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Das Universum hat eine neue Green Lantern! Zum ersten Mal in der DC-Geschichte erhält mit Sojourner Mullein eine schwarze Frau den grünen Ring. Aber anstatt gegen Sinestro zu kämpfen, wird sie in den entlegenen Far Sector versetzt, wo sie für Frieden zwischen drei lange verfeindeten Alien-Völkern sorgen muss.

Die Guardians of the Universe (nicht zu verwechseln mit den Guardians of the Galaxy, die sind vom Konkurrenten Marvel) scheinen die Erde zu mögen, immerhin haben sie mittlerweile sieben Erdlinge ins Green Lantern Corps aufgenommen. Nach Hal Jordan, Guy Gardner, John Stewart, Kyle Rayner, Simon Baz und Jessica Cruz haben sie erneut einen willensstarken Menschen als Ringträgerin ausgesucht. Die ehemalige Polizistin Sojourner „Jo“ Mullein wird auserwählt, in einem der 3600 Sektoren des Universums für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Doch während ihre Kollegen sich mit dem Sinestro Corps, den blutrünstigen Red Lanterns, Nekron und Volthoom anlegen dürfen, muss Jo Mullein in einem weit entfernten Sektor Dienst schieben. Dort haben sich in der riesigen künstlichen Stadt „City Enduring“ drei Rassen angesiedelt, die sich einst beinahe gegenseitig ausgelöscht hätten. 500 Jahre gab es Frieden in der Stadt, doch dann passiert ein folgenschwerer Mord. Zum Glück hält sich Jo an den Schwur der Green Lanterns: „No evil shall escape my sight!“ („Nichts Böses entgeht meiner Wacht!“ – in den meisten Übersetzungen)

Handlung

#1

Die Handlung steigt direkt mit einer Leiche ein. Lantern Jo Mullein und mehrere Offiziere der örtlichen Polizei schauen sich den Tatort an. Die City Enduring, eine künstlich angelegte Sphäre mit 20 Milliarden Einwohnern, liegt am äußersten Rand der 3600 Sektoren – so weit, dass der Sektor keine eigene Nummer zu haben scheint. Die Regierung der Megastadt hat um den Einsatz einer Green Lantern gebeten, da der brüchige Frieden in der „Trilogy“ in Gefahr scheint. Die Trilogy sind drei Völker, die einst verfeindet waren und jetzt zusammenleben: die menschlich wirkenden Nah, die allerdings fledermausartige Flügel und Schwänze haben, die keh-Topli, eine Rasse humanoider fleischfressender Pflanzen, sowie die @At, künstliche Intelligenzen, die „optional“ auch physische Körper benutzen können.

Eine externe Macht, im Flashback nur als „an empire from elsewhere in the galaxy“ („ein Imperium aus einem anderen Teil der Galaxie“) bezeichnet, stachelte Hass und Zwietracht zwischen den drei Völkern an. Nachdem sich die Nah, keh-Topli und @At lange bekriegt hatten, ihre beiden Planeten vernichteten und sich fast gegenseitig ausgelöscht hätten, gründeten die Überlebenden die City Enduring. Um einen neuen Krieg zu verhindern, entwickelten sie eine Substanz, die Gefühle unterdrückt, den sogenannten Emotion Exploit. Dieser künstlichen Unterdrückung von Misstrauen und Zorn, so der allgemeine Konsens, verdankt die Trilogy ihr friedliches Miteinander. Doch es gibt einen Weg, den Emotion Exploit zu umgehen – eine Droge namens Switchoff, die von immer mehr Bürgern der Megastadt genutzt wird und viele von ihnen mit einer Flut von Gefühlen überwältigt.

Unter dem Einfluss von Switchoff scheint auch die Mörderin zu stehen, die zu Beginn der Geschichte gefasst wurde. In diesem Kriminalfall geht es nicht darum, den Schuldigen zu finden, sondern das „Warum“ zu verstehen und weitere Gewalttaten zu verhindern. Doch während Jo Mullein vor den Repräsentanten der drei Völker durch ein politisches Minenfeld navigieren muss, geschieht ein zweiter Mord …

Für einen DC-Superheldencomic beginnt Far Sector vergleichsweise ruhig. Während sich andere Green Lanterns bombastische Schlachten mit galaktischen Superschurken liefern, macht Jo Mullein Polizeiarbeit. Ihren Ring nutzt sie vor allem, um Regenkleidung oder Stühle zu erschaffen. Sie fliegt auch nicht selbst, sondern lässt sich in einem Schiff durch die Stadt transportieren. Es wird angedeutet, dass ihr Ring einzigartige Fähigkeiten hat, teilweise aber auch schwächer ist als die Ringe ihrer Corps-Kollegen. Diese Variante der üblichen Green Lantern-Kräfte macht aber einen besonderen Reiz aus. Die „Superschurken“ dieser Story sind die komplizierte Gesellschaftspolitik dreier Völker, gegenseitiger Argwohn und die Last der gemeinsamen Geschichte. Solche Widersacher kann man nicht mit Faustschlägen und Laserstrahlen besiegen. Jos Superkräfte rücken in den Hintergrund dieser Detektivgeschichte, zumindest für den Anfang. Das gibt dem Ganzen einen realistischen, Film noiresken Anstrich, der vor allem von Jos innerem Monolog getragen wird. Sie ist es auch, die den Lesern die komplizierten Lebensverhältnisse in der City Enduring für Erdlinge verständlich macht. Ein starker Einstieg!

#2

Ausgabe #2 setzt nahtlos an der vorigen Story an. Jo verfolgt einen zweiten Mörder, verliert diesen aber in den Straßenschluchten der City Enduring aus den Augen. Frustriert und ohne Anhaltspunkte versucht sie, die verschiedenen Völker der Stadt besser zu verstehen: Von den keh-Topli, die das Verspeisen einer intelligenten Lebensform beinahe als spirituellen Akt verstehen, zu den Nah, die so menschenähnlich sind, dass Jo bereits kurz eine Beziehung mit ihrer Kollegin Syzn, Offizierin einer örtlichen Polizeibehörde, einging. Dass die Beziehung nicht hielt, lag vielleicht am Emotion Exploit, vielleicht auch an der Unterschiedlichkeit der beiden Persönlichkeiten. Der Fall nimmt persönliche Züge an, als der undurchsichtige Repräsentant Marth Jo in die Stadtpolitik hineinzieht …

Nach der hektischen Verfolgungsjagd durch eines der Stadtviertel von der Größe eines Kontinents, wird auch in dieser Ausgabe das Tempo gedrosselt, um die Welt weiter auszubauen. Je tiefer Jo in die drei grundverschiedenen Gesellschaften vordringt, desto deutlicher wird ihr, dass sie hier das eigentliche Alien ist. Nah, keh-Topli und @At verstehen sich gegenseitig, trotz unterschwelliger Vorurteile, besser, als Jo Mullein nach mehreren Monaten Aufenthalt dazu in der Lage wäre. Die Tatsache, dass sie vom Emotion Exploit ausgenommen ist, macht ihr Verhalten für ihre Gastgeber besonders merkwürdig.

N.K. Jemisin ist bereits durch ihre beiden Romantrilogien dafür bekannt, komplexe fiktive Kulturen zu erschaffen. Genau das vertieft sie in Ausgabe #2. Wer gehofft hat, dass jetzt schon etwas Licht in die Untersuchung gebracht wird, könnte enttäuscht werden – der Schlüssel zur Lösung des Falls ist es, die City Enduring zu verstehen.

#3

Nachdem Marth sie erst bezirzt und dann ominöse politische Statements über einem Brettspiel von sich gegeben hat, begibt sich Jo nach Hause, wo sie sich an die Westernfilme ihrer Kindheit erinnert. Wie ein einsamer Sheriff in der Grenzstadt, fühlt sie sich fernab der Heimat kurzfristig überfordert, reißt sich aber zusammen. Die Pflicht ruft erneut in Form eines Auftrags, der scheinbar mit der Morduntersuchung nichts zu tun hat – zwei riesige Demonstrationen prallen in einem entlegenen Stadtviertel aufeinander und Jo muss Ausschreitungen verhindern. Es stellt sich heraus, dass die eine Protestgruppe die Legalisierung von Switchoff fordert, während die andere dadurch Chaos und Anarchie befürchtet. Bevor Jo die beiden Lager befrieden kann, eskaliert die Situation …

Vor dem Hintergrund der aktuellen Ausschreitungen in den USA wirkt die Gewalt in der City Enduring besonders erschreckend. Die afroamerikanische Autorin Jemisin versucht gar nicht erst, den Bezug zur Lebenswirklichkeit vieler Schwarzer als Metapher zu verpacken – ein Flashback zeigt Jo in Polizeiuniform, völlig entsetzt über einen Kollegen, der einen Verdächtigen brutal zusammenschlägt. Falls Jo Mullein dachte, als Superheldin würde sie solchen systemischen Ungerechtigkeiten entkommen, hat sie sich geirrt. Lediglich den Wirkungsort hat sie eingetauscht, hier ist sie die Außenseiterin, die mit einer komplizierten Vergangenheit von Rassismus und Ausgrenzung konfrontiert ist. Science-Fiction war schon immer politisch, hier macht der persönliche Bezug der Hauptfigur zu den Vorfällen die Handlung besonders eindringlich.

Bemerkenswert ist, dass sie in Ausgabe #3 ihre Green Lantern-Kräfte wieder häufiger benutzt, allerdings zur Deeskalation und zum Schutz der aufgebrachten Menge. Die Gewalt geht hier von anderen aus. Kämpft Green Lantern Sojourner Mullein gegen Windmühlen? Ist der Versuch, Jahrhunderte des gegenseitigen Hasses zu beenden, von vornherein zum Scheitern verurteilt? Unwahrscheinlich. Green Lanterns werden für ihre enorme Willenskraft ausgesucht, klein beigeben wird Jo sicher nicht.

Charaktere

Wie bereits erwähnt, hat sich N.K. Jemisin bereits durch die Trilogien Das Erbe der Götter und Die große Stille mit literarischem Ruhm bekleckert. Die Ankündigung eines Superheldencomics war somit eine kleine Sensation. Die Idee, Jemisin zu engagieren, kam von Gerard Way, Kurator der DC-Reihe Young Animal, bekannt als Autor von The Umbrella Academy. Jemisin hat der Serie direkt ihr Talent zum worldbuilding aufgedrückt – in drei Ausgaben erfährt man mehr über die City Enduring und ihre Bewohner, die Trilogy, als in einigen umfangreichen Fantasyromanen.

Die drei Völker werden in ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten sehr plastisch dargestellt: Von den Nah, deren Verhalten noch am ähnlichsten zu den Menschen ist, über die seltsamen keh-Topli und ihren religiösen Kannibalismus bis hin zu den @At, die für einige Internetwitze herhalten müssen (wie etwa Jos Assistentin @CanHaz, die irdische Katzenmemes mag). Es ist fast schade, dass alle drei Rassen so humanoid wirken, aber vertraute Elemente sind in der Science-Fiction wichtig. Die intriganten Mitglieder des „Council“ betrachten Jo und ihre Untersuchung als Politikum, das sie zu ihrem Vorteil nutzen können. Die Offiziere des „Peace Corps“ sind mit dem Konzept der Gewalt nach Jahrhunderten des Friedens völlig überfordert. Die Stadt platzt an vielen Ecken aus allen Nähten. Solche Elemente kennt man aus anderen Geschichten und sie machen die Story zugänglicher.

Leider bleiben Marth, Averrup und sogar Mitbewohnerin Syzn trotz ihrer wichtigen Rollen in der Handlung nur Nebencharaktere. Der Fokus liegt klar auf Jo Mullein, ihrer eigenen schwierigen Vergangenheit und dem übermächtigen, unsichtbaren Gegner, den sie nicht mit roher Kraft bekämpfen kann. Dass sie dabei selbst einer Gruppe angehört, die bislang in westlicher Unterhaltung unterrepräsentiert war – schwarze Frauen – macht ihre Rolle so wichtig. Man hat in den letzten Jahren häufig Stimmen, von zumeist weißen und männlichen Fans, gehört, dass der Trend zu weiblichen, nicht-weißen oder LGBT-Protagonist*innen unnötig, lästig oder gar eine Gefahr wäre. Solche Kommentare finden sich unter Artikeln zu Comics, Filmen, Videospielen, Serien oder Romanen, und oftmals liefern sie unfreiwillig die Begründung für eine stärkere Repräsentation. Wenn Figuren, die keine weißen Hetero-Männer sind, immer noch auf vehementen Widerstand stoßen, sind sie immer noch nicht in der Normalität angelangt.

Dass Jemisin und Campbell keine perfekte Mary Sue erschaffen haben, sondern eine echte Persönlichkeit mit Stärken und Schwächen und einer komplizierten Vergangenheit, spricht für ihre Talente. Auch das Design von Jo Mullein ist angelehnt an reale Vorbilder: So hat ihr hervorstehender Afro und die „Sonnenbrille“ bereits im Vorfeld Vergleiche zur Sängerin und Schauspielerin Janelle Monáe angeregt. Sogar die Initialen sind identisch. Was Monáe für schwarze Frauen in Musik und Film erreicht hat, könnte Mullein im Bereich der Superheldinnencomics schaffen.

Zeichenstil

Jamal Campbell ist rundum für Zeichnungen, Farbe und Cover verantwortlich. Er liefert einen durchgehend dynamischen, visuell eindringlichen Stil, der vor allem in der Architektur der City Enduring, in den Kostümen oder in grellen Energieeffekten brilliert. Doch auch mit kleinen Details glänzt Campbell: So tragen die pflanzenartigen keh-Topli Blumen oder Knospen in ihren „Haaren“, die jedem einzelnen Mitglied ihrer Gesellschaft ein einzigartiges Aussehen verleihen. Die digitalen @At wiederum drücken schon durch ihre Körperhaltung eine analytische Persönlichkeit aus, während die Nah dank ihrer Flügel auch den Himmel über der Stadt beherrschen. Dass Campbell oft auf visuelle Science-Fiction-Stereotypen wie transparente Hologramme, hexagonale Energiefelder oder ringförmige Plattformen zurückgreift, kann man als Klischee betrachten, aber der allgemeine Stil wirkt erfrischend genug, dass dies nicht negativ auffällt.

Erscheinungsbild

Die digitalen Comics sind in hoher Auflösung dargestellt und laden schnell. Die Zoomfunktion erlaubt es, auch kleinere Panels deutlich zu erkennen. Auf mobilen Geräten lässt Comixology auch den Zoom mit zwei Fingern zu. Neben der Betrachtung einer ganzen oder sogar zwei Seiten bietet der Reader von Comixology auch die Guided View-Ansicht, die von Panel zu Panel springt und größere Panels oder Splashpages zunächst in Abschnitten präsentiert, um anschließend herauszuzoomen. Das sorgt für eine gewisse Dynamik beim Lesen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: DC Comics
  • Autorin: N.K. Jemisin
  • Zeichner: Jamal Campbell
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Sprache: Englisch
  • Format: Digital
  • Seitenanzahl: 25-27
  • Preis: 4,49 € pro Ausgabe
  • Bezugsquelle: Fachhandel (Print), Amazon (#1 digital), Amazon (#2 digital), Amazon (#3 digital)

 

Bonus/Downloadcontent

Die drei Ausgaben enthalten Werbung für andere DC-Titel. Boni zu Far Sector gibt es noch keine.

Fazit

Eine seit Jahrzehnten laufende Reihe wie Green Lantern neu zu interpretieren ist keine leichte Aufgabe. N.K. Jemisin hat sich dafür entschieden, ihre Handlung von der komplizierten Green Lantern-Historie zu entkoppeln, indem sie einen Western am Rand der Zivilisation erzählt. Doch anders als die klassischen Westernhelden ist Jo Mullein kein gefühlsarmer harter Hund, der durch markige Sprüche und ein locker sitzendes Schießeisen auffällt. Sie versteht durch ihre eigene Erfahrung als schwarze Frau in der ungleichen amerikanischen Gesellschaft die Schwierigkeiten, mit denen die Trilogy zu kämpfen hat. Superkräfte sind eher ein Hilfsmittel, als die eigentliche Problemlösung.

Gleichzeitig fühlt sich die New Yorkerin Jemisin pudelwohl im Setting des Großstadtdschungels. Ihre aktuelle Romantrilogie The Great Cities spielt auch in einem urbanen Umfeld, wenn eher mit Fantasybezug. Überhaupt scheint die Autorin problemlos von Genre zu Genre hüpfen zu können. High Fantasy, Postapokalypse oder Superhelden – Jemisin lässt sich nicht festlegen. Gut so, denn die unterschiedlichen Schauplätze machen die Vielfalt ihres Könnens deutlich.

Die Handlung hat allerdings Schwächen. Jemisin macht leider nicht deutlich, wie der Emotion Exploit genau funktioniert, da die drei Völker durchaus in der Lage sind, Emotionen zu zeigen und keine kalten Roboter sind (nicht einmal die tatsächlichen KIs der @At). Charaktere unter dem Einfluss von Switchoff scheinen lediglich etwas euphorischer als sonst zu sein, feindseliges oder romantisches Verhalten können die verschiedenen Figuren trotz Gefühlsunterdrückung zeigen. Hier muss man wohl weitere Ausgaben abwarten, um zu verstehen, inwiefern die Substanz die schlimmsten Neigungen der drei Völker hemmt, ohne sie ihrer Menschlichkeit (Nahkeit? Keh-Toplikeit? @Atkeit?) zu berauben.

Nichtsdestotrotz ist Far Sector ein beeindruckendes Superhelden-/Science-Fiction-Werk. Leser, die an Science-Fiction vor allem außerirdische Kulturen und fiktive Historie mögen, kommen hier voll auf ihre Kosten. Jemisin beweist wieder einmal, dass sie mit einer schwarzen und weiblichen Stimme eine Geschichte schreiben kann, die alle Leser*innen ungeachtet ihrer Ethnie, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität anspricht. Ganz klare Empfehlung für die Abenteuer von Jo Mullein im abgelegenen Far Sector.

 

Artikelbilder: © DC Comics, Layout und Satz: Melanie Maria Mazur, Lektorat: Sabrina Plote
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

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