Geschätzte Lesezeit: 8 Minuten

„Nichts ist, wie es scheint“, bewirbt der Blitz-Verlag die makabre Kurzgeschichtensammlung Reiche Ernte. Autor Matthias Bauer, bekannt für das Drehbuch von Northmen – A Viking Saga, entdeckt in 16 Episoden seine Liebe zum Twist. Kann das düstere Potpourri aus Killern, Nazis, Okkultismus und Menschenfressern uns das Fürchten lehren?

Wenn die Tage kürzer werden und die Herbstfarben langsam einem nieseligen Novembergrau weichen, dann zieht es viele Leser wieder auf die dunkle Seite der Phantastik. Schaurige Romane, bitterböse Geschichten und alle Formen klassischer und moderner Horrorliteratur funktionieren jetzt besonders gut. Neben den Lesesesseln stapeln sich Poe-Anthologien, Lovecraft-Sammelbände lauern auf den Nachttischen und zerlesene Stephen King-Romane rascheln leise im Regal. Die perfekte Zeit also, um sich auf die Suche nach neuen Autoren und Autorinnen zu machen, die einen das Fürchten lehren.

Da kommt Matthias Bauers im Frühjahr erschienene Kurzgeschichtensammlung Reiche Ernte gerade recht. Der erfolgreiche Roman- und Drehbuchautor hatte die Storys bereits mit Anfang 20 geschrieben, um sie nun in überarbeiteter Fassung zu veröffentlichen. Der Klappentext verspricht sechzehn makabre Geschichten, inspiriert von Genregrößen wie Ray Bradbury und Roald Dahl. Neben angenehmem Grusel mache ich mich also vorsorglich auf handfeste Verstörung gefasst (es gibt da diese eine Bradbury-Kurzgeschichte, von der ich noch heute manchmal schlecht träume). Das sind natürlich große Fußspuren, in die das Büchlein aus dem Blitz-Verlag treten möchte. Ob ihm das wohl gelingt?

Story

Ein junger Mann wird von einem jüdischen Professor um einen Gefallen gebeten. Ein Reporter macht in einem abgelegenen Dorf eine unglaubliche Entdeckung. Ein alter Mann wird von seinem Pfleger misshandelt, bis er sich rächt. Einen inhaltlichen Ausblick auf Matthias Bauers Kurzgeschichten zu geben, ist gar nicht so einfach, denn viele nehmen nur wenige Seiten ein, über die ein Satz schon zu viel verrät. Makaber sind sie durchaus, es geht um Tod, menschliche Abgründe und gelegentlich auch um Okkultismus. Obwohl diese Themen durchaus kreativ von den unterschiedlichsten Seiten beleuchtet werden, will beim Lesen aber selten wirklich Spannung aufkommen. Was ist da los?

Das Motto von Reiche Ernte lautet „Nichts ist, wie es scheint“. Und genau das lösen die Geschichten auch ein, in einer ständigen Wiederholung, die irgendwann beinahe zur Qual wird. In ihnen manifestiert sich eine unglaubliche Freude am Twist, am überraschenden Umschlag einer Handlung, am Spiel mit Erwartungen. Leider vergessen sie darüber viel zu oft, Geschichten zu sein. Viele sind bloße Gerippe, Baugerüste einer Story, die darauf warten, mit all den welthaltigen Elementen beschichtet zu werden, die eine Geschichte ausmachen. In einer Anthologie, die mehrere Autoren versammelt, wären die meisten Texte nett zu lesen, aber dadurch, dass es zu oft der gleiche Twist und beinahe jedes Mal dieselbe Erzählstruktur ist, lässt die Spannung in dem Augenblick nach, in dem man das Muster durchschaut. Gerade die kürzeren Episoden haben ohne den Aha-Effekt eines auflösenden Twists aber nicht viel zu bieten.

So ist Apokalypse, die erste und längste Geschichte des Sammelbands, zugleich auch die stärkste. Bauer hat ein erstaunliches Talent für Schauplätze, deren Atmosphäre sich in die Erinnerung einbrennt, und dies ist eine der wenigen Stellen, an denen er es auch nutzt. Detailverliebt schildert der Icherzähler die erste Begegnung mit Professor Eisler und der Autor scheut nicht davor zurück, ausführlich aus Gustav Meyrinks Der Golem zu zitieren, eine Hommage, die in der weiteren Geschichte leider zu kurz kommt. Auch Das Modell und der psychedelische Drogentrip Im Hotel lassen die eigentliche Begabung des Autors durchblitzen und sind erfreuliche Abweichungen von der mit jeder Wiederholung plumper wirkenden Twist-Struktur, von der sie sich dennoch nicht ganz zu lösen vermögen. Geschichten wie Die richtige Atmosphäre und Schatten erinnern in ihren besseren Momenten an das Spiel zwischen idyllischer Kleinstadtfassade und den Abgründen, die sich dahinter auftun, wie es etwa King perfektioniert hat. Allerdings fehlt auch hier der Raum für eine wirkliche, lebendige Darstellung. Menschliche Abgründe mögen als einfaches Schockelement taugen, aber wirklich erschüttern können sie nur dort, wo man auch bereit ist, ihre Tiefe auszuloten und dabei gerade ihre Menschlichkeit vorzuführen.

Die Formelhaftigkeit der Geschichten äußert sich auch in den Protagonisten: Junge bis mittelalte Männer ohne nennenswerte Eigenschaften, meist Ich-Erzähler und oft mit einem dunklen Geheimnis, sind ein literarisches Default-Setting, das hier nur selten abgewandelt wird. Zur allgemeinen Freude am Twist gesellt sich hier eine Begeisterung für unzuverlässige Erzähler. Wie schon bei der Faszination für menschliche Abgründe findet auch hier die literarische Auseinandersetzung nur an der Oberfläche statt. Weder die dunklen Seiten der menschlichen Psyche noch die spielerischen Möglichkeiten unzuverlässigen Erzählens werden erforscht.

Die Schwierigkeiten mit Reiche Ernte kulminieren in der zweiseitigen Kurzgeschichte Sommer, die beinahe wie eine Karikatur des restlichen Buchs wirkt. Diese Geschichte allein würde mich immer und zu jedem Zeitpunkt davon abhalten, das Buch weiterzuempfehlen. Die Handlung ist simpel: Ein namenloser Ich-Erzähler liegt im Gras und denkt an den Sommer, träumt bildgewaltig vom Freiheitsgefühl der Sommerferien. Dann erwacht er aus diesem Tagtraum. Stöhnend und mit verkrampftem Lächeln setzt ihn seine Mutter zurück in den Rollstuhl. Ende.

Zum Teil ist es der Kontext, der mich dieser Geschichte völlig fassungslos gegenüberstehen lässt. Makabre Geschichten: Stell Dir vor, Du bist ein Killer. Stell Dir vor, Du wirst zu dunkler Magie gezwungen. Stell Dir vor, Du sitzt im Rollstuhl und fällst Deiner Familie zur Last. Eine dieser Prämissen ist nicht wie die anderen. Diese Sammlung ist die unglücklichste Platzierung, die man sich für eine solche Geschichte denken kann. Doch auch abgesehen davon finde ich die Art, auf die hier mit dem Thema Behinderung umgegangen wird, kurzsichtig und unbedacht. Aus Effekthascherei – denn um mehr geht es dabei nicht – wird die gesellschaftliche Vorstellung bedient, mit einer körperlichen Behinderung sei ein glückliches Leben nicht mehr möglich. Ich verstehe, wie man als junger Mensch dazu kommt, diese Geschichte zu schreiben, wie man sie aber als gereifter Erwachsener veröffentlichen kann, ist mir ein Rätsel. Das Buch stände ohne sie besser da.

Schreibstil

Sprachlich sind die Kurzgeschichten mitunter bemerkenswert gut. Wie bereits angemerkt hat Bauer ein Talent für Stimmungen, besonders, wenn diese an einen bestimmten Ort gebunden sind. Seine Sprache ist unkompliziert aber effektiv und wie geschaffen für Unterhaltungsliteratur. Gelegentlich kommt es zu intertextuellen Einschüben, es wird aus Büchern oder Songs zitiert. Das Potential dieses Stilmittels wird aber nie ganz ausgeschöpft.

Leider wechselt die Erzählperspektive nur selten. Der allgegenwärtige Ich-Erzähler sorgt dafür, dass es schon kurz nach dem Lesen schwierig wird, die einzelnen Episoden aus dem Gedächtnis zu unterscheiden. Zu ähnlich sind sich die Erzähler, zu gleich ist die Struktur. Man erinnert sich an die Geschichten letztlich vor allem anhand der Schauplätze oder einer prägnanten Szene, aber nie anhand der generischen Figuren. Nur wenige Texte wie Falle und Das Schild bieten erzähltechnische Abwechslung.

Der Autor

Matthias Bauer wurde 1973 im österreichischen Lienz geboren. Er studierte Geschichte/Volkskunde in Innsbruck und wurde nach Tätigkeiten im Verlags- und Ausstellungsbereich freischaffender Autor. Mit seinem langjährigen Arbeitskollegen Bastian Zach schrieb er die historische Romantrilogie Morbus Die. Die neue Reihe des Autorenduos, Das Blut der Pikten, erscheint seit 2016 im Heyne-Verlag. Zack und Bauer machten sich darüber hinaus einen (oder vielmehr zwei) Namen als Drehbuchautoren. Aus ihrer Feder stammt unter anderem das Drehbuch zum actionlastigen Spielfilm Northmen – A Viking Saga.

Erscheinungsbild

Das schwarzgraue Cover mit dem schattenhaften Rabenvogel, der glühäugig vor schemenhaften Ruinen sitzt, ist ausgesprochen stimmungsvoll. Generell scheint die Phantastische Storys-Reihe vom Blitz-Verlag eine ansprechende Taschenbuchreihe für begeisterte Kurzgeschichtenleser zu sein. Selbst nachdem mein Leseeindruck eher negativ war, ruft das hübsche Büchlein in mir spontan einen Sammlerimpuls hervor. Layout, Satz und Druck sind für einen kleineren Verlag erfreulich gut. Das Papier ist höherwertig, riecht allerdings etwas komisch (aber das kann Zufall sein). Alles in allem ein schön aufbereitetes Buch in einer interessanten Reihe.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Blitz
  • Autor: Matthias Bauer
  • Erscheinungsdatum: 23. April 2018
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Taschenbuch
  • Seitenanzahl: 177
  • Preis: 12,95 EUR
  • Bezugsquelle:Verlag, Amazon (E-book)

 

Bonus/Downloadcontent

In einem Nachwort beschreibt Matthias Bauer, wie er zum Schreiben kam und die Erstfassung der vorliegenden Kurzgeschichten bereits in jungen Jahren entstand.

Fazit

Reiche Ernte hat durchaus Schwierigkeiten, in die Fußstapfen seiner großen Vorbilder zu treten und verfehlt sie mitunter ganz. Das Buch erweckt den Eindruck des Frühwerks eines durchaus talentierten Autors, der seine Stimme noch nicht wirklich gefunden hat und sich gleichzeitig nicht traut, größere Experimente mit Sprache und Erzählperspektive zu wagen. Die Kurzgeschichten variieren sehr stark in der Länge, wobei die umfänglicheren Geschichten meist die deutlich stärkeren sind.

Das Konzept, das sie eint, ist das ständige Spiel mit Leseerwartungen, das leider immer derselben Regel folgt und schnell abgenutzt und wenig originell wirkt. Gerade die kurzen Texte haben außer ihrem vorhersehbaren Twist oft nichts zu bieten und bräuchten dringend etwas mehr Welt. Wer leichten Unterhaltungshorror für zwischendurch möchte und sich thematisch angesprochen fühlt, kann dennoch auf seine Kosten kommen. Die meisten Geschichten bleiben jedoch nicht im Gedächtnis und verpuffen wie ein harmloser Halloweenspuk bei Sonnenaufgang.

Dass ich das Buch persönlich überhaupt nicht weiterempfehlen möchte, liegt an der schon genannten Geschichte, die in so zynischer und unbedachter Weise mit dem Thema Behinderung umgeht, wie ich es bisher nicht erlebt habe. Mir geht es dabei nicht um abstrakte „Political Correctness“. Es geht mir um die Lebensrealität von Lesern mit Behinderung und allen Lesern, die in ihrem Alltag privat oder beruflich mit diesem Thema zu tun haben. Behinderung wird ihnen hier in stereotyper Form als Schockeffekt vorgeführt. Sollte Reiche Ernte eine zweite Auflage erleben, können diese zwei Seiten gerne fehlen.

mit Tendenz nach oben

Artikelbild: Blitz-Verlag, Bearbeitet von Verena Bach
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein