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Der Weltuntergang hat stattgefunden, schlimmer kann es nicht mehr kommen? Nun ja – in Apocthulhu müssen Charaktere sich in einer postapokalyptischen Misere zurechtfinden, in der es von Wesen aus H.P. Lovecrafts Cthulhu-Mythos nur so wimmelt. Dementsprechend kniffelig ist es, darin Leben und geistige Gesundheit zu behalten.

Seit Jahrzehnten bekämpfen Rollenspielende als furchtlose Investigator*innen die Alten Götter und andere Wesenheiten des Cthulhu-Mythos, nicht selten, um eine Apocalypse-by-Elder-God zu verhindern. Doch was, wenn sie scheitern? Apocthulhu beschäftigt sich mit dem Leben nach dem Weltuntergang und bietet Inspirationen für diverse postapokalyptische Schreckensszenarien.

Die Spielwelt: Choose Your Own Apocalypse

Etliche Geschichten aus H.P. Lovecrafts Cthulhu-Mythos handeln von düsteren Prophezeiungen, in denen mächtige Wesen, die nicht von unserer Welt stammen, und allerlei andere mystische Schrecken die menschliche Zivilisation zu unterwerfen oder gar ganz auszulöschen drohen. In Apocthulhu hat genau das schon stattgefunden. Wir befinden uns in einem post-apokalyptischen Szenario. Was genau aber passiert ist, wie lange es her ist und wie die Spielwelt im Detail aussieht, ist den Spielenden beziehungsweise der jeweiligen Spielleitung selbst überlassen: Hat der König in Gelb die Macht übernommen oder Nyarlathotep das ewige Chaos entfesselt? Ist gar Cthulhu selbst in R’lyeh aus seinem Äonenschlummer erwacht?

Das kann frei nach Geschmack entschieden werden und lässt sich gegebenenfalls sogar in eine bestehende Kampagne einbauen – schließlich ist das Scheitern einer Gruppe heldenhafter Investigator*innen im Kampf gegen das drohende Weltenende bei Cthulhu stets möglich. Dementsprechend steht es auch frei, wann dieses stattgefunden hat – zum Beispiel in den 1890ern, den 1920ern oder der (nahen) Zukunft des 21. Jahrhunderts.

Die Autor*innen bieten gleich acht verschiedene mögliche Apokalypsen zur Auswahl bzw. als Inspiration an. In der ersten ist das Zeitalter der Menschen schlichtweg vorbei gegangen. Die Sterne standen richtig für die Rückkehr der Großen Alten und versunkene Städte tauchten aus den Ozeanen und der Erde auf. Außerirdische Monstrositäten bevölkern nun die Erde und terrorisieren die Menschheit, die sich damit abfinden muss, ziemlich weit hinten in der Nahrungskette zu stehen.

© Cthulhu Reborn

Andere Vorschläge beinhalten eine Welt nach dem durch den Einfluss Nyarlathoteps ausgelösten globalen Atomkrieg, die Flucht Älterer Wesen aus ihrem eisigen Gefängnis in der Antarktis, die daraufhin die Erde unterwerfen, lebendiges Feuer und die Nachkommen von Yog-Sothoth. Jedes dieser Szenarien ist kurz, aber umfassend beschrieben und enthält eine oder mehrere ausgearbeitete Monstrositäten als Gegner sowie Mythos-„Bücher“ (die manchmal auch in Form von Filmen, Handschriften oder ähnlichen Informationsträgern vorliegen), aus denen hilfreiche, aber die geistige Stabilität bedrohende Rituale gelernt werden können.

Zusätzlich bietet das Grundregelwerk ein komplettes Quellenbuch zu William Hope Hodgsons Roman The Night Land. Das Quellenbuch von Kevin Ross beschreibt eine postapokalyptische Welt in der fernen Zukunft. Hinzu kommen zwei vorgefertigte Abenteuerszenarien, von denen eines in einem der vorher beschriebenen acht Settings angesetzt ist, das andere im England des frühen 20. Jahrhunderts nach einer Apokalypse im viktorianischen Zeitalter.

Allerdings ist niemand gezwungen, eine der vorgestellten Apokalypsen als Handlungshintergrund zu wählen. Wichtig ist für Apochtulhu-Szenarien nur, dass irgendeine vom Mythos inspirierte Katastrophe die Welt verwüstet und das Leben darauf für immer verändert hat. Wesen aus Lovecrafts Geschichten und den von ihnen inspirierten Rollenspielen durchstreifen die Welt auf der Suche nach Beute. Für diesen Zweck hat das Regelwerk einen ganzen Abschnitt, um weitere Monster aus anderen auf dem Cthulhu-Mythos basierten Rollenspielsystemen wie Trail of Cthulhu, Delta Green sowie einem derzeit noch unveröffenlichten, auf W100 basierten Open Cthulhu SRD auf Apocthulhu anzupassen.

© Cthulhu Reborn

Gemeinsam soll den Szenarien außerdem sein, dass Technologie, wie sie zum Zeitpunkt direkt vor der Apokalypse üblich war, für spielbare Charaktere so leicht nicht mehr zugänglich ist – sei es, weil sie zerstört wurde, weil das Wissen um ihre Instandhaltung verloren ging oder weil einige wenige Mächtige ihren Daumen auf die knappen Ressourcen halten. Die kreative Verwertung von Altmaterial, verzweifeltes Schachern um Gegenstände, die wir heute vielleicht als selbstverständlich erachten, und die ständige Sorge um die eigene Existenz sollten nach der Vorstellung der Autor*innen ein Apocthulhu-Szenario prägen.

© Cthulhu Reborn
© Cthulhu Reborn

Ebenso kann die Spielleitung Würfelmalusse auf Fertigkeiten vergeben, die mit Gegenständen oder Materialien in schlechtem Zustand abhängen. Von Konstitutionswürfen bei Verzehr verdorbener Nahrungsmittel ganz zu schweigen. Kurz gesagt: Das Leben ist hart.

Wie hart es genau ist, soll am Anfang von der Spielleitung festgelegt werden. Die Stufen sind „Normal(ish)“, also „(ungefähr) Normal“, „Hard“, „Very Hard“ und „Nightmarish“, zu Deutsch etwa „Grauenhaft“. Die härteren Szenariostufen gehen jeweils mit Anpassungen an die geistige Stabilität der Charaktere einher, aber auch ihrer körperlichen Attribute und einiger Fertigkeiten, die das bisherige Überleben des Charakters in einer solchen Welt überhaupt erst möglich gemacht haben.

In einem „Grauenhaften“ Szenario wären die SC also durch ihre bisherigen Erfahrungen körperlich abgehärtet und in mehreren Schlüsselfähigkeiten wie z. B. „Survival“ geübt, allerdings auch durch das Leben in dieser Misere schon psychisch angeschlagen, während in einem „Normalen“ Szenario keine Anpassungen vorgenommen werden. Die jeweilige Härte dürfte sich ziemlich stark auf die Überlebenschancen der bespielten Charaktere auswirken, denn wie in vielen anderen Cthulhu-inspirierten Rollenspielen gilt auch hier: Sobald die geistige Stabilität unter einen kritischen Punkt sinkt, geht es eigentlich nur noch abwärts und der Wahnsinn wartet hinter jeder Ecke.

Die Regeln

© Cthulhu Reborn

Apocthulhu ist ein alleinstehendes Rollenspielsystem, das von einem Autor*innenkollektiv um Dean Engelhardt und Jo Kreil unter der „Open Game License“ (OGL) von Wizards of the Coast veröffentlicht wurde. Es gehört nicht dem offiziellen Kanon von Cthulhu an. Dennoch müssen Fans diverser Editionen von Cthulhu sich nicht komplett umstellen und werden die meisten Regeln wiedererkennen.

Wie bei vielen Cthulhu-Rollenspielen handelt es sich auch bei dieser Variante um ein Prozentsystem. Das bedeutet, gewürfelt wird mit W100 (d. h. je einem zehnseitigen Würfel für die 10er und die 1er-Stelle) gegen den Fertigkeitswert des Charakters, welcher unterboten werden muss. Eine 01 sowie jede Zahl, die sowohl niedriger ist als der Fertigkeitswert als auch eine Dopplung von Zehner- und Einerstelle darstellt (also 11, 22, 33 usw.), gilt als kritischer Erfolg, was mit positiven Spezialeffekten belohnt wird wie z. B. doppeltem Schaden im Kampf. Eine 100 sowie Doppelungszahlen oberhalb der Fertigkeitswertes gelten als Patzer und haben stets negative Konsequenzen. In Einzelfällen fordern die Umstände auch einen sogenannten Glückswurf, der gegen einen Wert von 50 % abgelegt wird.

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In Kämpfen würfeln beide Seiten, wobei der*die Angreifer*in nicht nur den eigenen Fertigkeitswert, sondern auch den Wurf der Gegenseite unterwürfeln muss. Das Regelwerk bietet eine Reihe von hilfreichen Tabellen zu Waffenboni und anderen Faktoren, die Kämpfe und andere Würfe beeinflussen können. Dazu gibt es ein ganzes Unterkapitel, das sich mit dem Erhalt und Verlust von geistiger Stabilität – und den daraus resultierenden Konsequenzen – beschäftigt. Allgemein erinnern die Regeln stark an vorangegangene Cthulhu-Systeme, jedoch in leicht vereinfachter Form. Viele Elemente der Charakterentwicklung – etwa die Ausprägung neuer Geistesstörungen oder das Lernen von Ritualen in der Down-Time – werden durch eine Kombination aus Würfeln und Rollenspiel ausgespielt.

Etwas ungewöhnlich für die meisten Cthulhu-Rollenspiele ist die Möglichkeit, Tests auch ohne Würfelwurf zu bestehen, wenn etwa das Fertigkeitslevel eines Charakters entsprechend höher als die Schwierigkeitsstufe der Aufgabe ist. Allerdings gilt immer noch: Wenn die Situation unberechenbar ist oder ein nicht bestandener Test schwerwiegende Konsequenzen hat, muss gewürfelt werden. Die Charaktere sind also nur einen Hauch weniger stark dem Schicksal ausgeliefert als sonst bei Cthulhu üblich. Es handelt sich hier nicht um ein narratives System, in dem mit gewagten Aktionen ein schlechter Würfelwurf ausgeglichen werden kann und echte Held*innen in letzter Minute gerettet werden. Pech und übermächtige Gegner können hier immer noch den Untergang einer Gruppe bedeuten. Die Spielleitung ist angehalten, die mystischen Schrecken des Mythos nicht als Boss-Monster zu behandeln, die es zu besiegen gilt. Und selbst, wenn die Gruppe sich ein kleineres Ziel ausgesucht hat, gilt: Fällt ein Charakter auf 0 Punkte körperlicher oder geistiger Gesundheit, ist er oder sie tot oder dauerhaft wahnsinnig und damit aus dem Spiel.

Das Grundregelwerk spart sich eine langatmige Einleitung in die Grundlagen dessen, was Rollenspiel überhaupt ist, und verweist stattdessen – zeitgemäß – auf entsprechende Youtube-Kanäle und andere Online-Ressourcen. Dies verstärkt den Eindruck, dass die eigentliche Zielgruppe von Apocthulhu aus Menschen besteht, die schon Erfahrungen in anderen vom Cthulhu-Mythos inspirierten Rollenspielsystemen haben.

Charaktererschaffung

© Cthulhu Reborn

Auch die Charaktererschaffung in Apocthulhu wird denen, die schon Erfahrung mit dem „klassischen“ Cthulhu-System gemacht haben, bekannt vorkommen. Es gibt die Möglichkeit, entweder Punkte auf die Attribute zu verteilen oder den Wert auszuwürfeln. Die Attribute sind Stärke, Konstitution, Geschicklichkeit, Charisma und „Power“, was in etwa Willens- und Persönlichkeitsstärke bedeutet. Aus letzterem Attribut errechnet sich der Startwert der geistigen Stabilität des Charakters vor der Anpassung durch die Härte der Umgebung. Wer seine Attribute auswürfeln möchte, würfelt je 4W6, lässt den niedrigsten Wert weg und zählt die restlichen zusammen. Wer seine Werte lieber selbst aussucht, bekommt 72 Punkte, um sie 1:1 auf die Attribute zu verteilen. Damit ergeben sich Attributswerte zwischen 3 und 18, wobei man einem Charakter mit zu vielen niedrigen Werten keine großen Überlebenschancen zutrauen sollte.

Die Fertigkeiten errechnen sich aus dem „Archetyp“, also etwa dem Beruf des Charakters. Natürlich besitzt die Postapokalypse keine großartigen Möglichkeiten zur beruflichen Weiterbildung, aber die Umstände des Überlebens eines Charakters begünstigen das Erlernen mancher Fertigkeiten mehr als das anderer. Neben den Fertigkeiten bestimmt der Archetyp auch die Ressourcen des Charakters sowie wie viele Freundschaften und wie viel Rückhalt er in seinem sozialen Umfeld hat.

Erscheinungsbild

Der schwarz auf weiß gehaltene Fließtext ist gut zu lesen, umrahmt von einem zerrissen wirkenden dunklen Rand, der die Stimmung schön unterstreicht. Die Illustrationen, die den Text immer wieder auflockern, zeigen oft einsame Überlebende, die sich extraterrestrischen Schrecken stellen und durch verwüstete Landschaften stapfen. Die meisten Illustrationen sind wiederverwendete, gemeinfreie oder zur Wiederverwendung lizensierte Bilder, dazu kommen originale Schwarzweiß-Zeichnungen von Reuben Dodd und Anna Helena Szymborska.

Das PDF hat ein verlinktes Inhaltsverzeichnis, auch Querverweise im Fließtext sind verlinkt.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Cthulhu Reborn
  • Autor(en): Dean Engelhardt, Jo Kreil, Kevin Ross, Jeff Moeller, Chad Bowser, Dave Sokolowski, Christopher Smith Adair, Fred Behrendt, Emily O’Neil
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: Englisch
  • Format: PDF
  • Seitenanzahl: 323
  • ISBN: –
  • Preis: 22,95 USD
  • Bezugsquelle: DriveThruRPG

 

Bonus/Downloadcontent

Zum Grundregelwerk werden zwei PDF-Dokumente mit Materialien für die vorgeschlagenen Abenteuer geliefert, die die Spielleitung zum passenden Zeitpunkt an Gruppenmitglieder austeilen soll. Weitere Inspirationen und Hintergrundinformationen können Interessierte auf dem Blog der Autor*innen www.cthulhureborn.com finden.

Fazit

Das Ende ist nahe! Und es kann auf die unterschiedlichsten Arten und Weisen kommen, ganz nach Geschmack der weltuntergangswilligen Spielleitung. Das Grundregelwerk zu Apocthulhu bietet ein wahres Büffet des Horrors, aus dem man sich die unterschiedlichsten Szenarien der Postapokalypse aussuchen kann, mit vielen hilfreichen Richtlinien, um eigene Gegner und Geschichten zu erstellen. Die Regeln basieren auf 100er-Würfeln und lassen sich grob als eine leicht vereinfachte und angepasste Version älterer Editionen von Cthulhu beschreiben.

Sicher verändert sich das Gefühl des Grauens gegenüber anderen Cthulhu-Spielen, schlicht, weil der Weltuntergang schon stattgefunden hat und nicht mehr wie ein Damoklesschwert über der Gruppe hängt. Es herrscht also eine leicht andere Stimmung. Als Zielgruppe eignen sich vor allem Fans von H.P. Lovecrafts Cthulhu-Mythos, die in der düsteren Welt, die Lovecrafts Geschichten und die daraus hervorgegangenen Rollenspiele beschreiben, „mal etwas anderes“ machen wollen. Trotz detaillierter Regelbeschreibung werden totale Neulinge im Mythos dadurch vielleicht eher verwirrt sein, während Puristen mit dem Leben und Überleben in der Postapokalypse gegebenenfalls auch nicht viel anfangen können.

Wer sich aber immer schon einmal überlegt hat, was passiert, wenn Cthulhu-Spieler*innen mit ihren Versuchen, das unausweichlich Scheinende abzuwehren, scheitern, ist hier an der richtigen Adresse.

Dieser Ersteindruck basiert auf dem ersten Lesen des Grundegelwerks und Erstellung eines Charakters. Ein Spieltest ist geplant.

 

 

Artikelbilder: © Cthulhu Reborn
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Simon Burandt

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