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In Nathanaëlle wird man mit einem Zukunftsbild konfrontiert, in dem sich zwei Zivilisationen in Unkenntnis voneinander befinden. Die titelgebende Protagonistin entkommt aus ihrer Welt und droht das Gleichgewicht beider Gesellschaften zu zerstören. Ob diese spannende Prämisse überzeugt, klärt unser Kurzcheck.

Geht es um die Zukunft unserer Zivilisation, wird man auf eine Vielzahl unterschiedlicher Meinungen treffen. Optimistische Menschen mögen davon ausgehen, dass dank technologischer Fortschritte eine Vielzahl aktueller Probleme gelöst wird und beispielsweise Krankheiten und Hunger irgendwann nur blasse Erinnerungen sind. Weniger positiv eingestellte Personen werden dagegen auf die Vielzahl bevorstehender Gefahren und Herausforderungen hinweisen. Zu diesen gehören beispielsweise der Klimawandel, das Erstarken autoritärer Regime und die wachsende Kluft zwischen der sogenannten Elite und dem Rest der Bevölkerung.

Nathanaëlle kombiniert Ansätze beider Denkweisen zu einem einerseits faszinierenden und andererseits erschreckenden Gedankenspiel. Wir prüfen in unserem Kurzcheck, ob wir eine glorreiche Zukunft für die Graphic Novel sehen.

Handlung & Charaktere

In einer zeitlich nicht näher definierten Zukunft erlangen Teile der Menschheit faktisch Unsterblichkeit. Die Bevölkerung an der Oberfläche profitiert von technologischen Fortschritten, die beispielsweise den Transfer des Bewusstseins in einen neuen, künstlich oder organisch erschaffenen Körper möglich machen. Ein Beispiel für diesen Prozess ist Melville, der als Roboter mit integrierter Kaffeemaschine nach seinem Tod eine neue Bestimmung gefunden hat. Unglücklicherweise sorgt seine neue Beschaffenheit für Spannungen im Zusammenleben mit seiner Ehefrau und seinem Sohn.

Doch diese Probleme sind nichts im Vergleich zu denen, die Nathanaëlle bewältigen muss. Die junge Frau lebt in einer unterirdischen Anlage mit knappen Ressourcen von einem deprimierenden Tag in den anderen. Notwendig ist das aufgrund einer angeblichen Apokalypse, in deren Folge die Menschheit unter die Erde gezwungen wurde. Doch sich rasant verbreitende Bilder von der Oberfläche liefern ein komplett gegensätzliches Bild: Sie zeigen eine Gesellschaft voller Überfluss und Dekadenz. Angetrieben von diesen Enthüllungen sucht Nathanaëlle den Weg nach oben und ahnt dabei nicht, welche Bedeutung sie für das Schicksal beider Zivilisationen hat.

Nathanaëlle überzeugt als Geschichte aufgrund ihrer sozialkritischen Elemente, die eine Vielzahl der Probleme unserer Zeit aufgreifen oder andeuten. Die Gesellschaft an der Oberfläche ist eine Reflexion unserer Obsession mit Konsum und der Tatsache, dass für Reiche komplett andere Regeln gelten als für den Rest der Bevölkerung. Selbst das für alle Menschen seit jeher unvermeidliche Schicksal des Todes kann mit Geld umgangen werden.

Die Bewohner*innen des Untergrundes sind die Opfer dieses Lebensstils an der Oberfläche. Sie mussten weichen, um das Problem des Platzmangels zu lösen. Ironischerweise ist diese Trennung wohl bereits vor so langer Zeit erfolgt, dass beide Zivilisationen nichts voneinander wissen. Damit es so bleibt, sorgen auf der einen Seite geschickt platzierte Falschmeldungen für Desinformation, während auf der anderen Seite totalitäre Sicherheitskräfte ein scharfes Auge auf die reiche Bevölkerung werfen – sowohl zu deren Schutz, als auch zu deren Kontrolle.

Leider muss der Hintergrund der Geschichte für den Großteil der Faszination sorgen, da die Charaktere an dieser Aufgabe scheitern. Weder Nathanaëlle, noch die anderen Personen schaffen es aufgrund ihrer oberflächlichen und blassen Ausgestaltung, Interesse zu wecken. Am ehesten gelingt dies noch dem Roboter Melville, der nach seiner „Wiedergeburt“ eine fast kindlich-naive Erfüllung in seiner Tätigkeit als bessere Kaffeemaschine findet. Man kommt nicht umhin, Mitleid mit ihm zu haben, als die Begegnung mit der Protagonistin das unvermeidliche Ende dieses simplen Daseins zur Folge hat.

Unglücklicherweise hinterlässt Nathanaëlle an vielen Stellen einen unvollständigen Eindruck. Interessante Ideen und Konzepte werden eingebaut, nur um nicht konsequent zum Abschluss gebracht zu werden. Den Tiefpunkt in dieser Hinsicht bildet das Ende der Graphic Novel. Gefühlt sind noch Dutzende von Fragen offen, wodurch der abrupte Ausgang der Handlung ein unbefriedigendes Gefühl hinterlässt. War das schon alles?

Zeichnungen & Kolorierung

Die visuelle Gestaltung der Graphic Novel hat einen besonderen Charme. Während sie eindeutig futuristisch anmutet, erinnert sie an Vorstellungen der Zukunft zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sämtliche Technologien weisen einen analogen Einfluss auf und kombinieren typische Elemente des Steampunks mit Science-Fiction. Zur besseren Vorstellung empfehle ich einen Blick auf die Bilderserie En L’An 2000, in der französische Künstler*innen die Errungenschaften der Zukunft vorhersagen wollten. Parallelen zur Visualisierung dieser Graphic Novel durch Fred Beltran sind unübersehbar.

Neben diesem charmanten und individuellen Stil überzeugt der Künstler durch Detailreichtum (besonders ersichtlich in vollgepackten Szenen an der Oberfläche) und ins Auge stechende Charaktere. Die Figuren weisen eine leichte Überzeichnung auf, besonders hinsichtlich der Proportionen des Gesichtes. Am deutlichsten merkt man das an einem Akteur, der definitiv eine Anlehnung an einen bekannten US-amerikanischen Schriftsteller ikonischer Schauergeschichten ist.

Die Kolorierung ist in überwiegend trüben Farbtönen gehalten, ohne dabei deprimierend zu wirken. Vielmehr vermittelt der hohe Einsatz metallischer Farben die futuristische und gleichzeitig rustikale Atmosphäre auf prächtige Weise.

© Splitter

Die harten Fakten:

  • Verlag: Splitter
  • Autor*in: Charles Berberian
  • Zeichner*in: Fred Beltran
  • Erscheinungsjahr: 2021
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Hardcover
  • Seitenanzahl: 112
  • Preis: 22,00 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

Fazit

Nathanaëlle versteht besonders zu Beginn zu faszinieren. Das liegt zum einen an der visuellen Gestaltung, die auf charmante Art und Weise futuristisch und gleichzeitig nostalgisch ist. Die Zeichnungen weisen eine hohe Ähnlichkeit zu Zukunftsvisionen am Beginn des 20. Jahrhunderts auf, als noch mannigfaltige Innovation auf Basis analoger und industrieller Maschinen erwartet wurden.

Auf der anderen Seite liefert Autor Charles Berberian eine Menge interessanter Konzepte und Denkansätze. Die auf Basis von Falschinformationen erfolgte Trennung zweier Gesellschaften, die Konsumgier der Elite und deren unbegrenzte Möglichkeiten im Vergleich zur übrigen Bevölkerung reflektieren gelungen Probleme der realen Welt.

Leider gelingt es Berberian nicht, diese vielversprechenden Ansätze konsequent zu Ende zu führen. Eine Vielzahl angedeuteter Themen verliert im Laufe der Handlung an Bedeutung. Speziell zum Abschluss des Bandes hat man das Gefühl, dass eine Vielzahl von Enthüllungen fehlt und man wartet sehnsüchtig auf verschiedene „Aha!“-Momente. Leider bleiben diese aus; die Graphic Novel endet abrupt und lässt Leser*innen frustriert zurück.

Dass Nathanaëlle immer noch eine vergleichweise gute Bewertung erhält, verdankt die Graphic Novel meiner Sympathie für den visuellen Stil und der starken ersten Hälfte. Ansonsten hätte Nathanaëlle ein Bild hinterlassen, bei dem sich Licht und Schatten die Waage halten.

  • Bietet eine Menge interessanter Ansätze und regt zum Nachdenken an
  • Charmanter Zeichenstil in Erinnerung an Zukunftsbilder des frühen 20. Jahrhunderts
  • Visuell ikonisch gestaltete Charaktere, trotz inhaltlicher Oberflächlichkeit
 

  • Macht einen unvollständigen Eindruck

 

Artikelbilder: © Splitter
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Lukas Heinen
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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