Geschätzte Lesezeit: 11 Minuten

Man sollte meinen, wenn der Mond auf die Erde fällt, ist das kein gutes Zeichen. Im Rollenspiel Tsukuyumi – After the Moonfall von King Racoon Games ist allerdings genau das passiert. Nachdem sich der Staub über eine verwüstete Erde legte, bevölkern humanoide Wildschweine und Pandabären, Cybersamurais, Schwärme riesiger mutierter Insekten und grausame Oni den Planeten.

Die Welt für das neue Rollenspiel Tsukuyumi – After the Moonfall von King Racoon Games ist gar nicht so neu. Bereits 2016 wurde sie für das Brettspiel Tsukuyumi – Full Moon Down von Felix Mertikat entworfen. Einigen ist Felix als Mitautor des Rollenspielsystem Opus Anima und der Comicreihe Steam Noir bekannt.

Nun soll diese postapokalyptische Welt Tsukuyumis auch im Tischrollenspiel zu erkunden sein. Laut den Entwicklern werden alle Fraktionen des Brettspiels und noch einige andere spielbar sein.

Im September wurde das Tsukuyumi – After the Moonfall erfolgreich per Crowdfunding finanziert und soll auf der SPIEL im Oktober 2021 erscheinen.

Schauen wir uns das Spiel genauer an.

Hintergrund

Himmelskörper haben schon immer großes Interesse geweckt. Gestirne wie Sonne, Mond, Sterne und Kometen wurden mit allerlei Bedeutungen und Mythen bedacht.

Wenn jedoch Himmelskörper von ihren gewohnten Bahnen abweichen, wie es bei einer Sonnenfinsternis oder Meteoriten der Fall ist, wird das von den Menschen mit Aufmerksamkeit verfolgt und allerlei hineininterpretiert. All diese Mythen verblassen, als der Mond im Jahr 2078 auf die Erde stürzt. Er schlägt einen gewaltigen Graben durch Nordamerika, Europa und Asien und bleibt im Pazifik liegen. Die Verwüstungen auf der Erde sind beispiellos. Die tektonischen Nachwirkungen des Einschlags und die riesigen Flutwellen verwüsten die Kontinente und gestalten das Antlitz des Planeten neu.

Es kommt jedoch noch schlimmer. Beim Aufschlag ist die Kruste des Mondes aufgebrochen und im Inneren ist ein gewaltiger weißgeschuppter Schlangenleib zu erkennen. Tsukuyumi, der mächtige Gottdrache und Herrscher der Nacht, ist auf die Erde zurückgekehrt, um die Schöpfung zu verwüsten. Noch ist er von den Gesteinsschichten des Mondes umschlossen und verwundet. Sein Blut und seine Pheromone verändern jedoch jedes Lebewesen, mit dem sie in Kontakt kommen und formen sie zu mutierten Ungeheuern um. Diese sogenannten Oni folgen dem Willen des Gottdrachen, ohne zu zögern. Ihr einziges Ziel ist, den Drachen zu befreien und die Erde auf seine Herrschaft vorzubereiten.

Nur einige versprengte Gruppen der Menschen haben die Katastrophe überstanden und kämpfen um das nackte Überleben. Doch Tsukuyumis Pheromone haben bei unzähligen Lebensformen die Evolution voranschreiten lassen. Einige Wildschweine richteten sich auf ihren Hinterläufen auf und betrachteten die Welt mit neuem Verständnis. Insekten mutierten und wuchsen zu neuer Körpergröße. Da der Pazifik verwüstet war, passten sich die überlebenden Meeressäuger dem Leben an Land an und suchten sich eine neue Heimat. Auf den Überresten der afrikanischen Platte mutierten Elefanten, Büffel und Nashörner.

Die Welt von Tsukuyumi – After the Moonfall ist voll neuer Spezies, die der Mythologie in Verbindung mit High Tech-Elementen entstammen. Die unterschiedlichen Kulturen leben in den Überresten der alten Welt und kämpfen gegen die Oni, andere Kulturen oder die gefährlich werdende Natur.

Neben dem Brettspiel erschien 2018 ein Comicband vom Crosscult Verlag und der Roman Jadetränen von Anja Bagus für die Tsukuyumi-Welt. Jetzt geht King Racoon Games den Schritt hin zum Rollenspiel. Dabei verfolgen die Entwickler einen innovativen Ansatz.

© King Racoon Games

Johannes Forster von King Racoon Games fasst die Philosophie bei der Entwicklung wie folgt in eigenen Worten zusammen:

Die Designphilosophie umfasst vier wesentliche Punkte:

  1. In unserem System zeigt die Spielleitung konkrete Konsequenzen auf, die aus der Probe resultieren können, anstatt abstrakte Schwierigkeiten zu benennen. Der Spieler kann durch das Erwürfeln von Momentum [eine Spielmechanik, Anm. d. Verf.] Konsequenzen auflösen, Erfolge kaufen und Nebeneffekte freischalten. Bei jeder Probe wird definiert, „wie“ ein Charakter die Herausforderung angeht. Durch diese narrativen Auswirkungen formt sich die gemeinsame Geschichten
  2. Spiel deinen Helden so, wie du ihn dir vorstellst. Der Spieler behält immer die Hoheit über die Narration seines Helden. Er bestimmt, wie sein Held agiert, wie er wahrgenommen wird und wie er auf andere wirkt. Die Charaktererschaffung sorgt für vollständige, kompetente Helden, welche direkt von Anfang an einen Unterschied in der Welt bewirken können. Bei Würfelproben kommt durch das „Wie“ der Charakter des Helden zum Tragen und ist stets Teil des Spielgeschehens.
  3. Die Welt von Tsukuyumi ist bunt und vielfältig. Zahlreiche Fraktionen und Spezies leben in einer Welt voller neuem und altem Leben, welche es gemeinsam vom Bösen zu befreien gilt. Der Fokus liegt auf dem Kennenlernen und Erleben der Welt durch die Helden.
  4. Wir wollen die Rolle der Spielleitung aufwerten und vor allem mit jeder Menge lockerem Spaß füllen, denn: Jeder kann Geschichten erzählen. Es soll nicht derjenige Spielleitung machen, der die Regeln vermeintlich am Besten kennt, sondern jeder, der Lust hat, eine Geschichte zusammen mit den anderen zu erleben. Die Spielvorbereitung umfasst die Ausgestaltung der Wesen, Figuren und Abenteuer und nicht hauptsächlich das Regelstudium. Herausforderungen und Gefahren lassen sich aus der Handlung leicht ableiten und übersichtlich mechanisch abbilden.
© King Racoon Games

Zum jetzigen Entwicklungsstand sind eine Handvoll spielbare Fraktionen vorhanden. Bis zum Erscheinen des Buches zur SPIEL 2021 sollen es etwa sechzehn Fraktionen werden. Die Redaktion hat angekündigt, an einem Generator für eigene Fraktionen und Kulturen zu arbeiten, mit dem Spielleitung und Spielende eigene Ideen umsetzen können. Somit wird die Welt Tsukuyumis noch bunter und vielfältiger. Damit steht, zum Beispiel, einem geheimen Orden von Ninjapinguinen nichts im Wege. Bisher sind folgende Fraktionen spielbar:

Cybersamurai

Einige Japaner*innen haben die Katastrophe in High-Tech-Bunkern überlebt. Eine hochentwickelte künstliche Intelligenz verwaltet und optimiert alle Systeme und Abläufe in diesen unterirdischen Städten. Den Schutz dieser Städte übernimmt die Elite der Cybersamurais, die durch Implantate direkt mit der künstliche Intelligenz vernetzt sind. Mit ihren hochentwickelten Rüstungen und Waffen verbinden sie Mensch und Maschine zu einer Einheit.

Nomads

Der Flugzeugträger U.S.S. Nomad ist das einzige bekannte Schiff der U.S. Marine, das die Katastrophe überstanden hat. Es ist auf dem jetzt trocken liegenden Boden des Südpazifik gestrandet und die überlebenden Soldat*innen kämpfen mit Mut, Disziplin und Feuerkraft für den American Way of Life.

Boarlords

Durch den Einfluss des Gottdrachen sind einige Wildschweine die Evolutionsleiter nach oben geklettert und mit Intelligenz und Händen gesegnet worden. Jetzt werden die Rotten matriarchalisch regiert und kämpfen um einen eigenen Platz in dieser neuen Welt.

Children of Lion

In Afrika sind durch das Blut des Drachen Tiere enorm mutiert. Die nachfolgenden Generationen der afrikanischen Menschen haben diese gezähmt und setzen sie als Kriegsbestien ein. Mächtige Dominator*innen beherrschen jetzt die Stämme aus Menschen und Bestien.

Pan-Doa

Im Gegensatz zu den Boarlords und anderen mutierten Tieren sind die Pan-Doa eine sehr alte Spezies. Diese humanoiden und kulturell hochentwickelten Pandas haben sich vor Jahrtausenden von der Erde in ihre eigene Welt zurückgezogen. Dort spürten sie die Rückkehr ihres alten Feindes Tsukuyumi. Jetzt haben die Pan-Doa den Kampf gegen den Gottdrachen wieder aufgenommen und dabei den uralten Orden der Sentinels wieder in Leben gerufen.

Die Charaktere können aus jeder beliebigen Kultur stammen und haben sich im Orden der Sentinels zum Kampf gegen den Drachen und dessen Oni vereint. So ist es den Spielenden möglich, die vielfältigen Charakterkonzepte zusammen in einer Gruppe zu spielen.

© King Racoon Games

Regeln

Das Regelsystem ist momentan in der Betaphase und ebenso einfach wie innovativ. Es gibt sechs Attribute, aus denen sich der Würfelpool für die Würfelproben zusammensetzt. Gewürfelt wird mit sechsseitigen Würfeln und es wird die höchste Augenzahl plus jede gewürfelte Eins zusammen addiert. Hinzu kommen noch diverse Boni aus Waffen und Vorteilen. Das Ergebnis ergibt das Momentum der Charaktere, das als Vorwärtsbewegung Herausforderungen in der Spielwelt, wie das Erklettern einer Mauer, ein Rededuell oder einen Kampf, überwinden soll. Mit dem gewürfelten Momentumwert können negative Konsequenzen der Herausforderung negiert werden. Die Spielleitung legt die Konsequenzen der Handlung fest. Diese Konsequenzen können alles von einem Fehlschlag, wie dem Auslösen eines Alarms, bis hin zu einer Verletzung oder Blamage sein.

Die Spielenden entscheiden, welche Konsequenzen weg gewürfelt werden und welche zum Tragen kommen. Überzähliges Momentum kann auch dafür benutzt werden, eine besonders spektakuläre Handlung durchzuführen, um zusätzlich Effekte zu erzeugen. Diese Effekte und Konsequenzen können positiv oder negativ sein. Ebenso stellt der Würfelwurf die Weichen für die gesamte Handlung. Die Redaktion nennt das narrative Dynamik. Die Spielenden können durch den Würfelwurf die Art und Weise beschreiben, wie ihre Charaktere die Herausforderung absolvieren.

© King Racoon Games

Besonders hervorzuheben ist, dass die Spielleitung niemals würfelt, sondern nur die Spielenden. Das ist bewusst so konzipiert, damit die Spielleitung den Kopf frei für die Geschichte und die Szene hat. Die Spielleitung legt die narrativen Konsequenzen der Szene fest.

Die Regeln für die Spielenden finden sich auf den Charakterblättern und können die Handlungen ihrer Charaktere detailliert beschreiben. NSC haben nur einen Wert. Das sogenannte Gefahrenpotential stellen ihre Größe, Magie, Redekunst, Panzerung, Waffen und vieles mehr dar. Dieser Wert stellt den Pool an möglichen Konsequenzen dar, mit denen der NSC den Charakter behindern kann.

Da die Regeln noch nicht final und in der Testphase sind, kann sich noch einiges ändern. Die Redaktion von Tsukuyumi ist sehr an Rückmeldungen und Ergänzungen interessiert. Auf dem Discordserver für Tsukuyumi – After the Moonfall können Regelfragen mit den Redakteur*innen diskutiert werden.

Testspiel

Das Team von King Racoon Games hat Teilzeithelden die Gelegenheit gegeben, Regeln und Hintergrund an einem Spielabend auszuprobieren. Johannes von King Racoon Games leitete den Abend per Discord und Roll20. Wir konnten uns vorbereitete Charaktere aus einer der Startfraktionen heraussuchen. Mit von der Partie waren Mitsuko, eine Cybersamurai, Graidor von den Boarlord und Takenoko, ein Pan-Doa. Zusammengeschlossen zu einem Sentinelteam wurden die Charaktere auf eine diplomatische Mission geschickt, eine Allianz mit einer Dorfgemeinschaft zu schließen. Im Dorf stellte sich schnell heraus, dass Oni die Kinder der Dorfbewohner*innen entführt hatten.

Graidors scharfe Schweinsnase führte die Gruppe zielgerichtet zum Lager der Oni. In einem spektakulären Kampf konnten die Charaktere die Oni besiegen und die Kinder befreien. Da die Gruppe so das Vertrauen der Dorfbewohner*innen errungen hatte, konnte die Allianz zwischen dem Dorf und den Sentinel besiegelt werden.
Wir als Spielende hatten die Gelegenheit, die Regeln in verschiedenen Situationen zu testen. An einigen Stellen merkten wir, dass die Regeln noch etwas holprig sowie Begrifflichkeiten unklar waren und Feinschliff erforderlich ist.
Der Abend hat sehr viel Spaß gemacht und wurde von Johannes bestens mit Bildern und virtuellen Charakterblättern im Roll20 vorbereitet.

Das Regelbuch steht als kostenlose pdf-Datei auf der Patreonseite von King Racoon Games zum Download bereit.

Holgers kurze Meinung zu den Regeln

Ich war zusammen mit Tino am erwähnten Testspiel beteiligt und hatte bereits vorher ein wenig mit der Mathematik hinter den Regeln herumgespielt. Daher habe ich beim Spielen recht genau auf Dinge geachtet, die mir bei der stochastischen Betrachtung aufgefallen waren.

Die aktuellen Regeln von Tsukuyumi sind sehr leicht und schnell zu erklären, aber nicht auf Anhieb einfach zu verstehen. Es gibt einige Begriffe, die man verinnerlichen muss, und die im Testspiel auch noch eine Doppelung enthielten, die für etwas Verwirrung sorgte. Das war aber an sich nicht weiter tragisch und kann und wird in zukünftigen Versionen sicherlich optimiert werden.

Was jedoch schwieriger zu ändern, falls das denn überhaupt gewünscht ist, wäre, wie robust das Würfelsystem ist. Schon im Vorfeld hatte ich errechnet, dass die Spanne des aus den Würfeln generierten Momentums relativ klein ist. Mit nur zwei Würfeln sieht es eher schlecht aus, aber drei oder mehr Würfel ändern nur vergleichsweise wenig. Der Unterschied zwischen 3, 4 oder 5 Würfeln ist nicht so groß, wie ich persönlich es mir wünschen würde.

Dieser Umstand zeigte sich auch im Testspiel, denn ALLE Proben des Abends generierten aus den Würfeln exakt fünf Momentum. Hier haben die eigentlichen Attribute der Charaktere für meinen Geschmack deutlich zu wenig Einfluss auf die Fähigkeiten derselben. Fixe Boni durch Eigenschaften sowie die an das Attribut gekoppelte Erfolgsschwellen hatten einen deutlich größeren Einfluss, obwohl diese Werte nicht die ersten sind, die Spielenden ins Auge fallen.

Ein weiterer, deutlich kleinerer, Punkt liegt in der Art, wie das Momentum errechnet wird. Als Rollenspielende ist man üblicherweise gewohnt, entweder hoch (D&D / Pathfinder / Vampire / Shadowrun, etc.) oder niedrig (DSA, Schattenjäger, etc.) würfeln zu wollen. Bei Tsukuyumi ist das nicht ganz der Fall. Denn der perfekte Wurf besteht aus einer Sechs und dem Rest Einsen (oder Zweien wenn man eine entsprechende Spezialisierung hat). Das ist mathematisch zwar absolut in Ordnung, aber vielleicht nicht im ersten Moment eingängig für ein festgefahrenes Rollenspieler*innenhirn.

Beide Punkte verhindern sicherlich nicht, dass man mit dem System Spaß haben kann. Für manche Spielende, zu denen ich selbst mich zähle, ist gerade der erste Punkt etwas, was den Spaß am System schmälern kann. Das System befindet sich ja noch im Beta-Stadium, so dass die Zeit zeigen wird, ob die endgültige Fassung auch für Leute wie mich besser geeignet wäre.

Artikelbilder: © King Racoon Games
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Jessica Albert

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein