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Die Geschichte wird von Sieger*innen geschrieben – beziehungsweise gesprochen. Auch im Pen-and-Paper spielt das Erzählrecht, also wer gerade reden darf, eine wichtige Rolle. Nicht immer muss die Spielleitung das letzte Wort haben, sondern kann und sollte die anderen Personen miteinbeziehen. Wie aus einer Geschichte eine gemeinsame Geschichte wird, lest ihr hier.

Dein Zug in der Kampfrunde hat begonnen. Angespannt hast du während der Aktionen der anderen überlegt, welche Optionen dein Charakter im Moment hat. Die meisten von euch sind angeschlagen, am Ende ihrer Kräfte. Eine falsche Entscheidung könnte die unausweichliche Niederlage für die Gruppe bedeuten. Glücklicherweise ist dir wenige Sekunden vorher ein Ausweg eingefallen. Du fragst die Spielleitung, ob dein Plan möglich ist. Nach einer kurzen Zustimmung und einem erfolgreichen Würfelwurf bittet die SL dich darum, die nächsten Sekunden des Kampfes selbst zu beschreiben.

Bei der Frage nach typischen Dingen für ein Pen-and-Paper fallen den meisten vermutlich zuerst Gebrauchsgegenstände ein: Stifte, Papier, Würfel. Ebenso wichtig ist jedoch die sprachliche Ebene, auf der vor, während und nach der Runde ständig verhandelt wird. Der Großteil der Spielenden wird auf die Frage „Was war ein schöner Rollenspielmoment für dich?“ wahrscheinlich mit etwas Nachdenken eine Antwort finden. Sei es der kritische Treffer gegen das gefährliche Monster, der sehr knapp gelungene Überzeugungswurf beim Wachpersonal oder die epische Ansprache vor einer großen Herausforderung. Oft hängt diese Erinnerung damit zusammen, dass die Person selbst das Rederecht hatte und deshalb Tatsachen etablieren konnte. Dieses Erzählrecht ist Dreh- und Angelpunkt jeder Aktion im Rollenspiel.

Gemeinsames Aushandeln der Realität

Auf einer spielmechanischen Ebene braucht Pen-and-Paper Interaktionen von Menschen. Während bei einem Film, einer Serie oder einem Buch die Handlung nur passiv aufgenommen wird, sind die Personen beim Tischrollenspiel aktiv beteiligt. Wenn sie als Protagonist*innen nichts tun, gibt es auch keine Geschichte zu erleben. Wie schon in Kindheitstagen wird im jeweiligen Spiel gemeinsam erarbeitet, was als nächstes passiert. In den meisten Systemen wird als „neutrale“ Instanz eine Spielleitung eingesetzt. Diese kann auf die Taten der Gruppe reagieren oder selbst Tatsachen der Welt etablieren. Sie ist der zentrale Faktor, der entscheidet, ob eine Handlung erlaubt wird oder nicht. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass die SL immer das unumstößliche Erzählrecht haben sollte.

Um ihr Ziel zu erreichen, muss die Gruppe oftmals zusammenarbeiten. © Depositphotos | antrey

Verteiltes Erzählrecht als Spielprinzip

Im Flackern des Kerzenlichts müssen die Spielenden bei Ten Candles gegen das Unvermeidbare ankämpfen. © Depositphotos | turgayada.hotmail.com

Gerade in den vergangenen Jahren machen sich immer mehr kleinere Systeme die Verteilung des Erzählrechts als grundlegende Spielmechanik zunutze. Im Regelwerk Ten Candles etwa bestimmen die Spielenden zu Beginn fast durchgehend die Handlung. Das ändert sich im Verlauf der Runde, bis die Charaktere schließlich nur noch die letzten Worte vor ihrem Ableben sagen dürfen.

Ein interessanter Kniff dieses Systems ist das, was am Ende einer Szene passiert: Reihum dürfen alle in der Runde eine oder mehrere „Wahrheiten“ definieren, die zu Tatsachen werden. Wichtig dabei ist, dass diese Aussagen von der Spielleitung nicht aufgehoben, sondern nur angepasst werden dürfen.

So kann etwa eine vermeintliche Hilfe, welche die Spielenden aufstellen („Wir finden gute und intakte Ausrüstung für den Weg.“), mit einem Nachteil beziehungsweise einer Komplikation versehen werden („Während ihr diese einpackt, hört ihr eine lauter werdende Gefahr in der Nähe“). Oder es wird ein neues Hindernis durch die SL definiert, welches die Spielenden für die nächste Szene wieder unter Druck setzt.

Bei anderen Vertretern des Erzähl-Genres verhält es sich ähnlich. Die Anteile an der Geschichte werden möglichst gleichmäßig auf die Personen aufgeteilt. Dadurch entsteht oftmals ein verstärktes Wir-Gefühl, zu dem alle etwas beitragen dürfen.

Unsere Geschichte, unsere Welt

Bei der Gestaltung der Spielwelt gibt es für Spielende je nach System und Bereitschaft der Spielleitung die Möglichkeit, eigene Teile ins Setting miteinzubringen. Das fängt schon bei einfachen Fragen zu den Charakteren an. Von wo kommen sie? Wie sieht ihre Heimat aus? Haben sie eine Familie oder Bekanntschaften, die besucht werden können? Welche Dinge haben sie geprägt? Gerade langfristig geplante Kampagnen zehren davon, wenn die Spielleitung auf Vorschläge und Verknüpfungen zurückgreifen kann, die Einfluss auf die eigentliche Geschichte nehmen.

Manche Systeme fordern sogar ganz bewusst die Spielenden dazu auf, die Spielwelt und die darin existierenden NSC selbst zu erschaffen. In Beyond the Wall etwa wird zu Beginn des ersten Abenteuers gemeinsam das Heimatdorf der Charaktere gezeichnet. Dabei entscheiden die Würfelwürfe oder Entscheidungen, welche wichtigen Orte und Personen dort leben und in welchem Verhältnis sie zu den SC stehen. Ähnliche Mechanismen finden sich in Tales from the Loop, bei welchem während der Charaktererstellung und auch danach NSC skizziert und ausgebaut werden.

In Beyond the Wall gestaltet die Gruppe gemeinsam das Heimatdorf der Charaktere. © Depositphotos | Marinka
Für das „Spiel der 20 Fragen“ gibt es auch ein passendes PDF. © Fantasy Flight Games
Für das „Spiel der 20 Fragen“ gibt es auch ein passendes PDF. © Fantasy Flight Games

Als positives Beispiel bei der Charaktererschaffung sei an dieser Stelle Legend of the Five Rings genannt, welches mit dem „Spiel der 20 Fragen“ schnell für vielschichtige SC sorgen kann.

Spätestens, wenn ein Heimatort eines Charakters besucht wird, ist der*die jeweilige Spieler*in gefragt. Es lohnt sich, ihm*ihr mehr Mitsprache bei der Vorstellung einzuräumen. Schließlich ist der Charakter hier lange gewesen und kennt die Gepflogenheiten. Auch im echten Leben laden wir Freunde von außerhalb hin und wieder zu Besichtigungen ein, wieso also nicht im Rollenspiel? Das kann die Spielenden besonders motivieren, sich mit ihrem Hintergrund Mühe zu geben und das Spiel für alle zu erweitern.

Ein Beispiel: Wie aus einem Witz ein Gott wurde

Zur Veranschaulichung, wie Ideen spontan in die Welt eingeflochten werden und sie nachhaltig prägen, hier ein persönliches Beispiel aus einer meiner aktuellen Runden. In dieser hatte die Halblings-Schurkin der Gruppe bei den örtlichen Händler*innen Waren für die Gruppe gestohlen und sie nachts heimlich vor dem Bett meines rechtschaffenen Paladins platziert. Als dieser am folgenden Morgen erwachte und über dieses „Geschenk“ staunte, sagte ich in meiner Rolle als Paladin: „Mein Charakter prüft schnell, ob er noch alle Zähne hat.“ Auf die verwirrten Blicke der anderen Gefährt*innen erzählte ich spontan vom Zahnhalbling, angelehnt an die Zahnfee-Legende. In den weiteren Sitzungen entstand ein kleiner Running Gag, bei dem die Spielleitung der frisch erfundenen Figur einen Platz im göttlichen Pantheon gab.

Gruppengespräche als Interaktionsmotor

Manchmal sind die Charaktere mehr an der nächsten Mahlzeit in entspannter Runde interessiert als an der Quest. © Depositphotos | nejron

Die eigentlich vorgesehene Handlung geht vor der Tür zwar weiter, trotzdem bewegt sich die Gruppe nicht aus der Taverne heraus. Schließlich ist die Unterhaltung in der Rolle gerade viel spannender als ein paar Feinde zu verhauen. Eine Situation, wie einige SLs sie vermutlich schon erlebt haben und die nicht zwingend schlecht sein muss.

Wichtig dabei ist, dass sich die Aufmerksamkeit möglichst gerecht auf alle in der Runde verteilt. Es kann unterhaltsam sein, wenn Mitspielende sich in ihren Rollen unterhalten. Dabei auf Dauer nur zuhören zu dürfen, kann jedoch ein großes Frustpotenzial bergen. Vor allem, wenn dabei kaum Zeit für das eigene Spiel bleibt. Eine kurze Absprache während oder nach der Sitzung kann die Situation schnell lösen. Noch eleganter ist natürlich, wenn andere aktiv in die Handlung oder das Gespräch mit einbezogen werden können. Dazu reicht schon eine kurze Nachfrage, wie ein anderer SC etwas bewertet oder ob er eine Idee hat.

Ein weiterer positiver Nebeneffekt von Gruppengesprächen: Während die Spielleitung entspannt zuhört, bleibt Zeit, ungestört etwas zu essen und zu trinken oder noch einmal genauer die Notizen für die nächste Szene durchzulesen. Bevor die Gruppe jedoch in endlosen Diskussionen über Götter und die Welt verfällt, darf aber eingeschritten werden. Gerade bei Zeitdruck in der echten Welt sollten die Spielenden Verständnis für eine kurze Ansage haben. Schließlich wollen sie vermutlich noch den spannenden Cliffhanger erleben. Ziel der SL sollte es sein, die Spielenden zum Handeln zu bewegen, ohne sie erzählerisch mit vollendeten Tatsachen an den gewünschten Ort zu teleportieren.

Das Erzählrecht aufgreifen – Beschreiben von Szenen

Hinter der Übernahme des Erzählrechts im Spiel steht auch der Wunsch, eine Szene mit eigenen Worten auszuschmücken. Dabei können verschiedene emotionale Hintergründe eine Rolle spielen. Anstatt sich etwa den kritischen Patzer von der SL beschreiben zu lassen, kann die Person selbst eine humorvolle Idee einfügen – oder bei einem besonders tragischen Moment für den SC stumme Handlungen wiedergeben. Dadurch fühlen die Spielenden sich persönlich besser eingebunden und können ihrem Charakterspiel einen gewissen Schliff verleihen.

Menschen, die bereits eigene Erfahrung als Spielleitung sammeln konnten, neigen eher dazu, solche Szenen vorzugeben. Wer einmal gelernt hat, die Handlung unterhaltsam zu formulieren, greift gerne auch als Spieler*in auf diese Fähigkeit zurück. Um als ewige SL nicht in alte Gewohnheiten zu verfallen, kann es helfen, Beschreibungen kurz zu halten und das Rederecht anderen anzubieten: „Wie nehmt ihr die Situation wahr?“

Die Übernahme des Erzählrechts muss nicht nur auf soziale Aktionen oder Fertigkeiten beschränkt bleiben. Auch im Kampf kann es vergeben werden, etwa um den finalen Schlag gegen feindliche Kreaturen zu beschreiben. Nicht umsonst erfreut sich der berühmt gewordene Ausspruch „How do you want to do this?“ von Critical Role großer Beliebtheit.

Fazit: Rollenspiel geht schwer allein

Zusammengefasst lässt sich festhalten: Als soziales Hobby funktioniert Pen-and-Paper über das gemeinsame Erzählen. Entsprechend sollte es Spielenden auch in einem Rahmen außerhalb der direkten Rede möglich sein, die Welt um sich herum zu beschreiben. Das Maß aller Dinge obliegt wie üblich der SL, welche die Regeln wahren muss. Insbesondere sollte sie auf die gleichmäßige Verteilung des Erzählrechts achten.

Wer angesichts der Vorschläge für offene Gestaltung als Spielleitung nun kalten Angstschweiß bekommt, kann beruhigt aufatmen. Die Aufgabe der SL ist es, die Grundregeln und den Rahmen der Welt vorzugeben. Keiner kann euch zwingen, die Zügel vollends aus der Hand zu geben und alles zuzulassen. Sofern es kein lustiger One-Shot sein soll, braucht es hier und da Konsequenzen für Handlungen.

Pen-and-Paper ist und bleibt ein soziales Hobby. Wer zusammenarbeitet, hat insgesamt mehr Spaß. © Depositphotos | zestmarina

Außerdem: Spielende verlangen selten ständiges Erzählrecht über ihre Charaktere. Viele sind eventuell froh, wenn sie einfach nur den Beschreibungen der SL lauschen können. Letztlich solltet ihr gemeinsam darüber sprechen, welche Wünsche und Vorstellungen ihr für die Kampagne oder Spielrunde habt. Daraus wird sich bestimmt ein Kompromiss finden lassen, bei dem alle zusammen Spaß haben. Der sollte bei allen Überlegungen im Vordergrund stehen, wenn es um eure beziehungsweise „unsere“ Geschichte geht.

 

Artikelbilder: © Depositphotos | Rawpixel
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Simon Burandt

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