Geschätzte Lesezeit: 12 Minuten

Bevor das Kennenlernen einer Held*innengruppe in einer diesigen Taverne zum Klischee wurde, waren Etablissements wie das Tänzelnde Pony Begegnungsort späterer Gefährten aus Der Herr der Ringe. Auch der neue Abenteuerband für The One Ring nimmt seinen Lauf im Tänzelnden Pony und ist zum Glück alles andere als verstaubt.

Die prominente Stellung des Tänzelnden Ponys im The One Ring-Kampagnenband Tales From The Lone Lands hat ihren Grund: Die Tavernenmetropole Bree dient oft als Ausgangspunkt für die sechs Abenteuer, welche im Norden Eriadors, also dem bekannten Teil Mittelerdes, spielen. Abseits seiner Tavernen stehen die Lone Lands vor allem für verlassene Bauten und untergegangene Königreiche, die es für Spieler*innen zu erkunden gilt. Diese bilden im Band eine Reisegemeinschaft und finden sich unverhofft an der vordersten Front gegen die neu erstarkenden Mächte Saurons.

Triggerwarnungen

Tod, Gewalt, Krieg, emotionaler Missbrauch, Alkoholmissbrauch, extrem dargestellte Gewalt, Gewalt gegen Kinder, Body Horror

[Einklappen]

Düster und held*innenreich – Die Geschichte(n) von Tales From The Lone Lands

Von bescheidenen Anfängen – A Troll Hole, If Ever There Was One

Als Routineauftrag beginnt das erste Abenteuer „A Troll Hole, If Ever There Was One“ für die frisch zusammengefundene Gruppe. Von Bree aus begleitet man den zwielichtigen Zwerg Jari und seinen Begleiter Diarmoc, die den Schatz von Jaris Großonkel Bori aus den Griffeln von Goblins befreien möchten. Dabei kann eine Stippvisite auf der Wetterspitze eingelegt werden, bevor es schlussendlich ins verborgene Tal geht.

Trotz des Fokus auf den hohen Norden führt Tales From The Lone Lands einmal quer durch Eriador.
Spoiler für das erste Abenteuer

Sowohl Jari als auch Diarmoc sind jedoch nicht, was sie scheinen. Jari entpuppt sich als Ausgestoßener der Blauen Berge, der mit einer Troll-Familie im verborgenen Tal im Bunde liegt, weitere Reisende in die Falle zu locken. Diarmoc, ein geflohener Bauer aus Rohan, wird von Jari erpresst, da die Trolle Diarmocs Familie gefangen halten. Die Spieler*innen versuchen nun, sowohl dem Zwerg das Handwerk zu legen als auch möglichst viele Gefangene zu retten, die die Trolle unter anderem in einer maroden Festung des vergangenen Königreichs Arthedain gefangen halten.

[Einklappen]

Das Abenteuer ist ein solider, wenn auch vom Rest der Kampagne etwas entrückter Start in Tales From The Lone Lands, in welchem die Töne von wiederkehrender Düsternis und Korruption durch das Böse bereits anklingen. Etwas schwierig entpuppte sich in einem Anspielen der richtige Köder für die Gruppe, dem von Anfang an schmierigen Jari zu vertrauen und zu folgen.

Genealogische Forschung auf See – Messing About In Boats

Alles in der Stadt Lond Daer wartet auf den Nachfahren eines*einer berühmten Held*in, seit die Seher*innen der Stadt diese*n in einer Vision gesehen haben. Schlussendlich ist es dann ein ritterlicher Hobbit, der aus den Beschreibungen der Seher*innen einen der SC als genau diese*n Held*in erkennt.

Spoiler für Streich Nummer Zwei

Bei einer Audienz mit der Königin von Lond Daer und ihrem Hofseher wird endgültig klar, dass der SC heroische Vorfahren hat und laut der Seher*innen-Kaste, die neuerlich von Visionen eines finsteren Hügels geplagt wird, die Rettung bringen soll. Es entspinnt sich eine Seereise zur Insel der Mutter, am Rande Mittelerdes, die es nicht nur von Geistern, sondern auch von Geheimnissen zu befreien gilt. Auch wenn die SC es von der Insel schaffen: Bedrohliche Visionen, gleich denen der Seher*innen, befallen nun auch sie.

[Einklappen]

Der Aufhänger des Abenteuers bedingt ein gewisses Spotlight für den heroischen SC, dennoch ist „Messing About In Boats“ ein durchaus offenes Abenteuer, welches erste Weichenstellungen für den weiteren Verlauf der Kampagne legt.

Der Band hat einen klaren Geschichten-Fokus. NSC werden wie oft nur mit ihrer Geschichte und nicht extra mit Werten beschrieben.

Der doppelte Gandalf – Kings Of Little Kingdoms

Fast allen The One Ring-Spielenden wie -Charakteren wird Gandalf der Graue ein Begriff sein. Umso verwunderter dürften sie sein, wenn eine besorgte Mutter die Gruppe anfleht, ihren Sohn aus den Fängen eines Mannes zu befreien, der sich ihr als Gandalf vorgestellt hatte.

Wer steckt unter der Maske Gandalfs?

Auf der Suche nach dem doppelten Gandalf stoßen die SC im Hause eines herrischen, alten Bauern auf weitere Hinweise: Der zweite Gandalf ist lediglich ein Bandit, der unwissende, junge Menschen für seine Diebereien einspannt, etwa den Hof des alten Bauern zu überfallen. Die Bandit*innen-Bande selber hat sich in einem verfluchten Wachturm des Königreichs Arthedain eingenistet. Die Bande findet sich alsbald aber selbst in der Bredouille, da die immer im Hintergrund lauernde böse Macht in dieser Region der Leiche einer dort begrabenen Numenor-Heldin neues Leben eingehaucht hat, um Chaos zu stiften.

[Einklappen]
Wer würde diesem durch und durch vertrauenserweckenden Zauberer nicht seinen Nachwuchs anvertrauen wollen?

Trotz der vordergründigen Verwechslungskomödie hat das Abenteuer nicht nur wegen der im Hintergrund lauernden Macht düstere Momente, sondern zeigt genauso menschliche Abgründe auf, mit denen die Held*innen sich konfrontiert sehen.

Das Gefangenendilemma – Not To Strike Without Need

Das vierte Abenteuer zieht Spieler*innen in die Banditenstadt Tharbad, wo sie einen Gefangenenaustausch bewerkstelligen sollen, doch der Bandit Jon-A-Leaping ist mehr, als er zu sein scheint.

Das ist der Gefangene im Nebenberuf.

Auf dem Weg nach Tharbad treffen die Spieler*innen eine abgekämpfte Rangerin aus einem früheren Abenteuer wieder, welche den Gefangenen vor einiger Zeit unter Drohungen zu einem Boten für ihr Spionagenetzwerk in Tharbad machte. Durch die Gefangennahme Jon-A-Leapings müssen die Spielenden nicht nur das Kunststück des Gefangenaustausches absolvieren, sondern ebenso in einer durch und durch brutalen und korrupten Stadt überleben und wichtige Informationen aus der Stadt schleusen. Dies markiert auch das erste Mal, dass die Gruppe mit Saurons Agent*innen konfrontiert wird.

[Einklappen]

Mit spannenden Nebencharakteren hält „Not To Strike Without Need“ bei Laune und das offene Ende, unterstützt durch die freien Abenteuerlandschaften, lässt bei Spielgruppen hoffentlich das intendierte Gefühl von Unsicherheit zurück.

Keeping up with the Eichenschilds – Wonder Of The Northern World

Als Briefträger*innen verdingen sich die SC in „Wonder Of The Northern World“. Sie sollen Flonar, einem Cousin von Thorin Eichenschild, eine Nachricht überbringen und reisen dazu in eine zwergische Kolonie in den Lone Lands. Was die Spielenden nicht wissen: Der Kolonieanführer hat sich mächtige Feinde gemacht.

Das erwartet Spielende in der Kolonie.

Die Zwergensiedlung wurde von Orks im Auftrag Saurons überfallen, der um Aufdeckung seiner Pläne fürchtete, nachdem Flonar in Moria auf Orks traf. Die Siedlung wurde regelrecht massakriert. Jedoch kann die Ork-Armee eingeholt und einige Zwerge gerettet werden. Nachdem die Gruppe einem Rat in den blauen Bergen beiwohnt, kommt es zum großen Finale in der Festung Rath Sereg – entweder mit zwergischer Unterstützung oder als leise Infiltration. Ein Kampagnen-Antagonist, ein Ork mit dem Namen Snava, entwischt in jedem Fall weiter in den Norden.

[Einklappen]

Obwohl die nochmal offenere Abenteuer-Struktur nicht jedermanns Fall sein dürfte: Mit vielen Hintergründen zur zwergischen Kultur ist „Wonder Of The Northern World“ eine willkommene Abwechslung zu den bisherigen Abenteuern, zieht in puncto Düsternis aber nochmal kräftig an.

The Quest Of Amon Guruthros

Aus den vorangegangenen Abenteuern haben die Spielenden nun mehr als genug Gründe, eine Expedition in den hohen Norden zu starten, um dem Bösen auf den Grund zu gehen. Dass diese nicht ohne Probleme verläuft, versteht sich von selbst.

Das ist das Ziel der Reise in den Norden.

Mittlerweile hat die Gruppe Bestätigung, dass es sich bei dem Berg aus den Visionen, welche sie seit dem zweiten Abenteuer begleiten, um den Hügel der Angst handelt. Ein befestigter Berg, der einst das Machtzentrum des Hexenkönigs, einem der späteren Nazgûl, bildete. Ein großer Endkampf kann stattfinden, viel mehr ist das Finale jedoch davon geprägt, ein Portal zu schließen, welches die Sterblichkeit symbolisiert und durch welches böse Geister Mittelerde betreten. Unter anderem im Überwinden dieser Angst kann die Gruppe erfolgreich sein.

[Einklappen]

Das unkonventionelle Ende dürfte für einige Überraschungsmomente sorgen, auch wenn das Ende mit leisen Tönen und recht abrupt vonstattengeht.

Altbekannte wie neue Kreaturen aus der Welt Tolkiens warten darauf, die Spieler*innen in die Bredouille zu bringen.

Der Aufbau der Abenteuer

Die Abenteuer folgen alle dem gleichen Aufbau. In einzelne Kapitel oder Szenen unterteilt, können in schön geschriebenen Texten Hintergründe, NSC und Ereignisse nachgelesen werden. Dabei gibt es keinen vorgegebenen Handlungsverlauf, nur Anfangs- und Endszenen sowie große Abenteuerlandschaften und Landmarken, zum Beispiel die Wetterspitze, die es zu erkunden gilt. Mögliche Konfliktherde, etwa auf wessen Seite die Spieler*innen sich in einem familiären Konflikt schlagen, werden nur skizziert, nicht ausformuliert. In den Worten des Buchs haben manche Abenteuer, vor allem aber das fünfte, kein klares Ziel, die Gruppe reagiere lediglich auf Umstände, aus denen sich die Geschichte weiterentwickle.

Explizite Gewaltdarstellungen bestimmen oftmals die letzten Abenteuer. Schon diese Titelseite lässt nichts Gutes erahnen.

Ob die Gruppe dann einzelne Geheimnisse überhaupt aufdeckt, in welcher Reihenfolge und vor allem, wie sie darauf reagieren, bleibt vollkommen offen. Damit brauchen zukünftige SL von Tales From The Lone Lands eine gehörige Portion Eigenarbeit und Organisationstalent, um aus den romanartigen Beschreibungen ein strukturiertes Pen-and-Paper-Abenteuer herauszuarbeiten.

Abseits des ersten, etwas von der eigentlichen Kampagne losgelösten Abenteuers ist lobend hervorzuheben, dass wirklich darauf geachtet wurde, eine aufeinander aufbauende Kampagne zu erschaffen. Früh schon baut sich sowohl Spannung, noch mehr aber die Bedrohung und ein haarsträubendes Unwohlsein auf, welches den großen Antagonisten in Form von Visionen früh auf den Plan der Spieler*innen als auch der Bevölkerung der Lone Lands ruft. Kleine NSC-Rollen aus früheren Abenteuern können zum Ende der Kampagne Auftraggeber*innen werden (vorausgesetzt das oben erwähnte Organisationstalent), sodass dauerhafte Bekannt- und Freundschaften entstehen, deren Wiedersehen SC wie Spieler*innen auf den mitunter düster-einsamen Reisen durch Eriador erfreuen wird.

Denn die Reisen werden Held*innen durchaus vor neue Herausforderungen stellen, wurde die Reisemechanik aus The One Ring doch angepasst, um Hochseereisen und eiskalte Expeditionen in den hohen Norden mit eigenen Ereignissen gebührend darzustellen. Ebenso ist die Ratsmechanik minimal abgewandelt, wenn die Spieler*innen einem Rat der Zwerge beiwohnen. Dies sind allein bestimmt keine Gründe für den Kauf des Buches, aber im Rahmen der Kampagne tragen sie dazu bei, den Lone Lands eine Art eigenen Charakter zu verpassen, der sich durch seine Unwirtlichkeit nochmal deutlich vom Grundregelwerk abhebt.

Minimalistisch im Cover, hochwertig in der Verarbeitung. So präsentiert sich der Einband von Tales From The Lone Lands.

Etwas verwunderlich wirkt die Tatsache, wie sicher sich Tales From The Lone Lands zu sein scheint, dass Lesende den einzigen anderen bisher erschienen Hintergrund-Band für The One Ring, Ruins Of The Lost Realm besitzen. Die Hälfte der beschriebenen Abenteuer kommt nicht ohne Verweise auf Ruins Of The Lost Realm aus, besonders wenn es sich um wichtige Landmarken oder Städtebeschreibungen handelt. Dies ist zum einen verständlich, da Ruins Of The Lost Realm es sich auf die Fahne geschrieben hat, eben jene im größtmöglichen Detail zu beschreiben. Auf der anderen Seite ist es aber äußerst schade, da dann der Wort- und Beschreibungsreichtum von Tales From The Lone Lands oft auf einzelne Sätze zusammenbricht, etwa bei den Hafenstädten Lond Daer und Tharbad. So bleibt das Gefühl, dass hier ein wenig Hintergrund fehlt.

Erscheinungsbild

Die wenigsten Rollenspielbücher dürften derart wertig herkommen wie Tales From The Lone Lands. Selbst für die von Free League hohen Standards in puncto Buchgestaltung sind die leicht geriffelte Oberfläche von Tales From The Lone Lands, auf welchen sich sogar die Schrift erfassen lässt, und die dicken, matten Seiten einzigartig.

Im Buchinneren geht es etwas schlichter zu. Beige- und Brauntöne definieren die Seiten, eingerahmt von rotbraunen Elbenbordüren, die alle der 112 Seiten zieren. Die Illustrationen sind, bis auf die Titelseiten der Abenteuer, ausschließlich in Schwarz-Weiß, was ihnen eine gewisse Ernsthaftigkeit verleiht. Die Zeichnungen der Abenteuerschauplätze sind ebenso kunstvoll und ufern wie das uralte Böse, das in ihnen lauert, meist über eine Doppelseite aus. Dies gestaltet sich mitunter etwas unpraktisch, da sich die illustrierten Schauplätze dann am Spieltisch wie online nur schwer den Spieler*innen zeigen lassen – zumindest ohne Verrenkungen mit dem Buchrücken anzustellen oder Tobsuchtsanfälle in PDF-Editoren zu erleiden.

Auch ein Inhaltsverzeichnis sowie ein Index, beide etwas klein gelayoutet, bringt Tales From The Lone Lands mit, um im Wust der Charaktere nicht den Überblick zu verlieren. Für die geografische Orientierung liefert das Buch dann noch gleich zwei verschiedene Karten von Eriador (einmal kunstvoll, einmal für die Reisemechanik von The One Ring) auf den äußersten Buchseiten.

© Free League

Die harten Fakten:

  • Verlag: Free League
  • Autoren: Hanrahan, Gareth; Nepitello, Francesco; Perassi, Lorenzo et. al.
  • Erscheinungsjahr: 2023
  • Sprache: Englisch
  • Format: Hardcover A4, PDF
  • Seitenanzahl:112
  • ISBN: 978-91-89765-13-9
  • Preis: 36,95 EUR (Print), 19,99 USD (PDF)
  • Bezugsquelle: Fachhandel, DriveThruRPG. Sphärenmeister

 

Fazit

Tales From The Lone Lands ist mit seinen langen, romanartigen Fließtexten und der sehr offenen Abenteuerstruktur sicherlich nicht das einfachste Buch für Neulinge. Ist diese „Hürde“ genommen, erwartet die Spielenden eine sich langsam entwickelnde, aber sehr intensive Kampagne, die einmal quer durch Eriador führt. Auch für One-Shots sind die Abenteuer gut zu gebrauchen, da sie mitunter sehr verschiedene Stimmungen, von komödiantisch bis sehr düster, ansprechen.

Die erweiterte Reisemechanik verschafft dem hohen Norden außerdem einen eigenen, unwirtlichen Charakter, der nicht zuletzt durch die stilvolle Aufmachung in Form von Karten und Illustrationen, unterstrichen wird. Der bildliche Lesefluss wird nur an manchen Stellen unterbrochen, wo die mehrseitigen Illustrationen die Übersichtlichkeit erschweren. Auch erzählerisch gibt es kleinere Brüche, da das Buch an mancher Stelle nur mit Verweisen auf das Ruins Of The Lost Realm auskommt. Abseits dieser kleineren Makel ist Tales From The Lone Lands aber ein überaus gelungenes Werk, welches dem Tänzelnden Pony noch viele Held*innen als Gäste bescheren wird.

  • Anregende Texte beschreiben die Abenteuer
  • Aufeinander aufbauende Kampagne mit interessanten, wiederkehrenden Figuren
  • Erweiterung bestehender Regelmechaniken, etwa beim Reisen

 

  • Offene Abenteuerstruktur und Fließtexte erfordern viel Vorarbeit
  • Manche Details finden sich nur im Vorgängerband
  • Erschwerte Übersichtlichkeit durch seitenüberspannende Illustrationen


Artikelbilder: © Free League

Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Gloria Puscher
Fotografien: Jonas Krüger
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

Dieser Artikel enthält Affiliate-Links. Durch einen Einkauf unterstützt ihr Teilzeithelden, euer Preis steigt dadurch nicht.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein