Geschätzte Lesezeit: 8 Minuten

Liverollenspiel und Reenactment haben viel gemeinsam – vor allem ihre Spielenden. Oft treffen verschiedene Darstellungsansätze aufeinander, historischer Anspruch reibt sich an bunter Phantastik und Konflikt und Vorurteile stehen im Raum. Dabei können auch hier alle Seiten voneinander lernen und vom gegenseitigen Erfahrungsschatz profitieren.

Zwei Hobbies, die auf den ersten Blick viel gemeinsam haben, sich aber in ihren Kernaspekten stark unterscheiden: Wo Liverollenspiel und Reenactment aufeinandertreffen, kann es je nach Veranstaltung schon mal knirschen.

Phantastik trifft Historie

Im Fantasy-Larp treffen sich Spielende und Gruppen verschiedenster Hintergründe. Eine einzige Veranstaltung kann Charaktere aus Aventurien auf solche aus Ankh-Morpork, Gruppen aus Mittelerde auf Gäste aus Westeros treffen lassen.

Wer das Hobby eine Weile betreibt, hat sich vermutlich daran gewöhnt – und gelernt, im Zweifel den eigenen Hintergrund zugunsten des gemeinsamen Spiels etwas weniger konsequent auszuspielen, wenn es erforderlich ist.

Denn natürlich wäre es für Charaktere bestimmter Hintergründe nur plausibel, den Ork, der ihnen gerade über den Weg läuft, ohne nachzufragen zu erschlagen.

Dass das natürlich keinen Spielspaß für den*die Orkspieler*in bringt, versteht sich von selbst. Und so verlegt man sich vielleicht darauf, einander anzupöbeln oder sogar eine Spielsituation zu schaffen, in der man gezwungen ist, zähneknirschend zusammenzuarbeiten.

Im Reenactment ist es eher unwahrscheinlich, dass Darstellende verschiedener Epochen oder Ereignisse aufeinandertreffen. Es wird kaum passieren, dass eine Gruppe Wikinger zur Schlacht von Waterloo aufmarschiert, oder eine Dame in Gewändern der Tudor-Ära sich zu einer Veranstaltung vor dem Hintergrund des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges gesellt.

Das Setting ist klar definiert, Geschichte soll erlebt und erlebbar gemacht werden, denn im Gegensatz zum Liverollenspiel findet hier eine Darstellung vor und für Publikum statt. Gar nicht so unwahrscheinlich ist es dagegen, dass sich auf einem Fantasy-Larp eine Gruppe Fantasy-Wikinger und eine Gruppe historische Wikinger begegnen.

Detailreiche Handarbeit, schon von Weitem zu erkennen
Detailreiche Handarbeit, schon von Weitem zu erkennen

Viele Larp-Gruppen, die an historische Darstellung angelehnt sind, haben jemanden in ihren Reihen der*die auch Reenactment betreibt, und profitieren von der Expertise und den Fertigkeiten, die diese Mitglieder einbringen.

Andere Gruppen haben ihren Hintergrund sogar direkt in der realen Geschichte und sind sehr darauf bedacht, dies in Gewandung, Ausdruck und Umgang möglichst exakt darzustellen, auch wenn sie sich auf Fantasy-Larp-Veranstaltungen bewegen.

Und das ist oftmals der Punkt, an dem ein Konflikt zwischen Teilnehmenden seinen Anfang nimmt.

Denn manchmal besteht das Verständnis von konsequentem Spiel darin, die eigene Darstellung in einer Form zu verteidigen, die zum Angriff auf die jeweils andere werden kann. Sicherlich muss jeder der beiden Seiten die andere fremd, wenn nicht gar lächerlich erscheinen, wenn sie ihrem Hintergrund konsequent treu sein wollen.

Der Fantasy-Wikinger mit düsterer Gesichtsbemalung wird sich möglicherweise bemüßigt fühlen, sich den ein oder anderen Witz über die historisch korrekte Zipfelmütze seines Gegenübers zu erlauben, welches sich soeben vielleicht in ähnlicher Weise über dessen Aufmachung ausgelassen hat. Den eigenen Maßstab an einer Stelle anzulegen, wo er aber nie vorgesehen war, sprich, Phantastisches nach historischer Stimmigkeit zu beurteilen oder umgekehrt, führt schnell nur zu Frust für alle Beteiligten.

Ein Standpunkt, der als “mein Larp ist besser als deins” wahrgenommen wird, ist in den seltensten Fällen ein geeigneter Start für konstruktiven Austausch und bereicherndes Spiel.

Mit Liebe zum Detail

Sowohl im Liverollenspiel als auch im Reenactment stecken die Spielenden in der Regel über die Jahre viel Geld, Zeit und Aufwand in ihr Hobby, ihre(n) Charakter(e) und ihre Darstellung.

Sei dies in Form von hunderten Arbeitsstunden an Handarbeiten, die oft die Grenze zur experimentellen Archäologie überschreiten und mit Recherche zu originalen Funden einhergehen. Oder in die Ausarbeitung von Charaktergeschichte, Requisiten und Gewandungselementen, die sich am phantastischen Hintergrund orientieren.

Historisch inspirierte Details vervollständigen phantastische Darstellungen
Historisch inspirierte Details vervollständigen phantastische Darstellungen

Beide Hobbies leben gleichermaßen von der Liebe, mit der einzelne Projekte gestaltet werden.

Reenactment hat hier den Vorteil, dass die gesamte Arbeit, wenn auch erst beim näheren Hinsehen, am Ende sichtbar und für Darstellende wie Zuschauende, greifbar wird.

Ein stimmiges Gesamtbild wird erzielt, das eine glaubhafte Darstellung eines vorgegebenen historischen Ereignisses oder Zeitraums möglich macht. Liverollenspielende wenden oft nicht weniger Zeit auf, um ihren Charakter so richtig gut aussehen zu lassen – zur optischen kommt hier aber auch die schauspielerische Ebene. Denn ein Liverollenspiel-Charakter will nicht nur gut angezogen, sondern auch mit Leben gefüllt werden. 

Der Kern der Darstellung liegt im Rollenspiel und die vorbereitende emotionale Arbeit wird nur selten auf den ersten oder zweiten Blick sichtbar. Oft dauert es Jahre, bis ein vorbereitetes Element zum Tragen kommt oder eine Fertigkeit erspielt wurde. Manchmal passiert das auch nie.

Es gibt nicht, wie auf einer Reenactment-Veranstaltung, eine Garantie, dass ein Ereignis eintritt, ein Spielmoment so kommt, wie erhofft. Charakter-Entwicklung ist harte Arbeit. Liverollenspielende sind im Idealfall genauso gut vorbereitet wie Reenactors. Sie wissen nur im Gegensatz zu diesen nicht immer, worauf.

Drama, Baby!

Im Reenactment und auf entsprechenden Veranstaltungen findet kaum bis kein Charakterspiel statt. Die optische Darstellung steht im Vordergrund, und aus der Authentizität dieser Darstellung ergibt sich der Bildungswert für die Zuschauenden.

Die Teilnehmenden verkörpern ein Ereignis als Ganzes, es gibt nicht, wie im Liverollenspiel einen Charakter, der gespielt wird. Es wird mehr eine Tätigkeit verkörpert als eine vollständige Person. Es kann ganz in einer erlernten Fertigkeit aufgegangen und diese anderen nähergebracht werden. Reenactor erfüllen also einen Bildungsauftrag, sowohl an anderen als auch an sich selbst.

Der große Auftritt
Der große Auftritt

Was dabei nicht stattfindet, ist das Ausloten von Gefühlen, das im Larp im freien Spiel oft von ganz alleine kommt und eine Bindung an die gespielte Rolle. Es fehlt der unerwartete Austausch mit anderen, da die „Bühne“ geschlossen ist und nicht von anderen übernommen werden kann.

Das heißt nicht, dass es nicht zu ergreifenden und emotionalen Momenten, zum Beispiel in einer dramatischen Schlachtendarstellung kommen kann. Diese ist aber ein für sich stehendes Ereignis, das zwar vom Darstellenden erlebt, aber die gespielte Rolle nicht auf Jahre formen wird.

Den großen Reiz im Liverollenspiel macht für viele das Erleben unerwarteter Situationen aus. Vor allem als NSC lassen sich manchmal unverhofft neue Seiten an sich selbst entdecken, ohne die Einschränkungen des eigenen oder eines historischen Alltagsgeschehens.

Liverollenspiel gibt uns die Gelegenheit, der inneren Drama-Queen auch mal freien Lauf zu lassen. Und oft macht erst diese Bereitschaft der Spielenden, sich auch in Extremsituationen auszuprobieren, einen Charakter, welcher Herkunft auch immer, menschlich und lebendig.

Emotionale Szenen prägen die Reise des Charakters und nehmen Einfluss auf sein*ihr Verhalten in der Zukunft. Denn, wenn wir ehrlich sind, die meisten Liverollenspieler*innen sind lieber Held*innen der eigenen Geschichte, als Statist*innen in einem großen Ganzen und sind genauso das eigene Publikum wie das der Mitspielenden.

Austausch bereichert – beide Seiten

Selbstverständlich bringen beide Hobbies ihre ganz eigenen Negativbeispiele mit – gern beobachtet an der jeweils anderen Seite.

Reenactor im Larp reiben sich oft an fragwürdigen Prioritäten, wenn beispielsweise ein*e Anfänger*in augenscheinlich wenig in die erste Gewandung, dafür aber umso mehr in die erste Waffe investiert hat.

Genauso wird von Larper-Seite umgekehrt ein Schuh daraus, dass eine Gewandung und Ausrüstung noch so schön und akkurat sein kann – wenn der*die Träger*in kein Spiel liefert, und die Rolle zwar optisch, aber nicht darstellerisch ausfüllen kann.

Es kann auch passieren, dass Neulinge sich neben einem „zu gut“ ausgestatteten Reenlarper nicht mehr wohlfühlen. Denn wer natürlich entsprechend Zeit und Arbeit in die Ausstattung investiert, setzt Maßstäbe. Dies kann im besten Fall bereichernd und ein Ansporn sein, am Ende ganze Gruppen zum optischen Highlight zu machen.

Im schlechtesten fühlt es sich nach Elite an, und Spielende steigen aus, weil sie sich optisch an die Wand gespielt fühlen, obwohl sie spielerisch vielleicht eine Menge beizutragen hätten.  Im Gegenzug können beide Darstellungsweisen auch im großen Ausmaß voneinander profitieren, statt voneinander zu verlangen, sich dem „artfremden“ Maßstab anzupassen.

Reenactor haben oft einen großen Erfahrungsschatz an handwerklichen Fertigkeiten erworben, die besonders für Neulinge gut geeignet sind, sei es, um die erste eigene Gewandung oder Teile davon selbst zu machen, oder eine günstige Erstausstattung mit wenig Aufwand aufzuwerten.

Hilfe statt Kritik anzubieten, macht es anderen einfacher, in das Hobby hineinzuwachsen.

Braucht dagegen ein Charakter etwas mehr Substanz, wird wohl kaum ein*e Liverollenspielende*r nicht seine*ihre Hilfe anbieten, gemeinsam Hintergrund und Motivation zu erarbeiten oder im Spiel dazu zu ermutigen, die eigenen Grenzen auszuloten, wenn das Gespür für die richtige Portion Drama fehlt. 

Mehr Durchmischung der beiden Szenen wäre also vielleicht sogar wünschenswert – ohne den belehrenden Zeigefinger. Spielende, die Wert auf hochwertige optische Darstellung legen und solche, denen tiefes Charakterspiel am Herzen liegt, können beide voneinander lernen. Vielleicht lohnt sich für einige ja ein Ausflug in die jeweils andere Szene, mit dem festen Vorsatz, etwas mitzunehmen, das das eigene Hobby für alle schöner macht.

Titelbild: depositphotos © cristianoaless
Artikelbilder: © Karsten Zingsheim
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Giovanna Pirillo
Fotografien: © Karsten Zingsheim

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein