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Stell dir vor, du träumst. Doch anstatt die Erlebnisse des Tages zu verarbeiten, versinkst du tiefer in den Traum, bis du ein fernes und fantastisches Land erreichst – Everthere. Während dein Körper sich unter die Bettdecke kuschelt, wirst du dort als Dreamer geboren. Bis der Wecker klingelt durchlebst du dutzende Abenteuer. Eine Nacht ist hier ein ganzes Leben und wer stirbt, wacht einfach wieder auf. Willkommen bei Fluxborn, dem ersten Rollenspiel des Indie-Verlages Cycpops!

Die Spielwelt: Fantasy trifft Changeling

Fluxborn spielt im Traumreich Everthere. Dieses wird von zwei entgegengesetzten Kräften beherrscht: Wild, die chaotische Kraft der Kreativität und Surrealität, und Logic, die ordnende Kraft von Vernunft und Gesetzen. Sie ringen in Everthere um die Vorherrschaft, verursachen Wetterphänomene wie Wild Winds und spiegeln sich auch in den Bewohnern wieder. Doch eine dritte Kraft versucht Everthere einzunehmen: Nightmare, der Alptraum. Er ist eine Macht von außerhalb, voller Wahnsinn und Horror. Spätestens an dieser Stelle dürften Spieler der klassischen World of Darkness aufhorchen und an die kosmischen Kräfte von Weaver, Wyld und Wyrm und Changeling denken. Eifrigen Buchlesern dürfte die Endlose Geschichte einfallen. Fluxborn hat von beiden etwas.

Everthere selbst ist eher eine klassische Fantasywelt. Elysium erinnert mit Wissenschaft und Stadtstaaten ans antike Griechenland, die kalte Tundra von Olympia ähnelt dem rauen Norden zur Wikingerzeit, die Jade Islands sind ganz klar pseudo-asiatisch. Einige näher beschriebene Schauplätze haben etwas Wundersames, etwa eine Stadt in einem riesigen Haus. Andere interessant klingende Orte werden nur erwähnt. Was ist Obsidian Castle und wer herrscht dort? Warum wurde die Hauptstadt Shara von Old Irkalla nicht näher beschrieben? Rollenspiel-Veteranen dürften in Fluxborn fantastischere Landschaften erwartet haben; Einsteiger finden sich dafür in Everthere sofort zu Recht.

Spieler verkörpern die namensgebenden Fluxborn, besondere Träumer, die in Everthere bestimmte Rollen einnehmen. Sie haben eine tiefe Verbindung zum Traum selbst (der Vergleich mit Luzidem Träumen ist nicht so verkehrt), können LeyLinien anzapfen sowie Wild- und Logic-Kräfte. Damit sind sie per se „mehr“ als gewöhnliche Dreamer und die Helden und Antagonisten des Settings. Doch es gibt auch klassische Bösewichte aus dem Nightmare und bizarre Kreaturen puren Wilds oder Logic.

Unbeantwortete Fragen

Die Grundidee von Fluxborn als Traumreich ist interessant, wirft aber viele Fragen auf, die im Buch nicht beantwortet werden. Landen alle träumenden Menschen in Everthere? Was passiert dort konkret, wenn ein Träumer aufwacht? Was wissen die Träumer genau über ihr eigentliches Leben? Wo kommt der Nightmare her und was passiert mit Träumern, die in ihn hineingeraten? Wie können Träumer konkret Logic und Wild an einem Ort beeinflussen? Wie sehen Orte aus, die vom Nightmare beherrscht werden? Zumindest einige Fragen dürften in der kommenden Erweiterung The University of Twin Energies beantwortet werden, die genauer den Hintergrund der Spielwelt beleuchtet.

Die Illustrationen im Buch unterstützen eher Stimmungen und regen die Fantasie an, statt Details preiszugeben.
Die Illustrationen im Buch unterstützen eher Stimmungen und regen die Fantasie an, statt Details preiszugeben.

Die Regeln: Einfaches W6

Die kompletten Spielregeln von Fluxborn passen auf 44 Seiten. Entsprechend leicht und schnell zu erlenen ist das System des Spiels. Es nutzt sechsseitige Würfel (W6). Eine Probe besteht aus einem Würfel (oder zwei, bei einem passenden Skill) plus den Wert des Attributs gegen eine Schwierigkeit von 4 bis 16. Eine eins oder ein Einserpasch führt immer zu einem Fehlschlag und möglichen schlimmeren Konsequenzen.

Einige Sonderregeln sind aber recht merkwürdig: Der vorgeschlagene Erfahrungsgewinn der Charaktere zwischen Spielsitzungen ist schleichend langsam. Obwohl das Spiel sonst kaum simulationistisch daherkommt, gibt es einen Abschnitt für Haltbarkeit von Gegenständen und eine Reduzierung der Geschwindigkeit eines Charakters durch Rüstung. Nett ist hingegen die Möglichkeit, mehrere Stunts unterschiedlicher Charaktere miteinander zu kombinieren. Dabei müssen gleichsam Wild- und Logic-Stunts kombiniert werden, sonst haben sie eine höhere Chance zu misslingen.

Fluxborn möchte das Regel-Rad nicht neu erfinden, sondern mit dem schlichten Spielsystem gute Geschichten unterstützen. Simulationisten kommen damit, wie bei so vielen Indie-Rollenspielen, nicht auf ihre Kosten. Dafür dürften auch Rollenspiel-Neulinge schnell mit der W6-Mechanik zurechtkommen.

Spielbarkeit aus Spielleitersicht

Fluxborn hat eine ansprechende Grundidee, macht aber leider etwas wenig daraus. Hier ist der Spielleiter in der Verantwortung, die skizzierte Welt Everthere auszumalen und nach den Wünschen der Spielrunde mit weiteren bizarren Orten oder eher Standardfantasy-Landschaften zu füllen. Die Beschreibungen von einzelnen Städten und handelnden Figuren der Welt liefern aber ein paar interessante Abenteuerideen. Besonders nützlich dürfte das Bestiarium sein, in welchem Feinde Werte bekommen und sich in der Beschreibung manches Fieslings interessante Details zum Hintergrund verstecken. Die auf Everthere existierenden Fraktionen sind leider etwas extrem geraten (totale Logik des White Council gegen absolutes Chaos der Free Ones). Damit eignen sie sich eher als Antagonisten, statt als Auftraggeber und Organisationen für Spielercharaktere.

Dadurch, dass Everthere nicht bizarr und abstrakt ist (wie etwa das Wyld in Exalted), ist das Spiel einer Spielrunde schnell erklärt. Das macht Fluxborn perfekt für Oneshot-Spielabende. Spielleiter können sich dabei im bespielten Everthere besonders kreativ austoben. Schließlich gelten Naturgesetze nur dort, wo sie gerade passen. Das surreale Traumreich ist zudem ein perfektes Argument gegen Setting-Nörgeleien einer missgünstigen Spielrunde. Trotzdem sollte der Spielleiter schon ein erfahrener Rollenspieler sein. Ein Kapitel über „Spielleiten“ fehlt in Fluxborn nämlich leider ganz.

Wie viel Horror in Fluxborn steckt, kann jede Spielrunde selbst entscheiden. Das Nightmare sorgt bei Bedarf für einen recht düsteren Spielverlauf.
Wie viel Horror in Fluxborn steckt, kann jede Spielrunde selbst entscheiden. Das Nightmare sorgt bei Bedarf für einen recht düsteren Spielverlauf.

Spielbarkeit aus Spielersicht

Als Spieler geht der Einstieg in Fluxborn recht schnell. Fluxborn-Typ wählen, Attribute und Skills verteilen, Sonderfähigkeiten aussuchen, passive Werte ausrechnen (speed, health und initiative), fertig – das dürfte kaum länger als eine halbe Stunde dauern. Die fünf angebotenen Fluxborn-Typen spielen sich recht abwechslungsreich:

Hare sind neugierig und bringen sich und die Gruppe häufig in Schwierigkeiten.

Heroics wollen große Taten vollbringen und haben die Mittel dazu.

Flogkin sind schlau und bereichern die Welt mit kreativen Ideen und ihren Unterhaltungskünsten. Sie kümmern sich besonders um den mystischen Hintergrund und das Gleichgewicht zwischen Flux und Logic.

Boogeymen sind monsterhafte Außenseiter. Viele von ihnen mögen andere Träumer nicht sehr und denken sich Gemeinheiten aus.

Klar haben hier bestimmte Spielertypen Pate gestanden, vom neugierigen Entdecker bis zum am Hintergrund interessierten Besserwisser. Die Übertragung in Fantasy-typische Klassen (Krieger, Zauberer) gelingt aber nicht ganz – Fluxborn-Typen entscheiden eher über Persönlichkeit und Ziele als Spielmechaniken. Stunts, also tatsächliche Sonderfähigkeiten und mit teilweise zauberartigen Effekten, können von jedem Charakter frei gewählt werden.

Als Spieler von Fluxborn interessant ist die systemtechnische Notwendigkeit, Flux und Logic zu balancieren. Jeder Stunt (Sonderfähigkeit wie etwa Hypnotism oder Phantom Sounds) verschiebt die Affinität des Charakters zu einer der beiden Kräfte und erschwert Stunts der jeweils anderen Kraft. Dabei ist es natürlich auch möglich, reine Logic- oder Wild-Charaktere zu spielen.

Preis-/Leistungs-Verhältnis

Fluxborn hätte als PDF sicher auch etwas um 13 Euro kosten können. Andere solide Independent-Rollenspiele machen es vor, etwa Monsters and other Childish Things, Little Fears Nightmare Edition oder Summerland. Doch Cycpops! bietet das Spiel zum „Bezahl-was-du-willst“-Preis an. Das ist natürlich gut für Neugierige, die „mal einen Blick reinwerfen“ wollen. Beim Durchblättern dürfte man recht schnell merken, dass Fluxborn die empfohlenen 5 USD locker wert ist. Eine Print-Ausgabe für Sammler und Unterstützer des Spiels wird leider noch nicht angeboten – schade.

Erscheinungsbild

Fluxborn CoverEin vollständiges Rollenspiel samt Hintergrundwelt, Regelsystem und Bestiarium auf 100 Seiten zu liefern, ist schon eine Kunst. Dazu ist das Buch vom Titelbild bis zu den Charakterzeichnungen wunderschön illustriert. Marko Laines Bilder sind dabei nicht zu aufdringlich oder detailliert, regen aber die Phantasie an. Optisch steckt Fluxborn damit so manche Indie-Konkurrenz in die Tasche. Sprachlich ist Fluxborn zwar immer verständlich, aber an ein paar Stellen von den Formulierungen etwas unschön und in den Erzähltexten wenig fesselnd – kleine Schnitzer in einem ansonsten guten Buch.

Das PDF bietet Lesezeichen, verzichtet aber auf Komfortfunktionen (etwa Verlinkung von Schlagwörtern). Was negativ auffällt, ist der fehlende Index – doch Leser dürften bei dem kompakten Inhalt auch ohne einen solchen zurechtkommen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Cycpops!
  • Autor(en): Lassi Ahti
  • Erscheinungs­jahr: 2014
  • Sprache: Englisch
  • Format: Softcover
  • Seitenanzahl: 100
  • Preis: ca. 5 USD (empfohlen)
  • Bezugsquelle: DriveThruRPG (PDF)

 

Bonus-/Downloadcontent

Eine ausführliche Karte von Everthere findet sich auf DrivethruRPG kostenlos als Download.

Fazit

Fluxborn ist, anders als manches Indie-Produkt, kein experimentelles Konzeptspiel für Liebhaber, sondern ein grundsolides Rollenspiel. Mit kompakter Spielwelt und einfachem Regelsystem ist es tatsächlich gut für unerfahrene Spielrunden geeignet. Dabei muss ein kreativer Spielleiter aber nachhelfen – die Beschreibungen von Everthere sind im Buch nämlich eher skizzenhaft.

Die Möglichkeiten der traumhaften Spielwelt sind hingegen enorm und zusammen mit dem soliden System in meinen Augen wichtiger, als fehlende Hintergrunddetails. Mich jedenfalls hat Fluxborn damit angesprochen und ist zu meinem Ausweich-Rollenspiel geworden, falls ich spontan eine Fantasy-Runde leiten soll.

Spielrunden mit Einsteigern und Rollenspiel-Neulingen sollten einen Blick riskieren. Beim „Bezahl-was-du-willst-Preis“ kann man eh nicht viel falsch machen.Daumen4Maennlich

Artikelbild: Cycpops!

 

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