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Die Geschichte eines Mordes, der 1936 die Welt erschütterte, hat seit jeher das Interesse der Menschen geweckt und wurde oft in verschiedenen Medien dargestellt. Die Frau, die die bizarre Tat begangen hatte, hieß Abe Sada. Nun hat Carlsen Manga die Geschichte in gezeichneter Form auf den Markt gebracht.

Der Manga mit dem Original-Titel Inkaden Abe Sada wurde 1976 in Japan in zwei Bänden veröffentlicht. Der Zeichner Kamimura Kazuo (1940 – 1986) etablierte einen Zeichenstil mit einem einzigartigen Gekiga-Touch (siehe unten), wodurch er seinen Titel als „Maler der Shôwa-Ära“ verdiente. Okazaki Hideo (*1943) ist ein japanischer Redakteur, Manga-Autor und freiberuflicher Schriftsteller. Nach seinem Studium der französischen Literatur an der Waseda-Universität arbeitete er in der Redaktion einer Manga-Zeitschrift. Später arbeite mehrmals mit Kamimura. 

Handlung

Auf den ersten Seiten wird Abe Sada als ein besessenes und enthemmtes Mädchen vorgestellt, doch einige Seiten später erfahren die Leser*innen, dass das 15-jährige Mädchen vergewaltigt worden ist. Die nächsten Kapitel zeigen die Protagonistin in erotischen Posen mit verschiedenen Männern. Bereits mit 17 Jahren hat sie Affären mit verschiedenen Männern und ist in der Stadt als schlechte Gesellschaft bekannt, die die öffentliche Ordnung stört. Aus Scham und Geldnot beschließt ihr Vater, sie als Geisha arbeiten zu lassen, und verkauft sie an einen entfernten Verwandten.

In den darauffolgenden Jahren arbeitet sie als Geisha in verschiedenen Etablissements und wechselt immer wieder ihren Namen. Nachdem sie mehrere Jahre als Geisha, Edelprostituierte oder Konkubine gearbeitet hat, wird Sada 1936 an ihrem dreißigsten Geburtstag Dienstmädchen in einem Restaurant, wo sie sich bald in den Besitzer Ishida Kichizo verliebt. Um den Blicken seiner Frau zu entgehen, treffen sie sich immer wieder in Love Hotels. Getrieben von Lust und Verlangen haben die Liebenden tagelang Sex – an Nahrungsaufnahme und Körperhygiene ist nicht zu denken. Aus Leidenschaft wird bald Besitzgier und Verzweiflung, und getrieben von ihrem Verlangen nach Kichizo begeht Sada einen schockierenden Mord.

Charaktere

Die Protagonistin der Geschichte, Abe Sada, wird als ungehemmt und sexbesessen beschrieben und bereits zu Beginn in sinnlichen Zusammenkünften mit Männern dargestellt. Als Jüngste von sieben Geschwistern wurde sie oft verhätschelt, aber doch fühlt sie sich sehr einsam.

Durch ihre Arbeit als Geisha und Prostituierte kann sie ihre Besessenheit ausleben. Die Möglichkeit, „freigekauft“ zu werden, die ein Kunde ihr anbietet, schlägt sie erzürnt aus. Durch ihr konstantes Verlangen nach Männern glaubt sie, sie sei krank, und sucht einen Arzt auf, der ihr empfiehlt zu heiraten oder mehr Bücher zu lesen. Auch als sie sich hilfesuchend an eine Kirche wendet, wird sie vertrieben. Mit ihrem Gefühl steht sie allein und hilflos dar.

In einem Restaurant in Nakano verliebt sie sich in dessen Inhaber Kichizo, der sie anfangs bedrängt und vergewaltigt. Durch ihren Rückzug in ein Love Hotel, in dem sie sich ihrer Leidenschaft ohne Pause hingeben, wird Kichizo zum Mittelpunkt ihres Lebens, und sie entwickelt irrationale Ängste ihn zu verlieren. Kichizo selbst kommt zu dem Schluss, dass sie so nicht weiter machen können. Die Trennung fällt ihm auch schwer, und nach einer kurzen Abwesenheit geht er wieder zu Sada zurück, wodurch er seinen Tod besiegelt.  

Über ihre Geschwister und Eltern erfahren die Lesenden nicht sonderlich viel. Ihre Schwester Teruko lebt als Geschiedene wieder bei den Eltern. Durch eine ans Licht gekommene Affäre war sie gezwungen zu heiraten. Nach ihrer Trennung ging sie die nächste Affäre ein. Aufgrund ihrer Taten geriet sie oft mit ihrem Bruder Shintaro aneinander, der ihr Verhalten nicht guthieß. Er selbst konnte seine Frau nicht halten und hatte daraufhin eine Reihe von Geliebten, die auch nicht bei ihm bleiben wollten. So stiehlt er das Geld der Familie und verprügelt den eigenen Vater. Dieser macht die Großstadt verantwortlich für die Verdorbenheit seiner Kinder und verkauft Sada als Geisha, da sie mit ihren Eskapaden nicht aufhören kann. Sadas Mutter wird auf den ersten Seiten als eine Frau vorgestellt, die sich für ihre Tochter einsetzt und die Familie des Jungen mit der Vergewaltigung konfrontiert. Als dieses Unterfangen unfruchtbar bleibt, rät sie ihrer Tochter, das Geschehene zu verschweigen, und kauft ihr ein neues Koto.

Zeichenstil und Erscheinungsbild

Wie zuvor erwähnt, hat der Zeichenstil dieses Mangas die Besonderheit des Gekiga-Stils.

Dies ist ein Stil japanischer Comics, der sich an ein erwachsenes Publikum richtet und durch einen eher filmischen Kunststil und reifere Themen gekennzeichnet ist.

Obwohl die Grenze zwischen Manga und Gekiga heute fließend ist, waren Manga-Zeichnungen in der Vergangenheit meist einfach, mit wenigen Linien versehen und oft unschuldiger oder kindlicher als die „schmutzigen“ Gekiga-Zeichnungen für Erwachsene.

Anfangs zeichnete sich der Gekiga-Stil durch grafischen Realismus und Themen aus, die mit Gesellschaft und Politik zu tun hatten. Gekiga war in erster Linie in der Realität angesiedelt, und es ging darin oftmals um „echte“ Menschen.[1]  

Auszug Abe Sada © Carlsen Manga
Auszug Abe Sada © Carlsen Manga

Die Panels von Mangas in diesem Stil sind oft gut organisiert und sorgfältig angeordnet. Dies trifft auf die Anordnung der Panels in Abe Sada zu. Die Panels sind übersichtlich und überlappen nicht. Leser*innen werden rhythmisch von einer Aktion in die nächste geführt. Die Einfachheit der Zeichnungen fällt unmittelbar auf. Einfache und klare Linien werden benutzt, um Personen und Kleidung darzustellen. Haare und Augen werden nicht besonders detailliert dargestellt – wie so üblich bei Gekiga- und Shônen-Manga. Rasterfolie wird nur bedingt bei der Darstellung von Kleidung genutzt, hauptsächlich aber findet sie beim Hintergrund Anwendung. Erotische und lüsterne Zeichnungen sind sehr präsent, obgleich eine Zensur in Form einer weißen Fläche stattfindet. Somit kann der Manga dem Sub-Genre Ero Guro untergeordnet werden. Dieses Genre hat einen Fokus auf Erotik, sexuelle Verderbtheit und Dekadenz. Der Begriff wird verwendet, um etwas zu bezeichnen, das sowohl erotisch als auch grotesk ist.

Abe Sada und die japanischen Moga

Das moderne Mädchen (jap. modan garu, kurz: moga) ist ein Phänomen, das in den 1920er Jahren entstand. Diese modernen Mädchen waren bekannt für ihren innovativen Umgang mit traditionellen Geschlechterrollen und ihren verwegenen Umgang mit Männern. Die Moga sorgten für ausgeprägte Besorgnis oder sogar Angst. Sie stellten emanzipierte, vergnügungssüchtige Frauen dar in einer Gesellschaft geprägt von konservativen moralischen und geschlechtsspezifischen Normen. Es herrschte eine allgemeine Kritik und Verachtung für die modernen Mädchen in Japan, insbesondere in Bezug auf ihre Handlungen und ihr Verhalten sowie ihre Verbreitung in der Gesellschaft.  

Die Entstehung und Präsenz der Moga kann im Allgemeinen auf die Zeitspanne von 1910 bis 1935 eingegrenzt werden – eine turbulente Zeit in der japanischen Geschichte. Zwischen den drei kaiserlichen Epochen Meiji, Taishô und Shôwa vollzog sich in Japan ein großer Wandel: Die Industrialisierung schritt nach dem Russisch-Japanischen Krieg (1904-1905) rasch voran, die Landbevölkerung strömte in die Städte, und Tokio und Osaka verwandelten sich in moderne Metropolen. Gleichzeitig kam es zu einem Aufschwung der Massenkultur: Junge Männer und Frauen genossen die Freiheit der Stadt. Die meisten Historiker*innen sind sich einig, dass die Entstehung der Moga zu einem großen Teil auf den Anstieg des Konsumverhaltens und des Literaturkonsums zurückzuführen ist, der durch die sozial turbulente Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 und dem großen Kantô-Erdbeben 1923 gefördert wurde.[2]

Abe Sada wuchs in einer Zeit auf, in der die Sexualerziehung und Sexualität im Allgemeinen sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Privaten Gegenstand intensiver Überlegungen und Debatten waren. Die Integrität der Familienlinie stand an erster Stelle. Daher wurde die Sexualität der Frauen streng kontrolliert. Jungfräulichkeit bis zur Heirat und Keuschheit danach gewährleisteten eine reine Familienlinie, zumindest was die väterliche Abstammung betraf. Durch die Vergewaltigung in jungen Jahren verlor Sada ihre Jungfräulichkeit und lebte seitdem ihre Sexualität in vollen Zügen aus. Man könnte sagen, die Vergewaltigung und ihre Folgen verwischten Abes Sinn für soziale Grenzen, und es wurde schwierig für sie, nach den Definitionen von richtig und falsch zu leben, die von einer jungen Frau erwartet wurden. Für junge Frauen war es im Allgemeinen tabu, ihr sexuelles Verlangen offen zu äußern, doch für Sada stellte dies kein Hindernis dar. In mehreren Gelegenheiten initiierte sie die intime Handlung.[3]    

Abe Sada – Eine Femme fatale?

Der Fall Abe Sada war ein epochales Ereignis in der Entwicklung des Sexualbewusstseins in Japan und machte der japanischen Öffentlichkeit klar, dass Frauen sexuelles Verlangen hatten. Sadas starke Sexualität, die sie zu dem Wunsch führte, ihren Geliebten zu verzehren, war zu einer Zeit sensationell, als sexuelle Äußerungen in der Öffentlichkeit stark unterdrückt wurden. Die Einzelheiten der letzten Tage von Sada und Kichi sind im Protokoll der Vorverhandlung nachzulesen, auf dem die meisten Theaterstücke und Filme sowie dieser Manga über den Fall basieren. Hieraus lässt sich ein deutliches Femme-fatale-Motiv herauslesen. Die Femme fatale zeichnet sich durch ihre starke Sexualität und ihre zerstörerische Kraft aus, mit der sie über ihre männliche Beute triumphiert und deren Untergang herbeiführt.

Auszug Abe Sada © Carlsen Manga
Auszug Abe Sada © Carlsen Manga

Während Sada Kichi stranguliert, hat sie zwar einen verzerrten Gesichtsausdruck, der jedoch daher rührt, dass sie enorme Kraft aufwenden muss, um ihn zu töten. Nach dem Mord hat sie einen erleichterten Ausdruck – sogar ein kleines Lächeln ist zu sehen. Sie empfindet keine Reue und entschuldigt sich nicht. Ganz die Femme fatale, die ihre Beute verschlingt.    

Die harten Fakten:

  • Verlag: Carlsen Verlag
  • Autor: Okazaki Hideo, Togawa Masako
  • Zeichner: Kamimura Kazuo
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Taschenbuch 210mm (Höhe) x 145mm (Breite)
  • Seitenanzahl: 430
  • Preis: 20,00 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Carlsen Manga, Amazon, idealo

 

Fazit

Die Geschichte von Abe Sada verrät einiges über die Sexindustrie, die Sexualität und die Beziehungen zwischen den Geschlechtern im Japan der 20er und 30er Jahre und ist sicher für jeden True-Crime-Fan interessant. Sexuelle Freizügigkeit ist allgegenwärtig in diesem Manga und ist ein weiteres Zeichen für die Fortschrittlichkeit des Mangas. Die Art und Weise wie Themen wie zum Beispiel Sexualität, Harnausscheidung und Menstruation vermischt und dargestellt werden habe ich zuvor selten gesehen.

Besonders gut haben mir die Auszüge aus dem Protokoll der Vorverhandlung gefallen, die Nähe zum eigentlichen Fall bringen. Positiv hervorheben möchte ich auch den kurzen Textabschnitt am Ende des zweiten Bandes. Darin informiert Thorsten Hanisch, der unter anderen Literaturwissenschaftler und Filmhistoriker ist, knapp über den historischen Hintergrund und liefert einige Zusatzinformationen.

Nicht gut gefallen hat mir jedoch die zeitliche und räumliche Unterteilung in der Geschichte. Es war nicht immer klar, in welcher Zeit und an welchem Ort sich die Protagonistin befindet. Oft tauchen Charaktere auf, die mit der Protagonistin interagieren. Wer diese jedoch sind, wird erst etwas später aufgeklärt. Dies macht es zusätzlich schwierig der Handlung zu folgen.

Negativ aufgefallen ist mir auch die fehlende Unterscheidung zwischen Geisha und Prostituierter am Anfang der Geschichte. Wobei dies auch der Übersetzung geschuldet sein könnte.

  • Bizarre, interessante Geschichte
  • True-Crime-Faktor
  • Zusatzinformationen durch die Ausschnitte des Protokolls und des Textes zum Schluss
 

  • Räumlichkeit und Zeit nicht immer deutlich ersichtlich

 

Fußnoten

[1] Kinsella, Sharon (2000): Adult Manga – Culture and Power in Contemporary Japanese Society. University of Hawai’i Press.
[2] Chiaki, Ajioka (1998): Modern Boy, Modern Girl: Modernity in Japanese Art, 1910-1935. Art Gallery of New South Wales.
[3] Johnston, William (2005): Geisha, Harlot, Strangler, Star – A Woman, Sex, & Morality in Modern Japan. Columbia University Press.

 

Artikelbilder: © Carlsen Verlag
Layout und Satz: Annika Lewin
Lektorat: Rick Davids
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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