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Das intergalaktische Imperium steht vor einer Bedrohung, die die gesamte Menschheit auslöschen könnte – aber niemand weiß davon. Nun müssen drei junge Menschen Entscheidungen treffen, um das Chaos im Zaum zu halten. In der opulenten neuen Weltraumsaga von Military-Science-Fiction-Mastermind John Scalzi geht eine dekadente Gesellschaft ihrem Ende entgegen.

Stell dir vor, alle Handels- und Reiserouten brechen mit einem Mal zusammen. Dann stell dir vor, Rohstoffe, Luxusgüter und Verwandte befinden sich nicht etwa in anderen Ländern, sondern in anderen Galaxien, die nun für immer unerreichbar geworden sind. Den Bewohnern von John Scalzis Imperium der Ströme droht nichts Geringeres als die totale Isolation in einer Gesellschaft, die auf maximalen Zusammenhalt ausgelegt ist. Ein umfangreiches und komplexes Thema, das durchaus einen gewissen Gegenwartsbezug hat. Doch düstere Abgesänge auf die Menschheit sind Scalzis Sache nicht, er erzählt den anstehenden Zusammenbruch mit Witz, Charme und viel Ironie. Der erste Band, Kollaps, ist der Einstieg in diese fröhliche Geschichte des Niedergangs.

Story

Über Generationen hinweg hat sich die Menschheit im Weltraum verbreitet und verschiedene Sternensysteme besiedelt. Die Entdeckung der sogenannten Ströme, Tunnel in der Raumzeit, durch die entsprechend ausgestattete Raumschiffe ganze Lichtjahre binnen weniger Monate oder sogar Wochen zurücklegen können, ermöglicht den Zusammenschluss weit entfernter Sternensysteme. Welche Systeme besiedelt werden, bestimmen weder Bewohnbarkeit noch Ressourcen, sondern einzig die Nähe zu einer Strommündung. So kommt es, dass in den 47 Sternensystemen, die gemeinsam das Heilige Imperium der Interdependenten Staaten bilden, tatsächlich kein Planet autark ist. Durch die absolute gegenseitige Abhängigkeit floriert der Handel zwischen den Systemen und die Ströme werden von zahllosen Frachtschiffen bereist, die Waren von einem Ende des Universums zum anderen transportieren. Noch ahnt niemand, dass das bereits seit Jahrtausenden bestehende Reich der Interdependenz bereits dem Untergang geweiht ist.

Durch den plötzlichen Tod ihres Halbbruders wird Cardenia Wu-Patrick jäh aus ihrem Alltag gerissen und nimmt ihren Platz als Thronfolgerin und Imperatox der gesamten Interpendenz ein. Ohne politische Schulung oder sonstige nennenswerte Vorbereitung findet sie sich in einem Minenfeld aus Familienintrigen, höfischen Etiketten und wirtschaftspolitischen Entscheidungen wieder, während die Verantwortung des gesamten intergalaktischen Reichs auf ihren Schultern lastet. Doch ohne ihr Wissen entscheidet sich das Schicksal der jungen Herrscherin auf dem abgelegenen und von Bürgerkriegen zerrütteten Planeten Ende. Hier kommt der Wissenschaftler Jamies Claremont zu einem erschütternden Ergebnis: Die Ströme, unverzichtbare Lebensadern der Interdependenz, werden zunehmend instabil und könnten innerhalb eines Jahres kollabieren. Da die machthungrige Familie Nohamapetan die Alleinherrschaft über Ende anstrebt und Jamies wegen seiner hohen Stellung beobachtet wird, fällt es seinem Sohn Marce zu, die Forschungsergebnisse aus dem System zu schmuggeln und die frischgekrönte Imperatox zu warnen. Keine leichte Aufgabe, denn im Bürgerkrieg um Ende spielt jeder sein eigenes Spiel. Gut, dass die Yes, Sir, That’s My Baby gerade im Hafen liegt, und mit ihr Lady Kiva Lagos, die abgebrühte Erbin einer einflussreichen Handelsfamilie. Gemeinsam machen sie sich auf, das Ende der Menschheit zu verhindern.

Forschungsergebnisse schmuggeln, die Imperatox warnen – ist das schaffbar?

Rivalisierende Familien, eine verborgene Bedrohung und jede Menge flapsiger Weltraumspaß: Kollaps hat durchaus alles, was man sich vom Auftakt zu einer neuen großen Space Opera nur wünschen kann. Allerdings merkt man gelegentlich recht deutlich, dass es sich hier um den ersten Band einer Reihe handelt. Der Plot entfaltet sich zunächst etwas zögerlich, da die komplexe und wohldurchdachte Welt einiger Erklärungen bedarf. Da die Leser vom ersten Kapitel an ahnen, welche Gefahr dem intergalaktischen Reich droht, wartet man ungeduldig darauf, dass auch die Figuren endlich begreifen, was vor sich geht. Sobald die verschiedenen Handlungsstränge, in denen die drei Protagonisten vorgestellt werden, zusammenlaufen und die kollabierenden Ströme zum Dreh- und Angelpunkt der weiteren Handlung werden, ist der schwerfällige Einstieg jedoch fast vergessen. Cardenias Familiengeschichte, die Intrigen der Familie Nohamapetan und die Forschungen von Marces Vater sind nur Teile eines größeren Zusammenhangs, der die Helden vor immer neue Herausforderungen stellt. Die Kunst dabei – und das gilt für die Leser nicht weniger als für die Charaktere – ist, nie den Gesamtzusammenhang aus den Augen zu verlieren und sich darauf zu besinnen, was die wirklich wichtigen Fragen sind. Wieviel Vorbereitungszeit brauchen einzelne Systeme, um sich auf die Isolation vorzubereiten? Was bedeutet es für die intergalaktische Gesellschaft, so unvermittelt aufgespalten zu werden? Und vor allem: Weshalb war das Risiko eines solchen Zusammenbruchs bislang völlig unbekannt?

Der politische Subtext mag gewichtig klingen – eine globalisierte Welt, deren Zusammenhalt plötzlich bröckelt, ist ja durchaus ein aktuelles Thema –, doch Das Imperium der Ströme spielt eher mit Konventionen des Science-Fiction-Genres als mit Bezügen zum Zeitgeschehen. Hier werden Bedingungen und Risiken eines riesigen intergalaktischen Reichs à la Star Wars durchgespielt. Nach und nach kommen dabei die Machtstrukturen und Eigeninteressen zum Vorschein, die einen solchen Zusammenschluss vom ersten Tag an beeinflussen. Scalzi stellt sich hier also in eine Reihe mit anderen modern-subversiven Space Operas wie etwa Ann Leckies Maschinen-Trilogie. Dabei kommen kecke Sprüche und flotte Abenteuer allerdings nicht zu kurz, sodass man hier getrost auch zugreifen kann, wenn man selbst eigentlich kein Fan von verkopfter Science-Fiction ist. Was unter diesem großen und ambitionierten Entwurf ein wenig leidet, sind die Charaktere. Scalzis Hauptfiguren sind durchweg sympathisch, wirken jedoch gelegentlich ein wenig holzschnittartig. Cardenia Wu-Patrick und Marce Claremont werden vor allem über ihre konkreten Rollen definiert. „Die Thronfolgerin“ und „der Wissenschaftler mit den brisanten Forschungsergebnissen“ sind einerseits angenehm vertraute Archetypen, machen es aber andererseits schwer, sie noch als eigenständige Personen zu sehen. Daneben wirkt die permanent fluchende Lady Kiva Lagos, die sich die Handelsreisen für das Familienunternehmen mit allerlei Bettgeschichten versüßt und keine Gelegenheit verstreichen lässt, sich mit den Nohamapetans anzulegen, gleich viel lebendiger. Es steht zu hoffen, dass die Fortsetzung auch den anderen beiden Protagonisten mehr Raum zur Entfaltung bietet.

Schreibstil

Ironie und humoristische Elemente erzeugen Lesevergnügen.

Die Kapitel in Kollaps folgen abwechselnd den drei Hauptfiguren, mit gelegentlichem Fokus auf Mitglieder der Familie Nohamapetan oder anderen Nebenfiguren. Der Wechsel zwischen verschiedenen Perspektiven ist aktuell die vielleicht beliebteste Erzählweise überhaupt, allerdings kommt man mitunter nicht umhin sich zu fragen, ob sie wirklich am besten geeignet ist, in Scalzis komplexe Welt einzuführen. So kommt es gelegentlich zu arg konstruierten Szenen, die eindeutig nur dazu dienen, den Lesern die wichtigsten Zusammenhänge der Interdependenz zu erklären, etwa wenn Marce Claremont mitten im Bürgerkrieg einen astrophysikalischen Vortrag vor einer Gruppe von Grundschülern hält. Niemand bildet sich auch nur einen Moment ein, dass solche Szenen später wichtig werden, sie sind reine Exposition. Bei einem Film könnte man vermutlich darüber hinwegsehen, aber Romane bieten doch deutlich mehr Möglichkeiten, solch grundlegende Informationen zu verpacken. Möglichkeiten, die weitgehend ungenutzt bleiben. Dieses Problem gibt sich allerdings, sobald die Handlung voranschreitet und die Welt ausreichend etabliert ist.

Ansonsten garantieren Scalzis leicht ironischer Ton und die humoristischen Elemente, mit denen der Roman gespickt ist, ein durch und durch vergnügliches Leseerlebnis. Das Vokabular seiner Figuren schwankt zwischen flapsig und deftig, es wird viel und ausgelassen geflucht und die Namen der Raumschiffe scheinen überwiegend Songzitate zu sein. Die eindeutige Stärke liegt bei den Dialogen zwischen den verfeindeten Parteien. Wenn Kiva Lagos mit Weltraumpiraten verhandelt oder Cardenia sich als Imperatox den subtilen verbalen Angriffen ihrer politischen Gegner ausgesetzt sieht, ist der Unterhaltungsfaktor groß.

Der Autor

John Scalzi wurde 1969 in Kalifornien geboren. Er studierte Philosophie in Chicago und begann anschließend seine Karriere als freischaffender Autor, verfasste Kolumnen und Filmrezensionen. Seine Liebe zur Science-Fiction-Literatur reicht bis in seine Kindheit zurück, die Entscheidung, selbst in diesem Genre zu schreiben, kam jedoch erst später. Sein 2005 erschienenes Romandebüt Krieg der Klone wurde sofort für den Hugo Award nominiert. Die erfolgreiche Military-Science-Fiction-Saga wurde in fünf Bänden fortgesetzt. Sie ist wie Scalzis anderen Werke massiv von Autoren des Golden Age of Science-Fiction und insbesondere Robert A. Heinlein beeinflusst. Entsprechend versteht sich Der wilde Planet von 2011 als Hommage an H. Beam Pipers Little-Fuzzy-Trilogie aus den Sechzigern.

2013 gewann Scalzi mit der Star Trek-Persiflage Redshirts sowohl den Hugo als auch den Locus Award. Spätestens seitdem gilt er als einer der wichtigsten Science-Fiction-Autoren der Gegenwart, um den es so schnell nicht wieder still werden wird. 2015 unterzeichnete er einen millionenschweren Vertrag über 13 Romane mit Tor Books. Um sich die Wartezeit auf die Fortsetzung von Das Imperium der Ströme (die im Oktober unter dem Titel The Consuming Fire im Original erscheinen wird) zu versüßen, können sich deutsche Fans bereits auf Frontal freuen, einen alleinstehenden Zukunftsthriller, der in der Welt von Das Syndrom (2014) spielt.

Erscheinungsbild

Das Cover sieht aus wie zahllose andere Military-Science-Fiction-Romane: Im dunklen All fliegt ein Raumschiff auf einen blauen Planeten zu. Ein Muster weißer Linien, das ein wenig an einen alten Windows-Bildschirmschoner erinnert, soll vermutlich die Ströme darstellen. Die Schrift ist recht groß, der Satz angenehm zu lesen und es gibt keine besonderen Auffälligkeiten.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Fischer Tor
  • Autor: John Scalzi
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Sprache: Deutsch (aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernhard Kempen)
  • Format: Broschiert
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN: 978-3-5962-9966-9
  • Preis: 14,99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon (auch in Originalsprache und als Hörbuch)

 

Fazit

John Scalzis Kollaps ist ein solider Start in eine spannende Weltraumsaga über das drohende Ende eines riesigen Imperiums. Seine Welt ist kreativ und vor allem konsequent gestaltet, ohne dabei je kompliziert zu werden. Damit ist Das Imperium der Ströme extrem einsteigerfreundliche Science-Fiction, die zeigt, wie gutes Worldbuilding geht. Aber auch alteingesessene Fans dürften hier auf ihre Kosten kommen. Die Prämisse eines ausgedehnten Reiches, dessen Handelswege sich plötzlich schließen, dürfte das Interesse an der weiteren politischen Entwicklung der Interpendenz noch über mehrere Fortsetzungen hinweg sichern.

Leider geht, was bei ersten Bänden häufig der Fall ist, die umfassende Exposition ein wenig auf Kosten der Story, die zwar von Anfang an eine gute Geschwindigkeit anschlägt, aber während der ersten Hälfte immer wieder von Erklärungen ausgebremst wird. Ähnlich verhält es sich mit den Figuren, die von der deutlich lebendigeren Welt etwas überschattet werden. Dennoch garantiert Scalzis unnachahmlich humorvoller Unterton, der einen durch Weltraumverfolgungsjagden genauso begleitet wie durch politische Debatten, ein sehr unterhaltsames Leseerlebnis. Wer eine moderne Space Opera sucht, für deren Lektüre man nicht wenigstens drei Nachschlagwerke und ein Notizbuch braucht, ist hiermit bestens beraten.

Artikelbild: Fischer Tor, Bearbeitung: Roger Lewin
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

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