Stimmung bei (© Nadina Dobrowolska)

Auch Veränderungen in der Orga haben unterschiedlichen Einfluss auf das Spiel. „Aktuell sind zum Beispiel einige Leute mit einem Theaterhintergrund dabei und geben dadurch nochmals eine andere Perspektive auf das Spiel“, so Steve. Die Organisation der ersten zwei Runs lief unter dem Namen „Operation Brainfuck“, später wurde das Spiel von Dziobak übernommen und wird seit 2017 von Sailing4Adventure veranstaltet.

„Man lernt immer dazu“, erzählt Steve. „Am Anfang hatten wir keine klare Aktstruktur. Wir haben aber schnell gemerkt, dass man das Gefühl von Horror und Angst nicht über drei Tage konstant aufrecht halten kann.“

Heute wird das Spiel in Akte aufgeteilt, welchen allen eine klare Stimmung zugeordnet ist: Weiße Akte sind unbeschwert und leicht, in grauen steigt die düstere Stimmung und Spannung bis hin zum letzten, schwarzen Akt, in welchem alles zugrunde geht. So können alle gemeinsam auf eine bestimmte Stimmung und Spannungskurve hinspielen.

Die Akte dienen auch dazu, klare Zeitsprünge zu signalisieren. „Es macht auch die Charakterentwicklungen plausibler“, sagt Steve. „Mit Zeitsprüngen macht es auch Sinn, dass die Charaktere sich verändern und ihre Geschichte vorankommt.“ Hier gäbe es aber zum Beispiel auch Verbesserungspotenzial für den nächsten Run: „Wir brauchen unbedingt einen Kalender, damit allen klar ist, wie viel Zeit vergangen ist. Das ist ein Beispiel, wie das Spiel mit der Zeit weiterwächst. Wir merken, wenn Dinge fehlen und gehen auf Spieler*innenfeedback ein.“

Auch haben sich die Horrorelemente verändert. Heute arbeitet das Spiel viel damit, gemeinsam eine Stimmung zu erzeugen, in dem alle das gemeinsame Unwohlsein hochspielen, sei es durch Geschichten oder eben die genannte Aktstruktur. Die Workshops leiten dazu an, lieber alleine unterwegs zu sein im Dunkeln und sich auch vor kleinen Elementen zu gruseln. „Früher hatten wir viele ‚Geisterbahneffekte‘, die im Nachhinein etwas trashig wirken“, erzählt Steve. „Wir hatten zum Beispiel Gummiratten oder einen ferngesteuerten Skorpion. Von diesen eher technischen Effekten ist kaum etwas übriggeblieben.“

Und warum macht man das ganze zehn Mal? „Weil ich Lust habe zu sehen, wie sich das Spiel durch unterschiedliche Leute verändert“, meint Steve. „Als Orga ist es auch entspannt, ein funktionierendes Spiel weiter zu veranstalten. Es gibt Stellschrauben, aber große Dinge muss man nicht mehr bewegen“, erzählt Steve. Beim ersten Run habe sich die Orga ziemlich verausgabt. „Es gibt dieses Klischee, dass man nur mit Orgaburnout etwas richtig gemacht hat. Obwohl das ja eigentlich ein schlechtes Zeichen ist, niemand sollte sich über seine Grenzen verausgaben.“

Aber was ist mit dem Geld?

Die Stimmung an Bord trägt mehr zum Setting bei als Jumpscares (Bild: © Kai Mattern)

Ticketpreise für Larps sind einen eigenen Artikel wert. In verschiedenen Bereichen der Szene herrschen nach wie vor sehr unterschiedliche Erwartungen. Mit 550 Euro gehört Demeter definitiv zu den teureren Spielen, ist jedoch vergleichbar mit anderen internationalen Spielen, wie College of Wizardry oder Daemon.

„Ich habe keine Lust, mich dafür zu rechtfertigen“, meint Steve dazu. „Ja, das Spiel macht Gewinn, aber reich wird niemand davon.“ Wenn man den Preis mit einer „normalen“ viertägigen Rundfahrt auf demselben Schiff vergleicht, kommt man auf einen ähnlichen Betrag – ohne Larp und Essen.

Es ist auch wichtig, sich vor Augen zu halten, dass nur weil eine Orga kleine Beträge an einem Larp verdient, das nicht heißt, dass dies den Aufwand deckt, ein solches Spiel auf die Beine zu stellen. Nicht alle haben die Ressourcen, ein Larp komplett in der Freizeit zu organisieren. Im Gegenteil – wenn Geld da ist, ermöglicht das einer Orga, mehr Zeit darin zu investieren, ein tolles Erlebnis zu bieten.

„Ich finde es auch wichtig zu sagen, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, dass wir solche Dinge auf dem Schiff überhaupt machen dürfen“, sagt Steve. „Es gibt immer weniger Traditionsschiffe in Deutschland, da die Vorschriften schwerer werden. Es darf zum Beispiel niemand an Bord Geld verdienen, Skipper und Bootsleute machen das alles ehrenamtlich. Und wir sind sehr dankbar, immer wieder auf die Pippilotta zurückkehren zu dürfen.“

Erfahrungsbericht

Von Run 10 sind noch keine Bilder veröffentlicht, die Bilder aus diesem Artikel stammen aus älteren Runs (Bild: © Nadina Dobrowolska)

Wie ist das Spiel heute? Ich war im November auf Run 10, nachdem ich das Spiel schon mehrere Jahre verfolgt hatte, es jedoch nie geschafft hatte teilzunehmen. Man merkt, dass das Spiel schon so lange existiert: Alles ist sehr organisiert und läuft nach einem klaren Ablauf, auch wenn die Route aufgrund von Überschwemmungen kurz davor kurzfristig geändert werden muss.

Nach relativ kurzen Workshops zu Mechaniken, Verknüpfungen und IT Gruppen – ich war als Matrose mit dabei – ging es los. Es ist dunkel, das Schiff liegt ruhig im Hafen. Erste Wachen werden eingeteilt, ich stehe alleine auf Deck und lasse die Stimmung erstmal wirken. Mit dem leisen Plätschern des Wassers, der Kälte, die Mitte November durch sämtliche Schichten beißt, und dem Tee, den mir ein alter Freund in die Hand drückt, kommt die Stimmung von ganz alleine. Irgendetwas stimmt nicht, die Angst sitzt einem jetzt schon im Nacken.

So geht es weiter, wir singen Shanties, erzählen uns Geschichten von Seeungeheuern und sind alle froh, als wir bei Tageslicht zum ersten mal Segel setzen. So zieht sich das Spiel weiter zwischen unheimlichen Dingen, die auftauchen, und düsteren Omen im einen Akt, unschuldig tragischer Romantik, Seemannsgarn und Delfinen im anderen. Die OT-Crew führt uns in die Grundlagen des Segelns ein.

Als absolute Landratte – ich bin in den Alpen aufgewachsen – macht nur schon auf dem Schiff zu sein die Hälfte aus. Während ich mich sonst in Spielen von einer dramatischen Szene in die andere werfe, mache ich zum ersten mal die Erfahrung, einfach eine Stunde auf dem Bugspriet zu sitzen und „nichts“ zu tun.

Die Tragik kommt natürlich auch nicht zu kurz: Die Konflikte steigern sich immer weiter hoch und das unausweichliche Ende rückt näher. In den kurzen OT Pausen zwischen den Akten wird laufend kalibriert und alles kumuliert im letzten Akt.

Es wird viel mit buntem Licht und Musik als Stimmung gearbeitet, das Ziel gemeinsam eine Stimmung zu erzeugen funktioniert gut. Mein einziger Kritikpunkt ist, dass es durch die vielen unterschiedlichen Hintergründe etwas überladen sein kann. Alle Charaktere bringen ihre komplett eigene, oft traumatische Geschichte mit, was es teilweise erschwert, sich auf andere einzulassen. Was hingegen überhaupt nicht stört, ist, dass es keinen einzelnen geradlinigen Plot gibt, sondern mehr Input aus dem man wählen kann, ob man Lust hat, darauf zu spielen.

Ebenso waren mir die ca. 15-minütigen OT-Pausen nach jedem Akt persönlich zu viel, da ich selbst bei Zeitsprüngen lieber immersiv durchspiele. Es gibt jedoch andere Teilnehmende, die das als sehr positiv bezeichneten, weil das kurze Aufatmen die Möglichkeit gibt, umso tiefer in den nächsten Akt einzusteigen.

Ausblick auf die Zukunft

Auf der Pippilotta fanden auch schon vor Demeter Larps statt (Bild: © JP Bichard)

Wie lange die Demeter noch weiter segeln wird, ist unklar. Aktuell ist die Anmeldung für einen weiteren englischsprachigen Run im Herbst 2024 offen. Auf der Pippilotta finden auch andere Spiele statt – gerade jetzt startet ein dritter Run von Erebus. Das Spiel stammt aus der gleichen Orgafeder und thematisiert die gescheiterte Franklin-Expedition auf der Suche nach der Nord-West Passage und ist inspiriert von der Amazon-Serie „Terror“. Hier bleibt das Schiff auch im Hafen, was gerade für Leute ein Vorteil ist, die Angst vor Seekrankheit haben, aber trotzdem mal auf einem Schiff spielen wollen.

Mehr Info zu Demeter gibt es hier: https://demeterlarp.de/

Mehr Info zu Erebus gibt es hier: https://erebuslarp.com/

Artikelbilder: © JP Bichard, Kai Mattern,  Nadina Dobrowolska
Layout und Satz: Andreas Hübner
Lektorat: Katrin Holst

 

Über den Autor

Rumo Wehrli ist ganz klassisch über Fantasylarp und D&D zum Rollenspiel gekommen. Inzwischen spielt er sich jedoch durch unterschiedliche Settings und ist vor allem bei kleinen, narrativen Pen-and-Paper-Regelwerken sowie im nordic/modern Larp zuhause. Ob als Spielleiter, Orga oder Spieler probiert er gerne neue Dinge aus. Im echten Leben arbeitet er in Theater, Film und Kleinkunst und lebt in der Schweiz.

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