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Eine schwarze Frau, auf sich gestellt in einer riesigen Großstadt, die von ethnischen Unruhen in einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft erschüttert wird. Amerika im Jahr 2020? Auch. Doch in diesem Fall hat die Protagonistin Superkräfte, die Bürger sind Aliens und die Stadt hat Planetenumfang. Willkommen im Far Sector.

Es geht weiter mit N. K. Jemisins Green Lantern-Spinoff! Nachdem sich Jo Mullein in den ersten drei Ausgaben mit den ungewöhnlichen Gesellschaftsstrukturen in der City Enduring auseinandersetzen musste, findet sie jetzt so langsam die Balance zwischen Diplomatie und Polizeiarbeit. Doch sie hat es längst nicht mehr nur mit einem Mordfall zu tun – der Frieden in der Megastadt wird von weitaus größeren Gefahren bedroht.

Handlung

#4
Nach den schrecklichen Ereignissen von Ausgabe 3 muss Jo erst einmal für Ruhe sorgen. In diesem Zusammenhang erfahren wir auch mehr über ihren Power Ring, der ein wenig anders ist als die Ringe ihrer Kolleg*innen. Doch vor allem scheinen viele Bürger der City Enduring ein großes Übel im gefühlsunterdrückenden „Emotion Exploit“ zu sehen. Jo Mullein sieht sich zunehmend zwischen den Fronten verschiedener politischer Bewegungen gefangen …

Die Wirkungen von Emotion Exploit und Switchoff erinnern zwar stark an den Film Equilibrium durch die Prämisse, dass Gefühle für einen verheerenden Krieg verantwortlich gemacht und im Namen der Harmonie unterdrückt werden. Doch Far Sector geht mit dem Thema deutlich subtiler und intelligenter um: City Enduring ist kein extrem totalitärer Staat und die meisten Bürger sehen die Unterdrückung ihrer Gefühle als notwendig an. Im Gegensatz zu Equilibrium sind in Far Sector Kunst und Kultur nicht verboten, Bürger treffen sich in Parks oder genießen gutes Essen. Die Unterdrückung grundlegender humanoider Bedürfnisse wurde in den bisherigen drei Bänden als deutlich unproblematischer dargestellt als in dystopischen Vorbildern wie Brave New World oder Fahrenheit 451.

Genau das macht aber die Wirkung des Emotion Exploit so verwirrend. Die meisten Bürger werden nicht als gefühllose Automaten gezeigt, sie können weiterhin Freude oder Trauer empfinden, ein gutes Buch oder Sex genießen. Dafür, dass Gefühllosigkeit so ein zentrales Thema ist, zeigt Jemisin zu selten klare Trennlinien zwischen den „normalen“ Bürgern und denjenigen, die Switchoff nehmen. Diese Beliebigkeit und die klischeehaften Auseinandersetzungen mit intriganten Politikern schwächen diese Ausgabe unnötig.

 

#5
Die Stadt hat sich ein wenig beruhigt, nachdem sich politische Veränderungen abzeichnen. Jo stellt indes weitere Nachforschungen an. Die Handlung wird unterbrochen von einem langen Flashback, der Jo Mulleins Vergangenheit als Teenager, Soldatin, Polizistin und schließlich ihre Aufnahme ins Green Lantern Corps erzählt. Wieder in der Gegenwart wird Jo schließlich mit neuen Erkenntnissen in der Morduntersuchung konfrontiert, die ihre bisherigen Annahmen auf den Kopf stellen.

Gerade ihre Erlebnisse als schwarze LGBT-Frau im Amerika der letzten 20 Jahre, in der sie täglich Diskriminierung und Ungerechtigkeit erfährt, machen diesen Flashback so wichtig als Parallele zu ihrer Arbeit in einer Alien-Zivilisation. Jo ist keine strahlende Heldin wie Hal Jordan, der als cooler Jetpilot von einem sterbenden Abin Sur mit Superkräften belohnt wird, bevor er irgendetwas erreicht hat. Sie musste gegen ein System kämpfen, das Frauen und Schwarze benachteiligt, bewies sich in Schule, Uni und Militärdienst und war doch nie gut genug. Sie rang mit Selbstzweifeln und beging Fehler. Dass diese fehlbare Kämpferin letztlich von den Guardians of the Universe auserwählt wird, liegt auch an ihrer Fähigkeit, sich wieder aufzurappeln und nach vorne zu schauen. Das macht sie zu einer glaubwürdigeren Heldin als manche Comic-Charaktere, die überprivilegiert mit Geld und Macht sind und sich dennoch ständig in Selbstmitleid suhlen.

Ausgabe 5 wurde mehrere Monate vor ihrer Veröffentlichung geschrieben, aber das Timing im Mai 2020 hätte nicht treffender sein können. Die „Black Lives Matter“-Bewegung wird sogar im Flashback namentlich erwähnt, in der Realität hätte sie die Chance, die Rolle von Schwarzen in der amerikanischen Gesellschaft nachhaltig zu verbessern. Sojourner Mullein kann auch für diese Aktivisten ein Vorbild sein.

 

#6
Als ein Mitglied der politischen Elite ein überraschendes Geständnis ablegt, ändert Jo ihre Meinung. Die Grenzen zwischen Gut und Böse verlaufen längst nicht so eindeutig wie anfangs gedacht. Die Untersuchung des Mordfalls kommt indes ein ganzes Stück weiter. Doch die Person, die Jo mit neuen Hinweisen versorgt, schwebt plötzlich in großer Gefahr, und die Green Lantern sieht sich zum Kampf gezwungen …

Und hier kommt die Action, die in den bisherigen Ausgaben fehlte! Jo nutzte ihre Ringkräfte bislang eher passiv als alltägliches Hilfsmittel, nur während der Demonstration setzte sie sie klassisch „heroisch“ ein. Fast hätte man denken können, dass eine Detektivin ohne Superkräfte den gleichen Job hätte machen können. Doch die Anführer der City Enduring lagen wohl richtig in der Einschätzung, dass sie eine Green Lantern zur Wahrung des Friedens brauchen.

Es ist aber nicht die Action allein, die diese Ausgabe spannend macht. Noch interessanter sind die neuen Erkenntnisse, die Jo Mullein gewinnt, einerseits durch ihre intensive Auseinandersetzung mit einer Person, die dadurch in der Geschichte enorm an Bedeutung gewinnt, andererseits durch die Enthüllungen, die bereits am Ende von Ausgabe 5 erwähnt wurden und neue Rätsel aufwerfen.

Allerdings stellt sich auch die Frage, warum Jo ihren Kontakt alleine Nachforschungen machen lässt. Sicher, nach der Demonstration und ihren Folgen hatte die Green Lantern alle Hände voll zu tun mit Stadtpolitik und Bürgerinitiativen. Doch es wirkt seltsam, dass Jo jetzt nur noch Infos entgegennimmt und sich zwar Sorgen um die Sicherheit ihres Informanten macht, ihm aber erst viel zu spät zu Hilfe kommt. Es scheint, als ob Jemisin zunächst den anderen Handlungsstrang zu Beginn des Hefts unterbringen wollte, was den Mordfall in den letzten drei Ausgaben ein wenig an den Rand drängte. Far Sector ist eben keine reine Detektivgeschichte, sondern auch eine (fiktive) Gesellschaftsstudie. Trotz dieser kleinen Ungereimtheit bietet Ausgabe 6 großes Lesevergnügen.

Charaktere

Anfangs war er noch ein ziemlich flacher und schmierig wirkender Charakter, jetzt ist Marth der vermutlich interessanteste und vielschichtigste Nebencharakter in dieser Geschichte. In der Besprechung der ersten drei Ausgaben fand ich, dass die anderen Figuren neben Jo zu kurz kommen, jetzt wird ihnen mehr Raum in der Handlung gegeben. Marths Gespräch mit Jo geschieht auf Augenhöhe und löst ihn vom Klischee des intriganten Politikers. Ein Charakter mit Ecken und Kanten, der sicher noch eine größere Rolle spielen wird.

Leider kann man nicht dasselbe über seine Kollegen sagen. Averrup Thorn hat zwar ein hohes, fast persönliches Interesse an dem Mordfall, aber wir wissen immer noch nicht, wieso. Das dritte Ratsmitglied, @Blaze-of-Glory von den @At, wurde bislang am wenigsten charakterisiert, sie versteckt sich meist hinter ihrem Fächer und macht schnippische Kommentare. Die Motivationen dieser beiden Politiker könnten als nächstes beleuchtet werden, denn N. K. Jemisin hat bereits deutlich gemacht, dass sie gerne Klischees entzaubert.

Es ist sicher auch dem comictypischen Veröffentlichungszyklus von 20 bis 25 Seiten im Monat geschuldet, dass nicht alle Charaktere gleich viel im Rampenlicht stehen. Dennoch stellen sich einige Fragen zu den Nebencharakteren, die zu kurz kommen: Warum erfahren wir so wenig über Syzn? Sollte sie als Mitbewohnerin/Ex-Lover von Jo nicht viel öfter anwesend sein? Warum ist @CanHaz so albern? Ihr Internethumor – Katzenmemes und Fanfics – kommt etwa 10 bis 15 Jahre zu spät und wirkt auch eher peinlich für eine Rasse von künstlichen Intelligenzen. Schade, denn sie ist sonst eine hilfreiche Assistentin, die dem Erdling die Geheimnisse der Stadt näherbringt. Und für Green Lantern-Fans besonders wichtig: Wer ist die unbekannte Guardian of the Universe und warum gibt sie Jo nur ein Jahr Zeit, um etwas zu verändern?

Positiv fällt auf, dass wir mehr über die normalen Bürger der City Enduring erfahren. Die Pro-Switchoff-Bewegung hat Parallelen zu realen Aktivisten wie Black Lives Matter und zeigt, dass die Milliarden Lebewesen in der Megastadt mehr sind als nur Spielbälle der Politiker. Und selbst Jo darf etwas wohlverdiente Freizeit nach all dem Stress genießen. Zeichner Jamal Campbell zeigt neben einer Actionfigur von John Stewart (dem anderen afroamerikanischen Green Lantern – ist der Kollege ein Vorbild?) auch zahlreiche Anime-Figuren in Jos Wohnung. Unter anderem sehen wir ein Magical Girl, das große Ähnlichkeiten mit Sailor Jupiter hat, der (körperlich) stärksten Kriegerin in Naoko Takeuchis Sailor Moon. Die Figur taucht sogar als holographischer Nebeneffekt von Jos Lichtkonstrukten auf. Will Campbell uns damit etwas sagen? Ist Jo Mullein ähnlich wie Makoto Kino eine toughe tomboy (ein burschikoses Mädchen), die auf sich allein gestellt überlebt und ihre Freunde mit ihrer Zähigkeit beschützt? Noch schleudert Jo keine Blitze im Namen des Jupiters, aber wer weiß?

Zeichenstil

Campbells Zeichenstil hat sich nicht verändert und ist weiterhin sehr dynamisch. Die Hintergründe vieler Panels sind detailarm und eher durch Farben statt Formen charakterisiert. Das schadet aber nicht, im Gegenteil, diese Darstellungsform fokussiert auf das Wesentliche. Campbell löst sich damit auch von dem Science-Fiction-Klischee, möglichst viele futuristische Dekorationen und surrende Gadgets in jede Szene zu stopfen. Solche „spacigen“ Elemente altern meistens schlecht und wirken schon nach wenigen Jahren altbacken. Dennoch kommt, wie in der letzten Rezension erwähnt, typische Science-Fiction-Ästhetik – wie transparente hexagonale Energiefelder – vor, wenn sie zur Atmosphäre beiträgt.

Erscheinungsbild

Diese Ausgaben wurden nur in digitaler Form rezensiert. Der Reader von Comixology ist weiterhin komfortabel und bietet mit Guided View eine dynamische Möglichkeit, von Panel zu Panel zu springen. Man kann aber auch die ganze Seite oder zwei Seiten auf einmal betrachten und stufenlos zoomen.

Leider sind einige Panels im Guided View etwas grobauflösend. Hier hätte weniger Zoom oder eine höhere Auflösung geholfen. Den Lesefluss schränkt dies aber nicht ein, Bild und Text sind dennoch erkennbar.

Die harten Fakten:

  • Verlag: DC Comics
  • Autorin: N. K. Jemisin
  • Zeichner: Jamal Campbell
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: Englisch
  • Format: Digital
  • Seitenanzahl: 23-26
  • Preis: 4,49 EUR pro Ausgabe
  • Bezugsquelle: Fachhandel (Print), Amazon: Heft 4, Heft 5, Heft 6 (digital)

Fazit

The plot thickens, wie es auf Englisch heißt. Natürlich steckt mehr hinter dem Tod von Stevn of the Glacier und seiner Mörderin Meile Thorn in Ausgabe 1. Agierten die finsteren Mächte hinter den Todesfällen bislang noch im Verborgenen, werden sie jetzt deutlich konfrontativer – ohne sich zu erkennen zu geben. Aber Jo Mullein bringt nach und nach Licht in die finsterste Nacht. Vermutlich werden in den nächsten paar Heften die eigentlichen Bösewichte zum Vorschein kommen. Und dann heißt es: Beware my power – Green Lantern’s Light!

Artikelbilder: © DC Comics
Layout und Satz: Annika Lewin
Lektorat: Saskia Harendt
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

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