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Liverollenspiel bedeutet für die meisten, einfach einmal jemand anders zu sein. Doch egal wie sehr wir uns bemühen, es kann immer geschehen, dass Spiel und Wirklichkeit sich nicht ganz trennen lassen. Aber ist der sogenannte Bleed immer nur Fluch, oder vielleicht manchmal auch Segen?

Unter dem Bleed (von engl. Bluten, ausfärben) versteht man das Übergreifen von Emotionen und Erlebnissen aus dem Rollenspiel ins reale Leben und umgekehrt – ein Phänomen,

mit dem sich auch Teilzeithelden schon beschäftigt hat – und das es zu vermeiden gilt, wenn man die meisten Liverollenspielenden fragt. Denn so sehr der mit dem Liverollenspiel einhergehende Eskapismus Spielenden gut tun kann, so sehr ist es auch wichtig, nach dem Abenteuer ins echte Leben zurückzukehren – möglichst ohne unfreiwillige „Souvenirs“. Wirklich davor gefeit ist jedoch niemand, weshalb die Frage lohnt, ob wir nicht auch den Bleed für uns nutzen können.

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Noch einmal mit Gefühl

Liverollenspiel lebt von Leidenschaft. Das muss es auch, denn ohne Leidenschaft für ihr Hobby würden Spielende wohl kaum die Mengen an Zeit, Geld und Ressourcen in ihre Charaktere und die Teilnahme an Veranstaltungen investieren, die sie immer wieder aufbringen. Viele Spielende verbindet mit ihren Charakteren, egal ob es nur ein seit Jahren liebevoll gehegtes Exemplar oder eine kleine Sammlung ist, eine innige Beziehung. Larp-Charaktere bieten uns die Möglichkeit, in „einfachere“ Welten einzutauchen und dort die aberwitzigsten Entscheidungen zu treffen, ohne mit realen Konsequenzen rechnen zu müssen. Wir können strahlende*r Held*in oder bitterböses Ungeheuer sein, mit dem gesamten Spektrum zwischen diesen beiden zu unserer freien Verfügung. Wer sich ganz auf den dargestellten Charakter einlässt, kann zu Höchstleistungen auflaufen: physisch und geistig wie auch emotional.

Denn schließlich besitzt auch der vergeistigte Paladin ein Gefühlsleben, auch die fiese Orkschamanin ein Herz. Das ist der Punkt, an dem Spielende beginnen müssen, Emotionen zu navigieren, die vielleicht nicht ihre eigenen sind, obwohl sie genau so intensiv erlebt werden können wie das jeden Tag erlebte Gefühlsleben. Wenn ein Spiel oder eine Veranstaltung als besonders emotional erlebt wurde, kommt es bei der Rückkehr nach Hause zu einem Phänomen, das vielen Larper*innen als Con-Blues bekannt ist. Das Wiederankommen in der modernen Welt fällt schwer, man vermisst die Menschen, mit denen man eine Zeit im Ausnahmezustand verbracht hat und dann ist es oft nicht ganz einfach, zu unterscheiden, welche Persönlichkeit jetzt was oder wen vermisst.

Dieses Ineinanderfließen von Emotionen zwischen Charakter und Spieler*in bezeichnet man als (emotional) Bleed. Liverollenspiel bietet uns eine Pause vom Alltag und auch wenn es keine therapeutische Maßnahme ist, können ein paar Tage Eskapismus uns guttun – gerade wenn wir wissen, dass das, was wir erleben, nicht real ist. Manchmal braucht man einfach eine kleine Pause von der Realität, um sie wieder zu schätzen zu wissen.

Leider zieht das menschliche Gehirn die Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit nicht zuverlässig von selbst und unterscheidet beides nicht immer korrekt. Gerade ein intensives Hobby wie Larp lässt die Grenze zwischen den Welten gern verschwimmen. Damit umzugehen ist eine Leistung, die während des Spiels permanent erbracht wird.

Große Emotionen sind Teil des Liverollenspiels © Nabil Hanano

Frag nicht (nur), was du für deinen Charakter tun kannst …

Egal, wie sehr man sich vornimmt, den dargestellten Charakter von der eigenen OT-Person und Persönlichkeit zu trennen, so ganz ist das nur in den seltensten Fällen möglich. Eigene Denkmuster, moralischer Kompass und die eigene Lebensrealität werden immer eine Rolle spielen – und sei es nur, um den Charakter genau entgegengesetzt zu dem handeln zu lassen, was das reale Ich des*der Spielenden tun würde.

Jeder dargestellte Charakter profitiert immer auch von den Erfahrungen der Darstellenden.

Ob nun Fantasy oder Postapokalypse bespielt werden, wir können immer nur auf das zurückgreifen, was wir kennen und zu dem wir Bezug haben. Das gilt nicht minder für emotionale Reaktionen. Sehen wir uns im Spiel mit Angst, Wut, Verlust oder auch mit Zuneigung oder gar Romantik konfrontiert, braucht es viel Konzentration und Reflektion, um mit diesen Situationen erfolgreich umzugehen. Um die Frage zu beantworten „wie würde mein Charakter mit dem Hintergrund, den ich geschaffen habe, jetzt reagieren?“, müssen Spielende immer auch die Frage im Hinterkopf behalten, was sie selbst jetzt tun – oder nicht tun – würden.

Dadurch, dass Larp-Charaktere meist, zumindest zu Anfang ihrer Karriere, weit weniger facettenreich sind als eine reale Person, haben Spielende viel mehr Möglichkeit, auf einzelne Facetten der eigenen Persönlichkeit zurückzugreifen und diese anzuwenden. Der Charakter agiert wie ein Vergrößerungsglas, das alles Unwichtige außer Acht lässt.

Zu vermeiden gilt es in den Augen der meisten Spielenden, einfach nur „sich selbst“ zu spielen. Es ist nicht immer ganz einfach, sicher zu sein, dass nicht moderne Ansichten und Ausdrücke das eigene Spiel bestimmen. Manchmal kommt man einfach nicht aus der eigenen Haut oder fühlt sich mit einem völlig vom eigenen Selbst abweichenden Charakterkonzept nicht wohl. Dann spielt sich das eigene Ich in einer Art Paralleluniversum vorerst leichter.

Nicht selten kommt es aber auch vor, dass man ganz neue Seiten an sich selbst entdecken kann, die im realen Alltag eher selten zum Tragen kommen. So mag jemand, der im Job viel organisieren muss, im Lazarett eines Schlachten-Cons eine*n hervorragende*n Chef- Heiler*in abgeben, oder ein Mensch aus einem sozialen Beruf einen abgrundtief bösen Ork – weil er oder sie ganz genau weiß, wie soziales Verhalten nicht geht.

Eine Frage der Persönlichkeit? © Nabil Hanano

…sondern auch, was dein Charakter für dich tun kann!

So sehr Spielende im Larp aus sich herausgehen können, so schnell muss man bei der Heimkehr in Alltag und Arbeit wieder zurückkehren. Ein beliebter Ratschlag ist es, dem Con-Blues und dem Bleed mit dem „Kulturschock“ direkt den Garaus zu machen. Das beginnt mit dem traditionellen Besuch einer Fast-Food-Kette bei Abreise und klappt auch über Musik, Filme und ausgewählt „moderne“ Aktivitäten.

Wenn Spielende aber vielleicht etwas sanfter zurück ins echte Leben starten möchten, können sie sich auch fragen, was sie möglicherweise ganz gezielt mitnehmen möchten. Denn im Alltag ab und an den Kontakt zu den eigenen Charakterrollen zu halten, kann auch Vorteile haben.

Wer im täglichen Leben eher introvertiert unterwegs ist, aber auf dem letzten Groß-Con vielleicht eine Rolle mit Befehlsgewalt innehatte, kann sich nun vielleicht etwas mehr in den Mittelpunkt des Geschehens trauen. Wer schlecht Ruhe findet, mag an den Abend im Tempel zurückdenken, den man im Kreis von Freunden verbracht hat.

Liverollenspiel gibt Spielenden die Möglichkeit, im geschützten Rahmen Dinge auszuprobieren, aber auch zu üben. Sich in einer fordernden Alltagssituation zu fragen, was der eigene Charakter jetzt tun würde, kann helfen, einige Facetten der eigenen Persönlichkeit für den Moment aus dem Fokus zu nehmen, um auf eine andere zurückzugreifen.

Wer sich bewusst macht, dass man eine Situation im Rahmen des Spiels schon einmal gelöst hat, kann im realen Leben die eigenen Charaktere wie einen Werkzeugkasten benutzen, wenn es notwendig wird.

Das große Extrem, wenn es an das Thema Bleed geht, sind die großen Gefühle, zu denen Menschen fähig sind. Denn auch Liebe und Hass haben ihren Platz im Liverollenspiel, wäre doch ohne sie kaum ein episches Abenteuer wirklich komplett. Hier gilt immer besondere Vorsicht und nicht umsonst wird Spielenden geraten, in dieses Spiel nur einzusteigen, wenn sie sich wirklich sicher fühlen. Wird es romantisch oder steht eine Erzfeindschaft auf dem Programm, sollte sich immer im OT (Out-Time, außerhalb des Spiels) abgestimmt werden. Diese Art Spiel braucht Vertrauen, klare Grenzen und funktioniert am besten unter wirklich gut miteinander bekannten Spielenden oder Freund*innen. Rücksicht auf real Erlebtes ist hier besonders wichtig und schützt nicht nur vor Bleed, sondern auch vor potentieller Konfrontation mit einem traumatischen Ereignis. Sich hierauf einzulassen, sollte gut überlegt sein, denn emotionale Bindung an einen Rollenspiel-Charakter kann sehr schmerzhaft und schwierig sein.

Einfach mal jemand ganz anderes sein © Nabil Hanano

Aber auch das Spiel mit diesen Extremen kann, wenn es als bereichernd erlebt wurde, helfen, daran zu wachsen. Denn auch Stress im Spiel ist real erlebter Stress, egal ob positiv oder negativ. Sich daran zu erinnern, was erlebt und wie diese Situationen gefühlt, aber auch erfolgreich navigiert wurden, kann Spielenden vor Augen führen, wozu sie fähig sind.

Bewusster Umgang mit dem Phänomen Bleed funktioniert in beide Richtungen. Spielende füllen ihre Charaktere mit Leben und können dabei einfach einmal alles über Bord werfen, was unnötiger Ballast wäre – und das ist im realen Leben unmöglich. Man reduziert sich auf das Wesentliche und kann dennoch weiterhin auf den eigenen Erfahrungsschatz zurückgreifen.

Und auch in die andere Richtung kann das mit ein wenig Fingerspitzengefühl funktionieren. Nicht nur als sanfterer Übergang aus dem Con-Blues, sondern auch für den Umgang mit dem, was das Leben so mit sich bringt. Ein Tag im Büro kann wesentlich leichter werden, wenn man sich ab und zu kurz von den eigenen Charakteren über die Schulter schauen lässt und sie fragt: „Was würdest du jetzt tun?“

 

 

Artikelbilder: © Depositphotos | ikurucan
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Alexa Kasparek
Fotografien: Nabil Hanano

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