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Jeder Fantasy-Fan kennt Mittelerde aus J. R. R. Tolkiens Der Herr der Ringe, und viele davon würden dort gerne selber einmal ein Abenteuer erleben. Viele kreative Köpfe haben sich bereits am komplexen Stoff verhoben. Heute testen wir, wie es Adventures in Middle-Earth gelingt.

Vor etwas über fünf Jahren brachte die britische Rollenspielschmiede Cubicle 7 eines der bislang ambitioniertesten Regelsysteme auf den Markt, mit dem Abenteuer in Mittelerde am Spieltisch möglich sein sollten. The One Ring Roleplaying Game wurde zum Kritikerliebling und räumte viele Preise ab. Vor über drei Jahren hat Dirk Walbrühl das System bereits auf diesen Seiten besprochen und dabei auch einen kurzen Überblick über die Geschichte bisheriger Rollenspielsysteme zu Der Herr der Ringe verfasst, den ich mir deswegen an dieser Stelle spare. Die deutsche Version besorgte schließlich der Uhrwerk Verlag, der im Februar diesen Jahres jedoch mitteilte, die Produktreihe aufgrund mangelnder Umsätze einzustellen.

Im englischsprachigen Raum erfreut sich das System jedoch immer noch großer Beliebtheit, weswegen es sich der Publisher erlauben kann, mit dem vorhandenen Setting in eine weitere Richtung zu expandieren. Das Ergebnis ist Adventures in Middle-Earth, eine Umsetzung von The One Ring nach d20-Regeln von Dungeon&Dragons 5. Manch einer mag nun skeptisch die Augenbrauen heben und das für eine unnötige Vereinfachung der Regeln und das schamlose Anbiedern an den Mainstream halten. Aber vielleicht ist es auch nur ein sinnvoller Schritt, um potenzielle neue Spieler zu erreichen. Letztlich zählt, was am Ende dabei rauskommt, und das wollen wir uns nun näher ansehen.

Die Spielwelt

Mittelerde ist wahrscheinlich eine der bekanntesten Fantasy-Welten. Fast jeder, der sich auch nur ein bisschen mit diesem Genre beschäftigt, kann sie Tolkiens Der Herr der Ringe zuordnen. Geht es jedoch in die Tiefe, können nur wenige den Überblick über die komplexe Historie Mittelerdes behalten. Ebenso verhält es sich mit der Geographie, den verschiedenen Regionen, den Völkern Mittelerdes und ihrer Kultur. In diesem Punkt sind Experten rar gesät, denn viele Details finden sich nicht in den beiden weithin bekannten prosaischen Werken Der Herr der Ringe und Der Hobbit. Wer tief in Mythos und Welt eintauchen möchte, der muss sich noch durch einige Ergänzungen wie Das Silmarillion wühlen, das vom Namen her zwar ebenfalls fast jedem bekannt sein dürfte, das aber vergleichbar weniger Leute gelesen haben.

Hässliches fieses kleines Ding!
Hässliches fieses kleines Ding!

Dementsprechend wirkt ein Rollenspiel mit Schwerpunkt auf Mittelerde mitunter regelrecht frisch und unverbraucht, scheint dabei aber dennoch vertraut. Weise Elben in tiefen Wäldern, fleißige Zwerge unter den Bergen und gutmütige Hobbits in den Auen sind jedem ein Begriff, was aber abseits der epischen Reisen einiger wohlbekannter Gefährten in ihrem Leben passiert, ist so gut wie unbekannt.

Das Regelwerk legt den Fokus auf die Zeit zwischen Der Hobbit und Der Herr der Ringe und auf die Region nordöstlich des Nebelgebirges. Die gerade erst wiedererrichteten Königreiche in Thal und unter dem Einsamen Berg, die Seestadt Esgaroth, das Reich der Elben vom Düsterwald und die Ufer des nördlichen Anduin werden als lebhafte Landstriche dargestellt, in denen die Bewohner nach Jahrzehnten der Lethargie mit Tatkraft an einer besseren Zukunft arbeiten. Wer die späteren Ereignisse aus Der Herr der Ringe kennt, der weiß natürlich, dass es nicht mehr als eine letzte wertvolle Ruhepause vor dem Ringkrieg ist, ein letzter tiefer Atemzug, bevor der alte Feind die Länder der freien Völker erneut verheeren wird.

Auch die anderen Regionen Mittelerdes werden beschrieben, aber nicht ganz so ausführlich. Da es möglich ist, auch Charaktere aus Gondor, Rohan oder ganz anderen Landstrichen zu spielen, ist dies natürlich unverzichtbar.

Insgesamt wird Mittelerde stimmig beschrieben, und es gibt an jeder Ecke Anknüpfungspunkte und Ideenspender für neue Abenteuer. Seien es nun alte Ruinen, die von neugierigen Forschern erkundet werden können und so manchen verborgenen Schatz beinhalten mögen, oder von einem finsteren Schrecken geplagte abgelegene Dörfer, die um Hilfe bitten – in Mittelerde gibt es mehr als genug klassische Abenteueraufhänger, die durch das weltbekannte Setting an Farbe gewinnen.

Schlachtengetümmel - nicht aus Mittelerde wegzudenken
Schlachtengetümmel – nicht aus Mittelerde wegzudenken

Die Regeln

Genau wie Mittelerde weithin bekannt ist, kennen die meisten Rollenspieler wahrscheinlich auch die d20-Regeln, die inzwischen seit über fünfzehn Jahren unter der Open Gaming License frei nutzbar sind. Deswegen will ich mich den Kernregeln an dieser Stelle nur kurz widmen: Jeder Charakter hat die Attribute Stärke, Geschicklichkeit, Konstitution, Intelligenz, Weisheit und Charisma, von denen sich weitere Werte wie Initiative, Rettungswürfe und so weiter ableiten. Hinzu kommen Fertigkeiten wie Schwimmen, Klettern, Diplomatie und Schleichen, in denen man ebenfalls einen bestimmten numerischen Wert hat.

Die Basisregeln der d20 5e gibt es auch kostenlos zum Download,
ebenso wie die Regeln für den Dungeon Master.

Daneben gibt es noch Talente, die dem Charakter bestimmte Boni oder Fähigkeiten geben. Bei Adventures in Middle-Earth werden diese Talente für jede Klasse festgelegt, ebenso die Erfahrungsstufe, auf der diese aktiviert werden. Hinzu kommen noch die „Virtues“, also Tugenden. Nur wenige davon sind frei wählbar, die meisten sind an die jeweilige Kultur gebunden, die man bei der Charaktererschaffung gewählt hat.

So weit, so unkompliziert. Was aus The One Ring übernommen wurde, ist die Aufteilung der Abenteuer in eine Reise- und eine Gefährten-Phase. Vorgesehen ist, dass die Abenteurergruppe einmal im Jahr zu einer gemeinsamen Queste aufbricht. Dabei kann es sich um eine Forschungsreise zu alten Ruinen oder eine Erkundungsmission in feindliches Gebiet handeln. Neben dem eigentlichen Abenteuer spielen die Ereignisse auf der Reise eine wichtige Rolle, da sie große Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der Charaktere nehmen können. Diese Ereignisse werden über Zufallstabellen ausgewürfelt und von der Gefahrenstufe der Reise modifiziert. Diese reicht von 1 (Auenland) bis 5 (Mordor) und beeinflusst die Wahrscheinlichkeit, mit der die Reisegruppe unter guten Vorzeichen aufbricht oder bereits am ersten Reisetag von einem Unglücksfall aus der Bahn gestoßen wird. Auch die Anzahl der Zufallsbegegnungen und deren Art werden von der Gefahrenstufe beeinflusst, also ob der Jäger der Gruppe eine besonders wertvolle und nahrhafte Beute macht, die Gruppe auf einen Ort trifft, der leider die Heimat eines uralten Schreckens ist oder unvorbereitet den Weg mit einer Gruppe Orks oder Banditen kreuzt.

Nur ein Beispiel einer stimmigen Charakterskizze

Nachdem der eigentliche Zweck der Reise erfüllt ist, kommt es zur Rückreise, auf der es ebenfalls wieder zu kleinen Unannehmlichkeiten oder ausgewachsenen Problem kommen kann.

Welchen Sinn dies am Ende eines Abenteuers macht? Nun, der Clou bei Adventures in Middle-Earth ist unter anderem, dass die Abenteuer nie wirklich enden. Nach der Reisephase kommt die Gefährtenphase. In dieser Phase können die Charaktere sich eine Zuflucht suchen, sich in ihr entspannen, neue Verbündete gewinnen, in alten Schriften forschen oder einfach im nächsten Gasthaus von ihren Abenteuern berichten.

Sie können sich auch von belastenden Schattenpunkten befreien, die sie im Laufe ihrer Reise vielleicht angesammelt haben. Diese Punkte stellen dar, wie sehr der Schatten des Alten Feindes auf der Seele der Charaktere lastet. Jedes Mal, wenn sie sich durch einen Landstrich bewegen, der an den Schatten gefallen ist, laufen sie Gefahr, dass er sich im Verborgenen auf ihre Herzen legt. Doch auch Lügen, Drohungen oder Machtmissbrauch können zu Schattenpunkten führen.

Ebenso kann ein auf der letzten Reise zufällig gefundener Schatz zu großer Gier führen. Hat ein Charakter zu viele Schattenpunkte angesammelt, drückt sich dies in Wahnsinn, oder auch einfach nur Neid, Arroganz oder Hinterhältigkeit aus. Ein netter Regelmechanismus, der rollenspielerische Anreize schafft, um tragische Helden darzustellen, die mit dem Schatten in sich selbst kämpfen müssen.

Charaktererschaffung

Die Charaktererschaffung weicht nicht sonderlich von den grundlegenden d20-Regeln ab. Jeder Spieler wählt eine Kultur – zur Auswahl stehen Bardinger, Beorninger, Dúnedain, Zwerge vom Einsamen Berg, Elben aus dem Düsterwald, Hobbits, Menschen aus Bree, Menschen aus Seestadt, Menschen aus Minas Tirith, Reiter von Rohan und Bewohner der Wilderland – und eine Klasse aus. Bei den Klassen handelt es sich um Scholaren, „Slayer“, Schatzsucher, Wanderer, Bewahrer und Krieger, die je zwei Unterklassen haben, je nachdem, wo der Schwerpunkt gelegt wird. Ein Scholar  muss sich zum Beispiel auf Stufe drei entscheiden, ob er sich auf die Heilkunst oder das Studium alter Schriften und Runen spezialisieren will.

Jeder Charakter wählt zudem einen Hintergrund aus, der ihn ins Abenteuerleben geführt hat. Sei es nun als loyaler Diener á la Samweis Gamdschie, der seinem Herrn ins Abenteuer folgt, oder als Vertriebener, der seine Heimat an den Schatten verloren hat. Dadurch kann jeder Spieler seinem Charakter noch etwas mehr Tiefe verleihen.

Alles in allem sollte die Charaktererschaffung schnell vorangehen, bietet aber aufgrund der vielen  Kombinationsmöglichkeiten viele Möglichkeiten, die jeden Spieler zufriedenstellen dürften.

Erscheinungsbild

Die Illustrationen wurden, soweit ich das überblicken kann – fast sämtlich aus den Büchern zu Der Eine Ring übernommen. Daran ist aber nicht viel auszusetzen, denn die Qualität ist natürlich weiterhin sehr hoch. Stimmige und wunderschöne Zeichnungen der beschriebenen Städte und Landschaften prägen den Band. Gerade die Darstellungen von Menschen, Elben, Zwergen und Hobbits rutschen aber manchmal in die Zweckmäßigkeit ab. Bei den Zwergen mache ich mir manchmal sogar ernsthafte Sorgen um deren Gelenke, wenn ich sehe mit welch dürren Beinchen sie ihre tonnenhaften Oberkörper durch die Gegend schleppen müssen. Aber das sind nur Kleinigkeiten.

Auch vom Layout her macht der Band einen aufgeräumten und übersichtlichen Eindruck. Der Platz wird großzügig genutzt, um die Regeln und den Hintergrund darzustellen, entsprechende Querverweise auf übersichtliche und kompakte Boxen sind immer vorhanden.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Cubicle 7 / Sophisticated Games
  • Autoren: Dominic McDowall, John Hodgson et al.
  • Erscheinungsjahr: 2016
  • Sprache: Englisch
  • Format: Hardcover / PDF
  • Seitenanzahl: 224
  • ISBN: 978-0-85744-303-8
  • Preis: 35 EUR(Hardcover) / 19,99 USD(PDF)
  • Bezugsquelle: Amazon, DriveThruRPG, Sphärenmeister

 

Fazit

Wie eingangs erwähnt wirkt Adventures in Middle-Earth trotz des altbekannten Settings fast schon frisch und unverbraucht. Das liegt sicher auch an der etwas ungewöhnlichen aber originellen Aufteilung in Reisephase und Gefährtenphase. Durch diesen Kniff schaffen die Autoren eine regeltechnische Grundlage, um zum einen den Aspekt der reisenden Gefährten als auch den erholsamen und lehrreichen Aufenthalt an behaglichen Zufluchtsorten abzubilden.

Dank dieser umfassenden Ergänzungen, wie auch den verderbenden Schattenpunkten, ist es ihnen gelungen, den bisweilen etwas platten d20-Helden etwas mehr Tiefgang zu verleihen, der sich auch in den Regeln und nicht nur durch gutes Rollenspiel ausdrückt. 

Hier sollten auf jeden Fall d20-Kenner zugreifen, die Der Eine Ring interessant finden, aber nicht einen Haufen neuer Regeln lernen wollen. Ohnehin kann ich diesen Band jedem Mittelerde-Fan empfehlen, der auch am Spieltisch endlich einmal einen stilvollen Ausflug in Tolkiens Welt der Elben und Hobbits machen möchte. Wer hingegen schon mit Der Eine Ring vollends zufrieden ist, kann diesen Band ruhigen Gewissens auslassen.

Zuviel sollte der Käufer aber nicht erwarten. Hier gibt es wirklich nur die grundlegenden Regeln und alles, was der Spieler zur Charaktererschaffung braucht. Mehr zum Hintergrund gibt es in den einzelnen Regionalbeschreibungen, mehr zu den Regeln im Loremaster’s Guide, den wir im nächsten Monat besprechen werden. Da es ansonsten nicht viel zu meckern gibt und das Player’s Guide ein durch und durch rundes Produkt ist, gibt es von meiner Seite aus die Bestnote. Wer d20 generell nicht gut findet, zieht einen bis zwei Punkte ab und schaut sich Der Eine Ring an.

Artikelbilder: Cubicle 7 Ltd
Dieses Produkt wurde kostenlos als PDF zur Verfügung gestellt.

 

1 Kommentar

  1. Das klingt, als wäre „The one Ring“ noch einmal verwurstet worden (inkl. Artwork) und nur der Regelteil der Charaktere auf D&D 5 geändert.

    Ist es denn auch möglich, magische Charaktere zu spielen? Das ist ja ein Teil von D&D.
    Und welche Zauber(sprüche) nutzen sie dann?

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