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J.R.R. Tolkien ist als Jahrhundertautor bekannt und hat mit Mittelerde eine Welt erschaffen, die bis heute Millionen von Menschen in ihren Bann zieht. Seine Werke werden als Buch, als Film, als Video- und Tischrollenspiel erlebt. Dr. Luke Shelton sammelt diese Erfahrungen – im Tolkien Experience Project.

Dr. Luke Shelton, 32, arbeitet als Lehrkraft und Herausgeber in Rochester, Minnesota, USA. Er hat Englische Literatur und Literatur des Mittelalters mit dem Fokus auf J.R.R. Tolkien in Glasgow studiert und ist im Feld der Tolkien-Studien seit mehreren Jahren aktiv. Heute sprechen wir mit ihm über eines seiner Projekte: Das Tolkien Experience Project.

Das Tolkien Experience Project ist eine Plattform, auf welcher Tolkien-Fans aus aller Welt teilen können, wie sie die Welt und die Werke des Autors erleben, wie Tolkien ihr Leben bereichert und was sie an seinen Werken fasziniert. Luke erklärt uns, wie genau das funktioniert, wie er selbst in den Bereich der Tolkien-Studien gelangt ist – und wie ihr bei dem Projekt mitmachen könnt.

Teilzeithelden: Hallo Luke! Vielen Dank, dass du dir die Zeit für uns nimmst. Bevor wir über das Projekt selbst sprechen, erzähle uns bitte ein wenig über dich.

Luke: Zuerst möchte ich mich für dieses Interview bedanken. Ich freue mich sehr über Gelegenheiten, Teile der Fantasy-Community zu erreichen, mit denen ich bisher noch nicht sprechen konnte! Ich liebe es, mit Menschen über ihre Passionen zu sprechen und Gemeinsamkeiten zu finden, die uns miteinander verbinden. Insbesondere angesichts der aktuellen Situation, in der eine globale Krankheit uns physisch voneinander entfernt hält, empfinde ich meine Arbeit als sehr erfüllend.

Dr. Luke Shelton
Dr. Luke Shelton

Teilzeithelden: Beginnen wir mit deinem eigenen Tolkien-Erlebnis. Wann und wie bist du das erste Mal auf Tolkiens Welten gestoßen?

Luke: Unglücklicherweise kann ich mich nicht mehr genau daran erinnern, wann ich zum ersten Mal mit Tolkien in Kontakt gekommen bin. In meiner frühesten Erinnerung sitze ich in der vierten Klasse und höre einem Geschichtenerzähler zu, der Kapitel aus Der Hobbit vorliest. Ich muss das Buch allerdings schon vorher gelesen haben, denn ich erinnere mich daran, dass ich sehr darauf geachtet habe, dass der Erzähler meine Lieblingsabschnitte ordentlich vorträgt.

Teilzeithelden: Während deiner Studien hast du dich auf Tolkien und die Literatur des Mittelalters konzentriert. Was war der Grund für diese Wahl?

Luke: Zunächst wollte ich Tolkien nicht Teil meines akademischen Werdegangs werden lassen. Mein Master of Arts in Englischer Literatur konzentrierte sich auf Beowulf; Tolkien wurde nur erwähnt, da er sich ebenfalls mit Beowulf befasst hat. Das lag größtenteils daran, dass man mir oft sagte, ich würde mit einem Fokus auf Tolkien oder auf Phantastik im Allgemeinen schlicht keinen Job bekommen. Nachdem ich meinen MA dann in der Tasche hatte, wurde mir klar, dass ein Student der frühbritischen Literatur auch kein attraktiver Kandidat auf dem Jobmarkt war. Als es Zeit wurde, ein Thema für meinen PhD zu finden, habe ich mich also meinen Lieblingsbüchern zugewendet. Tolkiens Worte waren schon immer dazu in der Lage, mich nach Mittelerde zu versetzen und eine gänzlich andere Perspektive einzunehmen. Das schätze ich besonders an seinen Werken – und ich habe das in meine Doktorarbeit übertragen. Diese Wahl war eine gute und richtige Entscheidung. Ich liebe meine Arbeit und durch sie habe ich viele wunderbare Menschen, Fans und andere Tolkien-Wissenschaftler kennengelernt!

Teilzeithelden: Du hast selbst erforscht, wie junge Leser Der Herr der Ringe erleben und wie sie darauf reagieren. Was hat dich an diesem Thema fasziniert – und würdest du einige Erkenntnisse aus dieser Arbeit mit uns teilen?

Luke: Ich habe im Rahmen meines eigenen Lese-Erlebnisses bemerkt, dass sich meine Ansichten und Meinungen zu dem Stoff mit der Zeit ändern. Als ich das realisiert hatte, war ich neugierig darauf, ob und inwiefern jüngere Leser Tolkiens Werke anders wahrnehmen als ältere Leser. Also habe ich eine Studie durchgeführt, in deren Rahmen junge Leser über verschiedene Teile der Bücher befragt wurden. Diese Ergebnisse habe ich mit anderen Wahrnehmungen und Meinungen aus dem Bereich der Tolkien-Studien verglichen, um herauszufinden, wo junge Leser mit diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen übereinstimmen und wo Diskrepanzen bestehen.

Jüngere Leser und Erkenntnisse aus Tolkien-Forschungen stimmen vor allem dahingehend überein, dass die Natur einen sehr wichtigen Platz in den Büchern einnimmt und dass einige der zentralen Themen von Tolkiens Werken Freundschaft und Heldentum sind.

Meine Studie kommt jedoch auch zu dem Ergebnis, dass junge Leser im Gegensatz zu akademischen Erkenntnissen die Geschichte nicht eindeutig als eine klassische Fantasy-Geschichte wahrgenommen, sondern sie gleichermaßen als Quest, als Heldenreise eingeordnet haben. Im Großen und Ganzen fiel es der untersuchten Lesergruppe schwer, die Handlung eindeutig zu klassifizieren, da sie eine Unmenge an verschiedenen Elementen enthält. Das steht der Auffassung einer ganzen Generation von akademischen Studien über Tolkien entgegen, die davon ausgeht, dass sich Der Herr Der Ringe unglaublich nah am Kern des Phantastik-Genres bewegt – und dass andere Texte des Genres daran gemessen werden sollten, wie viele Gemeinsamkeiten sie mit diesem Buch aufweisen.

Anmerkung der Redaktion: Die vollständige Thesis wurde nach dem Zustandekommen des Interviews auf der Website der University of Glasgow veröffentlicht und kann hier in voller Länge eingesehen werden.

Teilzeithelden: Nach deinen Forschungen über junge Leser hast du das Tolkien Experience Project ins Leben gerufen. Was genau ist dieses Projekt und wie hat es begonnen?

Luke: Im Grunde ging es immer um den Aufbau einer Gemeinschaft von Tolkien-Fans. Mit fortschreitenden technologischen Entwicklungen bekommen wir immer mehr Werkzeuge an die Hand, um sehr themenspezifische Gruppen zu finden, denen wir uns anschließen können. Ein Beispiel: Bevor es das Internet gab, hätte ich als Brettspiel- und Tolkien-Fan wahrscheinlich zwei Gruppen angehört: eine zum Thema Tolkien und eine zum Thema Brettspiele. Vielleicht hätte es in diesen getrennten Gruppen ein, zwei Leute gegeben, die, genau wie ich, beide Interessen geteilt hätten. Heutzutage allerdings kann ich mir gezielt die eine Gruppe suchen, die nicht nur Brettspiele oder nur Tolkien, sondern eben Tolkien-Brettspiele behandelt.

Es ist wunderbar, dass wir die Möglichkeit haben, genau diejenigen Gruppen zu finden, die unser spezielles Interesse befriedigt. Ein unbeabsichtigter Nebeneffekt davon ist jedoch, dass größere Fan-Communities sich auf kleinere, spezifischere Communities zersplittern.

Ich wollte also ein Projekt ins Leben rufen, das jeden anspricht, der sich mit Tolkiens Werken (oder eben mit Adaptionen seiner Werke) auseinandersetzt, ungeachtet der Art dieses Auseinandersetzens. So kann sich die Tolkien-Gemeinschaft in einem größeren Kontext zusammenfinden, ohne unbeabsichtigte, aber mit der Zeit entstehende Abgrenzungen mit sich zu bringen. Das Projekt ist mit der Zeit zu einer Möglichkeit gewachsen, wo einfach jeder sein persönliches Tolkien-Erlebnis teilen kann und eben auch verfolgen kann, wie andere die Werke des Autors oder deren Interpretationen erleben.

Teilzeithelden: Angenommen, ich möchte bei diesem Projekt nun ebenfalls mitmachen. Wie würde das ablaufen? Kann wirklich jeder mitmachen?

Luke: Das Tolkien Experience Project ist für absolut jeden offen, und ich ermutige euch alle, mitzumachen! Um genau das zu tun, müsst ihr lediglich die fünf Kernfragen beantworten, um die sich das Projekt dreht:

  1. Wie bist du das erste Mal Tolkiens Werken begegnet?
  2. Welchen Teil von Tolkiens Werken findest du am besten?
  3. Was ist deine schönste Erfahrung, dein schönstes Erlebnis mit Tolkiens Werken?
  4. Hat sich die Art und Weise, wie du an Tolkiens Werke herangehst, mit der Zeit geändert?
  5. Würdest du Tolkiens Werke weiterempfehlen – und warum, beziehungsweise warum nicht?

Eure Antworten können so lang oder kurz ausfallen, wie es euch gefällt. Anschließend sendet ihr mir eure Antworten zu, entweder über das Kontaktformular auf meiner Website oder direkt per E-Mail.

Ich habe bisher Antworten aus jedem Teil der Welt erhalten – und keine zwei Antworten waren einander wirklich ähnlich. Schaut euch gerne auf meiner Seite bereits veröffentlichte Antworten an, wenn ihr sehen möchtet, was andere geschrieben haben. Dann wisst ihr auch direkt, wie euer Beitrag zum Projekt veröffentlicht aussieht.

Teilzeithelden: Was hat dich auf die Idee gebracht, Tolkien-Fans dadurch zusammenzubringen, dass sie teilen, wie sie seine Werke erleben?

Luke: Als ich die Forschungsgruppe für meinen PhD aus jungen Lesern zusammenstellte, bin ich oft auch älteren Tolkien-Lesern begegnet, die ebenfalls an der Studie teilnehmen wollten. Ich musste sie leider aufgrund ihres Alters ablehnen, was mich traurig gemacht hat: Ich habe ihnen das Gefühl gegeben, dass ihre Erfahrung, ihr Erlebnis nicht wichtig genug sei. Das ist erstens nicht wahr und zweitens war das nicht die Botschaft, die ich senden wollte. Ich wollte, dass jeder mitmachen kann, der möchte – also habe ich das Tolkien Experience Project begonnen, sodass jeder, der möchte, seine Erfahrung auf eine bedeutsame Art und Weise teilen kann. 

Teilzeithelden: Das Projekt läuft nun bereits seit einer längeren Zeit. Hast du dir bestimmte Projektziele gesetzt, gibt es bestimmte Meilensteine auf dem Weg? Soll das Projekt irgendwann einmal enden?

Luke: Seit das Projekt 2018 gestartet ist, wurde jede Woche eine neue Einsendung veröffentlicht.

Vor nicht allzu langer Zeit haben wir unseren 100. Eintrag gefeiert – eine schönes Zeichen, dass das Projekt wirklich etabliert ist und von vielen Menschen als wichtiger Teil des Tolkien-Fandoms wahrgenommen wird. Es ist noch kein Ende in Sicht und es ist mir ein Vergnügen, einfach immer weitere Einträge zu veröffentlichen, solange sie mir zugesendet werden!

Dr. Sarah Brown
Dr. Sarah Brown

Teilzeithelden: Vor kurzem hast du gemeinsam mit Dr. Sara Brown den Tolkien Experience Podcast gestartet. Hier führt ihr in einem Zweiwochenrhythmus Interviews mit bekannten Persönlichkeiten aus dem Bereich der Tolkien-Studien. Wie ist aus dieser Idee Realität geworden – und was erwartet Zuhörer, wenn sie einschalten?

Luke: Im Grunde wollten Fans des Projekts die Einträge aus dem Tolkien Experience Project auch hören können. Also habe ich mit meinen Freunden Alan und Shawn vom Prancing Pony Podcast darüber gesprochen. Sie haben mir gezeigt, wie man einen Podcast aufbaut und sind eine große Hilfe! Ich hatte außerdem das große Glück, durch das Besuchen entsprechender Veranstaltungen verschiedene Akademiker aus dem Bereich der Tolkien-Studien und Organisatoren von Fan-Events kennenzulernen, und an die habe ich mich gewandt, um sie als Interview-Partner zu gewinnen. Ich bin nach wie überwältigt von der Freundlichkeit und dem großzügigen Entgegenkommen, auf das ich stoße, wenn ich diese Leute nach einem Interview frage.

Teilzeithelden: Vielen Dank, dass du dir die Zeit für uns und unsere Leser genommen hast, Luke! Gibt es sonst noch etwas, was du mit uns teilen möchtest?

Luke: Tatsächlich gibt es das! Ich wurde vor kurzem zum Herausgeber des Mallorn berufen. Das ist ein jährlich erscheinendes Journal der Tolkien Society, dessen Beiträge Peer-Reviews (dt.: Kreuzgutachten) unterliegen, in welchem Publikationen aus dem Bereich der Tolkien-Studien veröffentlicht werden. Ich möchte dieses Journal allen ans Herz legen, die ein Interesse daran haben, in das akademische Feld rund um Tolkien vorzustoßen. Vielleicht hat eure lokale Bücherei oder Uni-Bibliothek ein Abonnement – oder ihr könnt der Tolkien Society beitreten, um aktuelle (und alle älteren) Ausgaben in die Hände zu bekommen. Außerdem möchte ich mich noch einmal für dieses Interview bedanken – es war mir ein Vergnügen, eure Fragen zu beantworten!

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Fotografien wurden mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt
Titelbild: © The Tolkien Experience
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat und Übersetzung: Alexa Kasparek

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