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Kaufabenteuer bieten neben der spannenden Geschichte und der (hoffentlich) gut ausgearbeiteten Story-Struktur für die Spielleitung vor allem einen Vorteil: Die Chance, dass Spieler*innen unterschiedlicher Spielrunden sich im Anschluss über das mehrfach geleitete Abenteuer austauschen können! Denn selbst mit gleichen Startbedingungen können sehr unterschiedliche Enden erreicht werden. Ein Erfahrungsbericht.

Da mit dem Beginn der Kontaktbeschränkungen unsere laufenden Runden am Tisch erstmal gestrichen waren, bot ich im Freundeskreis als Ausgleich eine regelmäßige Online-Runde an. Mein Vorschlag, ein Kaufabenteuer für Call of Cthulhu zu leiten, wurde von meinen Freund*innen nur zu gerne aufgegriffen: Anstatt der erwarteten drei oder vier bekam ich sieben Zusagen für eine Online-Runde.

Einmal ist keinmal

Um die Gruppengröße nicht zu sprengen, entschloss ich mich, die Gruppe aufzuteilen und je eine feste Spielrunde montags und dienstags anzubieten. Die Vorstellung, zwei unterschiedliche Abenteuer vorbereiten zu müssen, schreckte mich zuerst wegen des Aufwands ab. Als Alternative entschied ich, für beide Gruppen das gleiche Modul parallel zu leiten. Der Aufwand, so mein Gedanke, blieb in etwa gleich und versprach in der Theorie doppelten Spielspaß. Hinzu kam, dass ich selbst geschriebene wie gekaufte Abenteuer bisher immer nur einmal geleitet hatte. Inwiefern sich bei mehrfach geleiteten Abenteuern Abweichungen ergeben, wusste ich nicht. Hier bot sich die Chance zu einem Abgleich: Wie gehen unterschiedliche Charaktere mit gleichen Hinweisen um? Verlaufen Handlungswege eher parallel oder in komplett andere Richtungen? Und wie sehr beeinflussen ihre Entscheidungen das Ende des Abenteuers? Beflügelt von diesen Fragen machte ich mich an die Vorbereitung des Moduls.

Ein moderner Kriminalfall

The Things we leave behind © Stygian Fox

Meine Wahl des Abenteuers fiel schnell auf das Modul Ladybug, Ladybug, fly away home vom Autor Jeff Moeller aus dem Band The things we leave behind vom Stygian Fox Publishing. Alle Abenteuer in diesem Sammelband werden von den Verfasser*innen selbst als „Mature Content“ eingestuft. Im gewählten Abenteuer werden neben einer zentralen Kindesentführung auch Suizid, ständige Überwachung und religiöser Fanatismus angesprochen. Ohne die Wendungen vorwegnehmen zu wollen, hier eine kurze Übersicht zur Handlung: Mitten am Tag wird die kleine Regina Balfour, ein fünfjähriges Mädchen mit chronischen Krankheiten, während eines Überfalls in einem Supermarkt den Händen ihrer Mutter entrissen und von einem unbekannten Täter entführt. Der Täter sorgt, kurz nachdem das Mädchen von einem Mittäter im Wagen weggebracht wird, für einen Aufruhr im Laden und begeht Selbstmord.

Im Abenteuer können die Spieler*innen die Rolle der ermittelnden Behörden sowie zugeschalteten Experten oder interessierten Außenstehenden übernehmen, die versuchen, das kleine Kind möglichst schnell zu finden, da es ohne richtige Medikation nach spätestens einer Woche zu sterben droht. Während der Ermittlung merken die Investigatoren schnell, dass die Entführung von Regina kein Zufall sein kann und irgendwie mit den merkwürdigen religiösen Ansichten der Sekte, welche die Eltern organisieren, zusammenhängen muss.

Gleiches Rezept, unterschiedliche Zutaten

Was die Charakteroptionen betraf, konnten beide Gruppen entsprechend der Ausgangslage des Moduls Investigator*innen erstellen und spielen, die in dem vorliegenden Fall einer Kindesentführung üblicherweise hinzugezogen werden können. Die Zusammenführung und Konstellation der Charaktere in beiden Gruppen ähnelten sich dementsprechend von außen betrachtet: Ein bis zwei hauptverantwortlich ermittelnde Beamte, eine Person für medizinische Fragen sowie hinzugezogene Expert*innen für den Fall. In der genaueren Betrachtung zeigten sich jedoch schon zu Beginn persönliche Eigenheiten, welche die Dynamik innerhalb der Gruppen bestimmen sollten. Dazu zählten neben persönlichen Schwächen und Abhängigkeiten der Charaktere auch die Art, wie neue Informationen mit dem Rest der Gruppe geteilt wurden und wie sie auf die ominösen Bedrohungen im Verlaufe des Abenteuers reagierten.

Die Ermittlungen in der Montagsrunde wurden von einem forschen FBI-Agenten geleitet, der sich darum bemühte, den sehr analytischen Psychiater und die charmante Esoterikerin in Einklang zu halten. In der Dienstagsrunde hingegen teilten die ordentliche FBI-Agentin und die sorgfältige Polizistin die Verantwortung für den Fall unter sich auf. Hilfe erhielten sie durch einen berechnenden Psychiater sowie einen manischen Religions-Dozenten. Trotz des gleichbleibenden Starts in das Abenteuer war durch die jeweiligen Konstellationen klar, dass hier ganz unterschiedliche Zutaten verwendet werden sollten.

Das Spiel beginnt

Meine erste Vermutung bewahrheitete sich prompt: Mit den gleichen Hinweisen an der Hand nutzten die Spieler*innen ihre jeweiligen ersten Sitzungen, um erste Proben zu würfeln und ihre Charaktere auszuspielen. Entsprechend ihres Hintergrunds waren die SC mit unterschiedlichen Anfangsinformationen ausgestattet, die nach und nach im Spiel untereinander ausgetauscht wurden. Alle wichtigen Hinweise wurden hierfür in einem Online-Dokument für die jeweilige Gruppe von den Spieler*innen festgehalten. Im Verlauf der Handlung wurde beiden Gruppen schnell klar, dass der Fall mit der Krankheit der kleinen Regina eine zeitliche Deadline beinhaltete, die es zu beachten galt.

Dementsprechend begannen die Charaktere teilweise zusammen, teilweise im Alleingang nach weiteren Hinweisen für die laufende Ermittlung zu suchen. Die Ermittlung war der Kern der Handlung für die folgenden Spieleabende, welcher immer wieder durch humorvolle Bezüge zum zeitlichen Kontext aufgefrischt wurde. Außerdem wurden beide Gruppen nach und nach der weiteren, okkulten Bedrohung des Abenteuers gewahr, welche im Verlauf immer relevanter wurde.

Wie die Würfel fallen

Im Verlauf der Sitzungen drifteten beide Geschichten immer mehr voneinander ab, etwa durch die individuelle Reihenfolge, in der Orte und Hinweise untersucht wurden, oder die einzigartigen Ideen, mit denen die Spieler*innen versuchten, den Fall zu lösen. Wo die eine Gruppe Hinweise besonders gründlich prüfte, beachtete die andere Gruppe jene Informationen kaum. Regelmäßig war ich als Spielleiter gefordert, indem ich auf Rückfragen mit schlüssigen Aussagen reagieren musste, die durch das Modul nicht direkt abgedeckt waren.

Natürlich spielte auch Würfelglück eine entscheidende Rolle für den Ablauf des Abenteuers. Während ein kritischer Erfolg einen besonderen Hinweis zu Tage förderte oder eine schlimme Situation gerade noch abwenden konnte, bedeutete ein Patzer das Ende der Hinweissuche und den Beginn einer Konfliktsituation. Als Beispiel sei nur eine kurze Episode der Dienstagsrunde erwähnt, wo eine harmlose Rückfrage innerhalb eines Museums nach mehreren mäßigen Würfen und einem forcierten Patzer damit endete, dass die ermittelnden Investigatoren vom Rest der Gruppe abgeholt wurden, damit sie die Nacht nicht unter Polizeibewachung verbringen mussten.

Eine Frage der Moral

Ebenfalls entscheidend war die Weltsicht beziehungsweise das Moralverständnis der einzelnen Charaktere. Gerade wenn im Abenteuer ein ambivalentes Thema behandelt wird, kann es schnell zu ethischen Diskussionen im Spielverlauf kommen. Ein ausschlaggebender Punkt war in beiden Gruppen außerdem, ob die einzelnen Charaktere versuchten, die okkulten und mythischen Bedrohungen wissenschaftlich zu erklären, zu ignorieren oder ihre Existenz zu akzeptieren. Die unterschiedlichen Verhaltensweisen sorgten für viel Charakterspiel und endeten letztlich in beiden Gruppen mit einem „Verrat“, wo ein Charakter sich zum Finale hin gegen die Ziele der restlichen Gruppe stellte.

Abseits von dieser Spaltung waren die jeweiligen letzten Spieleabende kaum miteinander vergleichbar. Während die eine Gruppe in die Initiative ging und direkten Konflikt suchte, hielt die andere Gruppe sich bedeckt und wurde entsprechend heimgesucht. Beide Enden entsprachen im Übrigen nicht dem Finale, dass im Modul beschrieben und erklärt wurde: Die Charaktere hatten mit ihren Handlungen jeweils ein eigenes, halbwegs „gutes“ Ende gefunden.

Und? Wie war es bei euch?

Nach einer kurzen Verschnaufpause von ein paar Tagen führte ich mit den Spieler*innen ein abschließendes Gespräch zum Modul, wo beide Gruppen abwechselnd von ihren Erfahrungen und Entscheidungen berichten konnten. Hier erwiesen sich vor allem die ordentlich geführten Notizen über den Ermittlungsverlauf als besonders wertvoll, da sie eine gute Übersicht über den Verlauf und die Gedanken der jeweiligen Gruppe boten. Aus den Notizen heraus wurden die wilden Theorien besprochen, die sich während des Abenteuers zu gewissen Handlungspunkten angesammelt hatten, oder witzige Situationen erzählt, die durch die Patzer entstanden waren. Außerdem konnte ich Rückfragen zu offenen Hinweisen beantworten und mir allgemein Feedback zu beiden Runden in einer offenen Diskussion anhören. Meine Spieler*innen waren insgesamt sehr froh über die Aufteilung, da sie so mehr Chancen hatten, ihre Charaktere besser auszuspielen. Der abschließende Vergleich war für sie wie ein Blick in eine Paralleldimension und verdeutlichte, welche kleinen Entscheidungen bereits für Unterschiede in der Geschichte gesorgt hatten.

Mein Fazit

Abschließend betrachtet halte ich für mich fest, dass der Aufwand in Vorbereitung und parallele Ausführung eines mehrfach geleiteten Abenteuers größer war, als ich ursprünglich angenommen hatte. Sehr schnell begannen die beiden Ermittlungsverläufe durch Entscheidungen der Spieler*innen sowie deren Würfelglück voneinander abzuweichen, was eine Anpassung der Handlungsoptionen nach sich zog. Trotzdem hat sich das Experiment für mich gelohnt, da ich nicht nur zwei kreative Enden miterleben und gestalten durfte, sondern anschließend zuhören konnte, wie beide Gruppen einander begeistert von ihren Entscheidungen und Würfen erzählen konnten. Solltet ihr euch demnächst in einer ähnlichen Situation befinden und die nötige Vorbereitung leisten können, lautet mein Fazit: Probiert Parallelrunden aus!

Eigens erprobte Tipps für die Vorbereitung einer Parallelrunde:

  1. Bereite das Modul der Wahl gut vor. Eine gute Übersicht über die Handlung am Anfang erspart dir viele Korrekturen im Nachgang.
  2. Jede Gruppe bewegt sich anders – vertraue nicht darauf, dass sich das Vorgehen der Gruppen gleich verhält. Ein paar allgemeine Namen für NPC und Orte sind in spontanen Situationen äußerst hilfreich.
  3. Hab keine Scheu davor, kritische Würfe und Patzer gleichermaßen in die Handlung einfließen zu lassen. Beide Extreme hängen oftmals mit jenen Momenten zusammen, die allen Spieler*innen am ehesten in Erinnerung bleiben.
  4. Lass beide Gruppen ihren Abenteuer-Verlauf mitschreiben, damit alle wissen, an welchem Punkt der Geschichte sie sich befinden.
  5. Biete, wenn möglich, ein Nachgespräch für beide Gruppen zusammen an, wo über den jeweiligen Verlauf und die Unterschiede der beiden Runden gesprochen werden kann. Von einer spannenden Runde zu erzählen bereitet immer Spaß!

 

Artikelbilder: © cunaplus | depositphotos, © Stygian Foy
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Nina Horbelt

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