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Subtiler Horror dürfte zu den schwierigsten Genres für Autoren von Büchern, Filmen oder Graphic Novels gehören. Die Balance zwischen Spannungsaufbau, Bedrohung, Glaubwürdigkeit und emotionaler Investition in die Charaktere muss perfekt getroffen werden. Jeff Lemire wagt sich mit Gideon Falls an diese Herausforderung und meistert sie mit Bravour.

Seit der Veröffentlichung der Black Hammer-Graphic-Novels gehört Jeff Lemire zu meinen Lieblingsautoren. Wenngleich einige seiner Werke zwiespältige Reaktionen unter Lesern hervorrufen: Der Pilotband von Gideon Falls mit dem Untertitel Die Schwarze Scheune findet sehr positiven Anklang. Ein Grund dafür ist unter anderem die Wiedervereinigung eines bereits etablierten Teams. Denn Lemire und Zeichner Andrea Sorrentino arbeiteten bereits an der Serie zu Old Man Logan zusammen, die als Fortführung von Mark Millars hochgelobter Graphic Novel diente.

Mit Gideon Falls Bd. 1: Die Schwarze Scheune begeben sich die beiden nun fernab vom Terrain der Superhelden und betreten das Horror-Genre. Wir stellen uns dabei die Frage: Sind die positiven Bewertungen gerechtfertigt?

Handlung & Charaktere

Die Antwort darauf versuche ich, bildlich zu beschreiben. Als ich bei meiner morgendlichen U-Bahn-Fahrt die ersten drei Kapitel beendet hatte, fiel mir etwas auf: Ich hatte Gänsehaut an meinen Armen. Da zu diesem Zeitpunkt etwa 30 Grad Temperatur herrschten, dürfte es nicht das Wetter gewesen sein. Tatsächlich konnte mich die Handlung dieser Graphic Novel so packen, dass ich nicht genug bekommen konnte.

Im Zentrum der Geschichte stehen der Einzelgänger Norton und der Priester Wilfred, Spitzname Fred. Der Erstgenannte hat eine Obsession mit Müll, doch einen guten Grund dafür. Seit seiner Kindheit verfolgen ihn Träume (oder Visionen?) von einer schwarzen Scheune und Norton ist überzeugt, dass dieses seltsame Gebäude für Böses steht. Die Spuren ihres Erscheinens sammelt er mühevoll im Müll auf. Selbstverständlich glaubt ihm niemand diese Geschichte und Nortons Therapeutin ist dabei keine Ausnahme. Doch in der entlegenen Gemeinde Gideon Falls, weit weg von Nortons Großstadt, hat die Scheune ebenfalls ihre Spuren hinterlassen.

Genau in jene Gemeinde wird Fred nach dem Tod seines Vorgängers als neuer Priester geschickt. Doch schnell gerät die Situation außer Kontrolle. Seltsame Vorkommnisse häufen sich und Mordfälle erschüttern die friedliche Welt von Gideon Falls. Für einige Bewohner des verschlafenen Ortes ist die verantwortliche Macht dahinter klar: die Schwarze Scheune! Vater Fred findet sich alsbald in einer Situation wieder, die seinen Glauben und seine Vorstellungen über die Welt auf die Probe stellen wird, denn das Böse der schwarzen Scheune regt sich.

Die größte Stärke von Gideon Falls Bd. 1: Die Schwarze Scheune sind die Charaktere. Lemire gelingt es scheinbar mit Leichtigkeit, glaubwürdige Charaktere mit Stärken und Schwächen zu erschaffen. Neben den beiden Protagonisten Norton und Fred trifft dies besonders auf Sheriff Clara Miller von Gideon Falls zu. Die Figuren vermitteln von Anfang an eine individuelle Persönlichkeit, geformt durch kluge Dialoge und Reaktionen auf Ereignisse.

Eingebettet werden diese Charaktere in eine Handlung, die behutsam startet und nach dem zweiten Kapitel merklich anzieht. Über die Spanne von sechs Kapiteln wird der subtile Horror langsam gesteigert. Dieser sorgfältige Spannungsaufbau fesselt den Leser geradezu an die Seiten. Selten habe ich in den letzten Jahren so ein gelungenes Beispiel für einen Einstiegsband gesehen. In eine ähnliche Liga fallen für mich lediglich der jeweils erste Band von Black Hammer, Extremity sowie Lady Mechanika.

Zeichnungen & Kolorierung

Lemire wird bei der Erzählung seiner Geschichte durch die Zeichnungen von Andrea Sorrentino unterstützt. Der italienische Künstler versteht es, die unheimliche Atmosphäre der Handlung perfekt einzufangen. Mimik und Gestik der Figuren sind ausdrucksstark und die Zeichnungen stellen die Charaktere in den Vordergrund. Besonders im letzten Kapitel spielen zudem Design und Anordnung der Panels eine gewichtige Rolle zur Vermittlung einer übernatürlichen Atmosphäre.

Lobend sollte auch die Kolorierung von Dave Stewart erwähnt werden. Sie erschafft im Zusammenspiel mit der Arbeit von Lemire und Sorrentino eine düstere Atmosphäre und einen subtilen Horror-Flair. Der sorgfältige Einsatz von Rot als Signalfarbe hebt Schlüsselszenen und -elemente optisch hervor.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Splitter
  • Autor: Jeff Lemire
  • Zeichner: Andrea Sorrentino, Dave Stewart
  • Sprache: Deutsch
  • Seitenanzahl: 160
  • Preis: 24,00 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Fazit

Selbst bei Meckern auf hohem Niveau fallen mir keine Kritikpunkte zu dieser Graphic Novel ein. Der Einstieg von Gideon Falls Bd. 1: Die Schwarze Scheune ist zwar etwas langsamer gestaltet, erlaubt jedoch die saubere Etablierung der Protagonisten. Der daraufhin ansteigende Spannungsbogen baut schließlich eine subtile Horroratmosphäre auf, die immerzu neue Fragen aufwirft und teilweise bereits beantwortet. Doch stets hat man den Eindruck, nur ein weiteres Puzzle-Stück eines großen Mysteriums erhalten zu haben. Die Kombination aus spannender Story, glaubwürdigen Charakteren und herausragenden Zeichnungen macht diese Graphic Novel zu einem Pflichtkauf.

Am Ende habe ich nur zwei Sorgen: Kann Lemire das hohe Niveau in der Fortsetzung Erbsünden halten? Und kann ich die Wartezeit bis zum September dieses Jahres überstehen?

 

Artikelbild: © Splitter, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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