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Obgleich Kaikisen bereits 1990 in Japan erschien, ist der Inhalt immer noch aktuell. Der Kampf zwischen Tradition und Moderne spielt weltweit eine Rolle und mit der Frage nach der Bedeutung der Umwelt in einer modernisierten Welt beschäftigen wir uns heute mehr denn je. Wir schauen uns diesen Manga genauer an.

Es dürfte viele überraschen, dass Kon Satoshi, den Fans bereits aus einigen Anime-Werken wie zum Beispiel Paprika oder Perfect Blue kennen, auch Mangaka war. 1990 hat er während seiner Arbeit an dem Manga Kaikisen auch an Akira mitgewirkt. Kaikisen ist ein von Kon Satoshi geprägtes Wort, denn eigentlich wird es auf Japanisch 回帰線 geschrieben, was übersetzt Tropen bedeutet. Kon ersetzte das erste Kanji „kai“ durch das Kanji ,was mit Meer übersetzt wird, aber ebenfalls „kai“ gelesen wird.

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Handlung

Amide ist ein abgelegenes Küstenstädtchen, umgeben von üppigen Wäldern und dem Meer. Seit Generationen verehren und fürchten die Bewohner der Stadt das Meer und insbesondere das legendäre Meereswesen, das als Nixe bekannt ist. Es heißt, die Nixe beschütze die Fischer der Stadt und sorge für reiche Fänge, verlange dafür aber einen Preis: die Menschen sollen das Meer ehren und auf ihr Ei, das die Nixe den Menschen gegeben hat, aufpassen und es einmal in der Woche mit frischem Wasser versorgen. Nach 60 Jahren sollen die Menschen ihr das Ei wieder geben.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Familie Yashiro, die mit drei Generationen vertreten ist. Einst hat der Großvater der Familie das Nixen-Ei gehütet. Nun ist es die Aufgabe seines Sohnes, dem Shintô-Priester Yashiro Yozo. Auch dessen Sohn Yosuke kümmert sich vorbildlich um das Ei und wechselt regelmäßig das Wasser. Yosukes Mutter ertrank als er noch jung war, weil es in ihrem ländlichen Fischerdorf keine modernen Einrichtungen gab, die ihr Leben hätten retten können. Yosuke hingegen hat, wie durch ein Wunder, überlebt. Yozo ist daher entschlossen, das traditionelle Dorf zu modernisieren und als Touristen-Ort neu aufzubauen. Die Baufirma des Herrn Ozaki soll dabei helfen, das Fischerdorf in ein Land der Hochhäuser und Einkaufszentren zu verwandeln. Großvater Yashiro stellt sich entschieden dagegen und auch Yosuke scheint seine Verantwortung gegenüber dem Ei der Nixe ernst zu nehmen, obwohl er andererseits Amide verlassen möchte um zu studieren. Dieser Generationenkonflikt zieht sich durch die gesamte Geschichte. Yosuke ist hin und her gerissen zwischen den alten Mythen und Traditionen, an denen sein Großvater festhält, und der teilweise notwendigen Urbanisierung des Dorfes.

Als sich das Ei jedoch in Gefahr befindet und der Zorn der Nixe das Dorf zu zerstören droht, muss Yosuke eine Entscheidung treffen. Stellt er sich gegen seinen Vater und setzt sich für die Umwelt und Tradition seines Dorfes ein?

Charaktere

Yashiro
Yashiro

Der Protagonist Yashiro Yosuke ist ein ziemlich gewöhnlicher junger Mann, der – obwohl er die Mythen über die Nixe nicht voll und ganz glaubt – sich dennoch um das Ei kümmert und es behütet. Da er im Dorf aufgewachsen ist, möchte er zum Studieren in die Großstadt. Im Laufe der Geschichte wird Yosuke in ein Geheimnis verwickelt, das sich um eine übernatürliche Meeresgestalt dreht. Er ist entschlossen, die Wahrheit hinter dem Volksglauben und den Auswirkungen auf seine Gemeinde aufzudecken. Yosuke wird als ein nachdenklicher und neugieriger Charakter dargestellt, der dem Meer und den Traditionen seiner Heimatstadt tief verbunden ist.

Natsumi ist eine Freundin von Yosuke die von Tôkyô nach Amide zurückkehrt. Obwohl sie das Dorf verlassen hat, ist sie eng mit ihrer Herkunft verbunden und hat eine klare Einstellung zu den Modernisierungsmaßnahmen. Gemeinsam mit Yosuke möchte sie herausfinden, was es mit dem Mythos um die Nixe auf sich hat und letztendlich das Dorf vor ihrem Zorn bewahren.

Ozaki Kenji spielt ebenfalls eine zentrale Rolle im Manga. Er wird als Geschäftsmann dargestellt, der maßgeblich ein Interesse daran hat, die Ressourcen des Dorfes auszubeuten, um möglichst viel Profit zu machen. Ozakis Charakter steht für die Macht des Fortschritts, der Kommerzialisierung und der Ausbeutung, die die natürliche Umwelt und das kulturelle Erbe des Dorfes bedrohen. Kon Satoshi nutzt Ozakis Figur, um die Themen Umweltschutz und das Aufeinandertreffen von wirtschaftlichen Interessen und kultureller Bewahrung zu visualisieren.

Zeichenstil und Erscheinungsbild

Kon Satoshis Kunst ist eine interessante Mischung aus seinem späteren Animationsstil und dem Charme von Ôtomo Katsuhiros Akira. Besonders die zeichnerischen Eigenschaften des Protagonisten Yosuke erinnern stark an Kaneda Shôtarô. Die Panel-Gestaltung ist sauber und linear. Er verwendet eine Vielzahl von Panelgrößen und -anordnungen, um das Tempo der Geschichte zu steuern und Schlüsselmomente zu betonen. In intensiven oder spannungsgeladenen Szenen können die Panels unregelmäßig und fragmentiert sein, um ein Gefühl von Dringlichkeit und Spannung zu erzeugen. In ruhigeren Momenten hingegen können die Panels symmetrischer und somit ruhiger sein. Der Schauplatz des Manga spielt eine wichtige Rolle in der Geschichte und Kon Satoshi widmet den Details der Umgebung große Aufmerksamkeit. Die Landschaften, Meereslandschaften und das Dorf selbst sind wunderschön und detailliert gestaltet. Vor dem Hintergrund der Dreifachkatastrophe in Tôhoku am 11. März 2011 lassen einige Panels die Leser*innen erschaudern. Bilder von riesigen Wellen, die eine Stadt verschlingen, welche ebenso gut auch aus Nachrichtenberichten dieses Tages hätten stammen können, zeigen den zeitlosen Charakter des Manga, der mehr als 20 Jahre vor der Katastrophe entstand.

Die Modernisierung Japans – Eine kurze Exkursion

Die im Manga angesprochene Thematik ist zwar aktuell, aber keineswegs neu. Bereits zur Zeit der Meiji Restauration beschäftigten sich Intellektuelle mit der Frage, inwiefern die Modernisierung auch die Kultur und Tradition beeinflusst. 1868 erklärte die neue Meiji-Regierung ihre Absicht, sich von den veralteten Traditionen zu verabschieden und sich in großem Umfang Anregungen aus dem Westen einzuholen. Dies war natürlich nicht der Beginn des Modernisierungsprozesses. Schon seit einigen Jahrzehnten wurden hinter der Fassade der Shôgun-Daimyô-Struktur zunehmend Wissen und Technologien aus dem Westen genutzt. Die traditionelle Kultur war Veränderungen unterworfen, die mit dem raschen Tempo der Modernisierung nach der Meiji-Restauration zusammenhingen. Natürlich findet in diesem Zusammenhang eine Verallgemeinerung statt, denn um die Auswirkungen der Modernisierung konkret benennen zu können, müsste man jeden Aspekt der Kultur und Tradition untersuchen. Literatur, bildende und darstellende Kunst beispielsweise umfassen jeweils mehrere Genres oder Medien und innerhalb fast jedes Genres gibt es mehrere Stile oder Schulen. Die Zahl der religiösen Sekten und die philosophischen Strömungen in Japan gehen in die Hunderte. All das lässt sich mithin nicht in einem kurzen Beitrag kategorisieren.

In einem Land, das ein Programm zur Modernisierung seiner staatlichen Einrichtungen, seines Bildungssystems, seiner Industrie und seines Verkehrswesens in Angriff nimmt, ist es natürlich unvermeidlich, dass sich das soziale und wirtschaftliche Leben der Menschen verändert. Innerhalb weniger Jahre nach der Restauration wurde das Konzept des Fortschritts und der Notwendigkeit der Modernisierung fast allgemein und mit Begeisterung akzeptiert. Die Meinungsverschiedenheiten beschränkten sich vor allem auf die Frage, was Modernisierung im Einzelnen bedeutete, d. h. welche Dinge reformiert werden mussten und nach welchem Modell sie verändert werden sollten. Die Modernisierung schritt in den eher technischen Bereichen wie Verkehr und Industrie rasch voran. Die praktische Zweckmäßigkeit der Eisenbahn und des Telefons und der vermutete Bedarf an einer modernen Armee und Marine setzten die ersten Prioritäten auf diese und andere unbestreitbar funktionelle Dinge. Auch der Neuordnung der politischen Institutionen und des Bildungswesens räumte die Regierung hohe Priorität ein und diese wurden zielgerichtet vorangetrieben.

Innovationen im kulturellen Bereich kamen ganz anders zustande. Die Künste hatten für die Regierung eine weitaus geringere Priorität. Künstler*innen oder Schriftsteller*innen waren zwar relativ frei von Vorschlägen der Regierung, sollten sich jedoch in den Dienst der Nation stellen, aber wurden nicht von der Regierung gefördert oder ermutigt. Ihr Lebensunterhalt hing von einer Öffentlichkeit ab, die ihre Bemühungen akzeptierte und unterstützte. Das Entstehen eines solchen Publikums war ein allmählicher Prozess, das Produkt moderner Bildung und industrieller und kommerzieller Entwicklung [Shively, Donald H. (Hrsg.) (1976): Tradition and Modernization in Japanese Culture. Princeton University Press].

Man kann also erkennen, dass durch eine technische und bildungsorientierte Modernisierung auch Tradition und Kultur verändert werden. Die Fragen, in welchem Umfang und ob die Veränderungen positiv oder negativ sind, werden hier bewusst offengelassen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Carlsen Manga
  • Autor & Zeichner: Kon Satoshi
  • Erscheinungsjahr: 2023
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Softcover 210mm (Höhe) x 146mm (Breite)
  • Seitenanzahl: 226
  • Preis: 16 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

Fazit

Mit Kaikisen wird den Leser*innen keine neue Thematik oder Handlung vorgestellt. Das Gleichgewicht zwischen Urbanisierung und Naturschutz ist ein Balanceakt und eine ständige Herausforderung nicht nur in Japan. Auf der einen Seite besteht ein Bedarf an Wirtschaftswachstum und Infrastrukturentwicklung. Auf der anderen Seite besteht der Wunsch, die natürliche Schönheit, die Ökosysteme und das kulturelle Erbe des Landes zu schützen. Dieser zeitlose Charakter des Mangas spricht für sich und genügt bereits für eine Leseempfehlung. Das beliebte nautische Thema und der Mythos um Meerjungfrauen sorgen für eine Prise Phantastik. Fans von Kons Anime-Filmen sei geraten, Kaikisen nicht mit seinen späteren Werken zu vergleichen. Im Nachwort bezeichnet sich Kon Satoshi als unwissend und unerfahren als er Kaikisen zeichnete, denn dieser Manga war seine erste Erfahrung mit Fortsetzungsveröffentlichungen. Er erzählt von den schwierigen Gegebenheiten, dem enormen Zeitdruck und von der Knappheit finanzieller Ressourcen beim Erstellen des Manga. Für die Neuveröffentlichung machte er kleine Korrekturen und Änderungen und fügte einige Seiten hinzu. Da Kon Satoshi häufig „nur“ als Anime-Regisseur vorgestellt wird, ist es umso spannender eine Geschichte aus dem Anfang seiner künstlerischen Karriere zu lesen.

  • Zeitlose Thematik

  • Bekannter Anime-Regisseur als Mangaka

  • Informationen zur Entstehungsgeschichte in Nachwort

 

  • Zu lineare Handlung

Artikelbilder: © Carlsen Manga
Layout und Satz: Mika Eisenstern
Lektorat: Katrin Holst
Fotografien: Anahita Estiri

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