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Was steht in deiner Tischrollenspiel-Kampagne auf dem Spiel und worum geht es wirklich? Allein schon diese Frage zu stellen, wird in manchen Kreisen für unnötig oder gar blasphemisch erachtet. Doch wer sie in den richtigen Kontext stellt, kann sie sich zunutze machen.

Es ist Dienstagabend. Das Chili blubbert auf dem Herd, meine Freundinnen sitzen um den Küchentisch, halten endlich die Klappe, schauen mich erwartungsvoll an und ich frage: „Also, was habt ihr letztes Mal erlebt?“

Woran ich in diesem Moment definitiv nicht denke, ist die Albtraumfloskel „In der letzten Sitzung ging es um …“ Schließlich ist die letzte D&D-Sitzung keine Mittelstufenpflichtlektüre, über die meine Spielerinnen einen Aufsatz schreiben müssen. Nein, sie erzählen, was ihre Charaktere gemacht haben, als hätten sie es selbst erlebt. Natürlich machen sie sich keine Gedanken darüber, welches literarische Thema sie dieser Geschichte überordnen können.

Aber ich als Spielleiterin? Was erhoffe ich mir denn vom Leiten, wenn nicht gemeinsam mit meinen Spielenden ein Abenteuer erleben, eine Geschichte erzählen? Und jede Geschichte hat doch ein Thema, egal wie trivial. Also, was war das Thema der letzten Sitzung? Und was ist das Thema meiner ganzen Kampagne?

Plot und Story

Ob die Auseinandersetzung mit literarischen Themen im Rollenspiel sinnvoll ist sind oder nicht, können wir nur feststellen, wenn wir uns die narrative Aufgabenverteilung zwischen Spielleiterin und Spielenden genauer anschauen. Auf den ersten Blick gibt die Spielleiterin als oberste Erzählinstanz den Ton an, also muss sie auch für die Themenwahl verantwortlich sein, oder? Aber hat sie tatsächlich die gleichen Mittel, eine Geschichte zu erzählen, wie eine Roman- oder einer Drehbuchautorin?

Im Creative Writing unterscheiden wir zwischen den beiden narratologischen Begriffen story und plot. Die story umfasst die Geschichte, wie man sie als Leserin, Zuschauerin oder Spielerin wahrnimmt. Der Ablauf jeder Szene, jeder Abschweifung ist darin eingeschlossen, auch derjenigen, die nur zur Atmosphärenbildung da sind.

Der plot hingegen bildet das Handlungsgerüst der story. Wenn man den plot einer Geschichte wiedergibt, wird dabei nur aufgezählt, was essenziell und wichtig für die kausale Kette der Ereignisse ist. Beispielsweise geben die meisten inhaltlichen Zusammenfassungen den Plot eines Romans wieder, anstatt jede einzelne Szene wiederzugeben.

Anhand dieser Unterscheidung lässt sich auch erklären, warum es manchmal so schwierig ist, den Verlauf einer Sitzung für Außenstehende (oder gar für sich selbst) zusammenzufassen. Ein Blick in die Notizen verrät womöglich den Namen eines denkwürdigen Barkeepers, doch nicht seine Relevanz für die Kampagne. Eine ganze Sitzung lang können sich die Spielenden ziellos in der Stadt herumtreiben. Aber fügt sie sich auch nur im Entferntesten in die Kausalkette, den plot, der sie näher zur Auflösung des Kampagnenrätsels bringt? Nein. Wird der Abend, an dem sie sich ohne triftigen Grund in fliegende Kühe verwandelt haben, als einer der unterhaltsamsten in die story, die Legende des Freundeskreises eingehen? Definitiv.

Ein solches Handlungsgerüst mag die Spielleiterin zwar entwerfen, aber da ein Tischrollenspiel im Gegensatz zu einem Roman ein interaktives Medium ist, haben auch in diesem Schritt die Spielenden einen gewaltigen Einfluss. Am Ende einer Sitzung kann es durchaus sein, dass die Spielleiterin ihre plot-Skizze anschaut und nichts davon in die Tat umgesetzt wurde.

Um den plot herum werden außerdem das Setting, die Figuren, der Konflikt, das Thema, der Stil gebaut. Die Charaktere der Spielenden sind die Hauptfiguren, die durch ihr Verhalten in Konflikt mit ihrer Umgebung geraten, und wie genau sie das tun, gibt die Grundatmosphäre des Spiels an. Die Spielleiterin hingegen legt das Setting fest, einen Gutteil der Nebenfiguren, idealerweise die Grundsteine für den Hauptkonflikt der Kampagne und – zumindest diesen narratologischen Prinzipien zufolge – das Thema.

Was zeichnet ein literarisches Thema aus?

In angelsächsischer Erzähltradition ist ein theme der Grundgedanke eines fiktiven Werkes. Von jung auf wird Amerikanerinnen im Englischunterricht eingepaukt, dass sich Geschichten auf einen Begriff reduzieren lassen: In Romeo und Julia geht es um Liebe, in Saving Private Ryan geht es um Krieg, in Dishonored geht es um Rache. Dass es in der überwältigenden Mehrheit der Fälle in einer Geschichte um mehr als eine Sache geht und viele Themen mehr als ein Wort zum Umreißen brauchen, fällt dabei unter den Tisch.

Viele Themen – oder verwandte Begriffe wie Stoffe und Motive – umschreiben nicht eine einzige menschliche Emotion oder ein Phänomen, sondern vielmehr den Konflikt zweier widersprüchlicher Prinzipen. In Minority Report zum Beispiel lassen sich alle Figuren auf eine Seite der klassischen SciFi-Dualität „Sicherheit gegen Freiheit“ einordnen.

So kann eine Spielleiterin beispielsweise ein Mittelaltersetting an der Schwelle zur Renaissance entwerfen, in dem alle Fraktionen sich letztendlich in den Grundkonflikt von „Fortschritt gegen Tradition“ einordnen lassen. Literarische Themen stellen idealerweise eine Hilfestellung dar, um die herum sich eine Welt bauen lässt oder Akteure einordnen lassen.

Literarische Themen stellen idealerweise eine Hilfestellung dar, um die herum sich eine Welt bauen lässt oder Akteure einordnen lassen © mik38
Literarische Themen stellen idealerweise eine Hilfestellung dar, um die herum sich eine Welt bauen lässt oder Akteure einordnen lassen © mik38

Am Küchentisch schaut niemand zu

Nun ist ein Tischrollenspiel kein Roman, kein Film, kein Computerspiel. Bloß weil es narrative Strukturen produziert, heißt das nicht, dass es denselben Kriterien unterliegt. Vor allen Dingen unterscheidet es sich in einem Punkt von diesen Medien: Es hat keinen Adressanten. Ziel eines Tischrollenspiels ist es, die daran teilhabenden Personen zu unterhalten – nicht etwaige Zuschauerinnen.

Die durchschnittliche Tischrollenspielerfahrung ist nicht poliert und auf externe Unterhaltung ausgerichtet wie beispielsweise die Streaming-Webserie Critical Role, und das soll sie auch gar nicht sein! Griffin McElroy, ehemaliger Spielleiter von The Adventure Zone, betonte, dass er das System D&D in seinem Podcast als Storytelling-Tool benutzte, um zusammen mit Spielern sein Publikum mit einer spannenden und bewegenden Geschichte zu unterhalten. Hätten sie alleine in ihrer Küche gespielt, würde seine Kampagnengestaltung ganz anders aussehen.

Damit möchte ich diesen Shows nicht ihren Mehrwert für die Rollenspiel-Szene abstreiten. Im Gegenteil, ihre innovative, gemeinschaftliche Art, Geschichten zu erzählen ist es, was mich überhaupt an dem Medium Tischrollenspiel fasziniert. Allerdings können falsche Erwartungen für die eigene Spielrunde geweckt werden, wenn man sie mit solchem Actual-Play-Entertainment vergleicht.

Dabei haben die Spielleiter der oben genannten Shows selbst gar keine bewusste Themenwahl getroffen. Star-DM Matthew Mercer hat erst in einem Talkshowformat im Gespräch mit dem Moderator und einem seiner Spieler ein grobes Thema für seine zweite Kampagne herausgearbeitet.

Actual-Play-Streams sind eine innovative, gemeinschaftliche Art, Geschichten zu erzählen - können aber falsche Erwartungen wecken.
Actual-Play-Streams sind eine innovative, gemeinschaftliche Art, Geschichten zu erzählen – können aber falsche Erwartungen wecken. © Orkenspalter TV, Critical Role, The Invictus Stream, Ablage C

Themen säen

Doch kehren wir unserer Ausgangsfrage zurück: Sind literarische Themen im Pen&Paper überschätzt? Ich glaube nicht. Sie sind ein Werkzeug, nicht mehr und nicht weniger. Es liegt in der Hand der Spielleiterin, ob und wie sinnvoll es eingesetzt wird.

Aus Furcht, ihren Spielenden etwas aufzuzwingen, lassen viele Spielleiterinnen das Hilfsmittel lieber im Werkzeugkasten. Doch wer es sich nicht zunutze macht, nimmt in Kauf, dass Gewohnheit und Konvention einem die Entscheidung abnehmen. In jeder Geschichte liegen Themen vergraben, und wer nicht bewusst etwas Neues pflanzt, soll sich nicht wundern, wenn am Ende immer wieder dasselbe wächst. Wenn, dann werden Themenüberlegungen eher unterschätzt!

Damit meine ich nicht, dass man sich als Spielleiterin beim Konzipieren einer neuen Kampagne vor ein leeres Blatt Papier setzt und zuallererst ein Thema niederschreibt. Oft ergeben Themen sich aus der Überlegung, welches Setting man wählt und wer oder was die treibenden antagonistischen Kräfte der Kampagne sein sollen.

Genres und Standardthemen

Die meisten Runden, in denen niemand bewusst ein Thema gewählt hat, fallen auf die Mainstream-Themen der entsprechenden Genres zurück: In einem traditionellen, tolkienschen Fantasy-Setting beispielsweise spielt die Dualität von Gut und Böse eine große Rolle. So können im gleichen Genre interessante und vielfältige Geschichten erzählt werden.

Es ergibt zwar keinen Sinn, in einem taktischen Kriegsrollenspiel das Innenleben einer Hausfrau erforschen zu wollen, wenn es dafür keine mechanischen Mittel gibt. Doch warum nicht in Star Trek Adventure die Schwierigkeit von Fernbeziehungen thematisieren? Oder eine Flüchtlingskrise in einem mittelalterlichen Fantasy-Setting als Ausgangssituation für die Party nehmen? Schließlich entstehen neue Genres und Settings nur durch Mut zur Innovation und Ausprobieren. Brecht mit euren Gedankenexperimenten Erzählkonventionen und lasst eurer Fantasie bei der Themenfindung freien Lauf!

Ein Themenfeld, mehrere Schwerpunkte

Wie auch immer das Thema aussieht, das man wählt, muss man bedenken, dass der Fokus innerhalb der Thematik nicht zwangsläufig für alle Spielenden genau derselbe ist. Selbst wenn sich eine Spielerin keinerlei Hintergrundgeschichte für ihre Figur überlegt hat, bringt sie trotzdem Fragen mit, die sie beschäftigen und ihren eigenen Blick auf das Thema prägen.

Sobald mehrere Erzählinstanzen an einer Geschichte „schreiben“, wird das Thema unspezifischer. Im schlimmsten Fall geht der gemeinsame Nenner verloren. Wenn eine Spielerin sich in einem psychologischen Thriller über Identitätsüberschreibung glaubt, aber der Sitznachbar einer Verwechslungskomödie frönt, könnte diese Gruppe schnell auseinanderbrechen.

Als Spielleiterin kann man durch das Etablieren eines weiten Themenfeldes gegen solche Tendenzen ansteuern. Man muss nur den Spielenden einen ihrem Charakter einzigartigen Standpunkt geben – oder in Plot-Dimensionen gedacht, einen hook.

Geht der gemeinsame Nenner verloren, kann die Gruppe auseinanderbrechen © chungking | fotolia.de
Geht der gemeinsame Nenner verloren, kann die Gruppe auseinanderbrechen © chungking | fotolia.de

Session 0: Eine gemeinsame Themenfindung?

Zwangsläufig ergibt sich die Frage: Wenn eine solche Gefahr der tonalen Dissonanz besteht, sollte ich mir als Spielerin nicht im Vorhinein Gedanken um das Thema der kommenden Kampagne machen? Oder mir gar gemeinsam mit den anderen Spielenden in einer ersten Sitzung bei der Charaktererstellung schon ein Kampagnen-Thema überlegen?

Davon würde ich dringend abraten. Ein solches Metawissen kann die Immersion der Spielenden schwer beeinträchtigen. Wer hat schon Lust, eine ehrenvolle Quest in Angriff zu nehmen, wenn einem die ganze Zeit das Thema Verrat im Hinterkopf schwebt?

Viele Alteingesessenen beschweren sich, ihr Hobby werde politisiert. Man habe keine Lust, auf tagesaktuelle Themen hingewiesen zu werden. Selbstverständlich verstehe ich den Impuls, die Probleme des Alltags hinter sich lassen und voll und ganz in eine andere Welt abtauchen zu wollen. Dabei muss man allerdings im Hinterkopf behalten, dass zum Beispiel meine Realitätsflucht anders aussehen kann als die einer potenziellen Mitspielerin.

Ich habe beispielsweise keine Lust, in einem Setting zu spielen, in dem mein Charakter wegen seiner sexuellen Orientierung von NSC angefeindet wird – davon habe ich in der Realität schon genug, vielen Dank. Währenddessen möchte ein anderer Mitspieler nicht an Klimakatastrophen erinnert werden, und wieder jemand anders hat eine Spinnenphobie.

Insofern ist es sinnvoller, gemeinsam festzulegen, was in einer Kampagne nicht thematisiert werden soll, als andersherum: In vielen Runden beispielsweise möchten Spielende nicht mit sexueller Gewalt in Berührung kommen. Jede solche Einschränkung ist legitim und wichtig, um ein gutes Spielerlebnis zu gewährleisten. Schließlich sind wir da, um Spaß zu haben und mitzufiebern, nicht, um in schmerzvollen Wunden herumzustochern.

Nur keine Scheu davor, gescheiterte Ideen fallen zu lassen! ©  euthymia | fotolia.de
Nur keine Scheu davor, gescheiterte Ideen fallen zu lassen! ©  euthymia | fotolia.de

Zu guter Letzt: Bleib anpassungsfähig!

Gehen wir davon aus, dass meine Gruppe sich über No-Go-Themen abgesprochen hat und alle eine Übereinkunft getroffen haben. Wie finde ich als Spielleiterin das richtige Thema für meine Kampagne? Woher weiß ich, dass die verrückte Idee, die noch nie ein Mensch zuvor gespielt hat, nicht nach zwei Sitzungen superlangweilig wird?

Ein gutes Thema ist ein wandelbares. Ein Kaleidoskop, das immer wieder neue Facetten aufweist, die deine Spielenden aufdecken. Habt keine Angst, Aspekte, die ihr an einer Thematik interessant fandet, fallenzulassen! Selbst beim Verfassen von Romanen finden Autorinnen beim Schreibvorgang selbst heraus, dass ihre Figuren ein Eigenleben entwickelt haben und überraschende neue Themen anstreben.

Das gilt erst recht, wenn diese Figuren von anderen Menschen gesteuert werden. Als Spielleiterin muss man also flexibel sein, was seine Themen angeht, ansonsten läuft man Gefahr, die Party thematisch zu railroaden. Wenn man merkt, dass sich eine Spielerin mit einem bestimmten Thema beschäftigt, gibt man ihr Ereignisse und Konflikte, die dieses widerspiegelt und an dem sie sich abarbeiten kann.

Hat beispielsweise die Schurkin einer Gruppe sich geschworen, den Mord an ihrem Bruder zu rächen, entwirf einen NSC, der durch Selbstjustiz zum Antagonisten geworden ist. Sobald sie ihm begegnet, wird sie sich entweder neu positionieren oder in ihrer Haltung bestätigt sehen. Zu keinem Zeitpunkt werden deine Spielenden denken: „Oh, in der heutigen Sitzung ging es um Rache.“ Nein, sie werden vom Showdown gegen den rachegeblendeten Adligen erzählen oder von der Flucht vor der selbstgerechten Sicherheitschefin und ihren Untergebenen.

Und damit kommen wir zum Kern der Sache: Literarische Themen sollen keine abstrakten Konzepte sein, die man einer Geschichte überstülpt. Sie bilden den Unterbau einer Kampagne. Genauso, wie diese sich in alle Richtungen ausbreitet, kann man als Spielleiterin neue thematische Gebiete erschließen. Schließlich macht es niemandem Spaß, an einer Idee kleben zu bleiben, die man vor Jahren mal auf ein Blatt Papier gekritzelt hat.

Titelbild: © alphaspirit | depositphotos

Über die Autorin

Lara De Simone ist freie Autorin in den Bereichen Games, TV und Belletristik. Am Rollenspiel fasziniert sie das narrative Potential, das dem gemeinsamen Erzählprozess zwischen Spielleitung und Spielenden innewohnt. Wer mit ihr D&D spielen oder einfach ein Café trinken möchte, kann in Hamburg mit dem Suchen anfangen.

 

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