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Sweet Tooth ist eine bittersüße Graphic Novel, die auch nach zehn Jahren nichts von ihrer Faszination verloren hat. Eine Postapokalypse, bei der die Welt nach einer Seuche zu einem Ort der Angst und des Hasses verkommen ist; in der aber ein kleiner Junge seinen ganz eigenen Weg findet.

Nach dem Start der Netflix-Serie im Sommer 2021 ist diese kleine Comic-Perle auch über Genrefans hinaus bekannt. Sweet Tooth spielt in einer Postapokalypse bei der es einmal keine Zombiehorden, Monster oder Dampfschleudern gibt. Eine Geschichte, bei der das Düstere und Bedrohliche durch Kinderaugen betrachtet wird. Dabei ist es keine Kindergeschichte. Hier passieren Ereignisse, die nur schwer verdaulich sind und trotzdem ist stets ein Hoffnungsschimmer zu erkennen. Eine Graphic Novel, die zutiefst menschlich ist, indem sie die Abgründe der Menschheit zeigt und gleichzeitig Platz für das Schöne und das Naive lässt. Wir nehmen euch mit auf eine spoilerfreie Reise in die Welt von Sweet Tooth, um unsere Faszination für diese bittersüße Geschichte zu teilen.

Um was geht es bei Sweet Tooth?

Gus ist ein außergewöhnlicher Junge von neun Jahren. Er wächst zusammen mit seinem Vater im Wald auf. Und er ist ein Tier-Mensch-Hybride: Ihm wächst ein Geweih aus dem Kopf. Seine Mutter kennt er nur aus Erzählungen, ebenso wie andere Menschen. Doch als eines Tages sein Vater stirbt, ist er auf sich allein gestellt und trifft plötzlich auf böse Männer, die Jagd auf Hybride machen. Diese werden als Ursache für die Seuche angesehen, die vor ein paar Jahren über die Menschheit kam. Viele Menschen starben und alle Kinder, die neu geboren wurden, waren Hybride.

Jepperd trifft Gus © Panini

Gus sieht sich Gefahren gegenübergestellt, denen er nichts entgegensetzen kann. Doch dann erscheint ein älterer, großer Mann, der ihn befreit: Jepperd, ein ehemaliger Eishockeyspieler, der seine Familie verloren hat. Diese Figur basiert, sowohl optisch als auch charakterlich, auf Marvels Antihelden Punisher. So weiß man von ihm nie wirklich, ob er Gutes oder Böses im Sinn hat. Nur widerwillig erklärt er sich bereit, Gus in das Reservat zu bringen. Ein Ort, der eine Zuflucht für Hybride sein soll. Doch längst ist nicht alles so, wie es zu sein scheint.

Äußerst geschickt erfahren wir immer mehr von Gus’ Welt, von der Katastrophe, durch welche die Zivilisation endete, und wie Gus selbst eine Schlüsselfigur in dieser Geschichte ist. Das Kernstück der Handlung ist aber die Interaktion zwischen dem kindlich naiven Gus und dem zynischen, wortkargen Jepperd.

Die wunderbaren Welten von Jeff Lemire

Sweet Tooth war die erste Comicserie, die der Kanadier Jeff Lemire (Aussprache: Le-Mir) nach seinem Durchbruch Essex County schrieb. Danach folgten größere Aufträge für DC und Marvel, wie Animal Man, Moon Knight oder X-Men. In den letzten Jahren erschuf er mit Descender oder Black Hammer zauberhafte eigene Welten, die uns begeistern. Doch die Quintessenz von Sweet Tooth lässt sich in all seinen Geschichten wieder erkennen: Vor wenigen Jahren gab es eine große Katastrophe. Die Charaktere müssen sich einen Platz in dieser neuen Welt suchen, bis eine neue Hoffnung aufflammt, die sich oft hinter einem kindlichen Gemüt verbirgt. Lemire schafft es, dieses Grundszenario immer wieder aufs Neue zu erzählen, ohne sich selbst zu wiederholen oder Leser*innen zu ermüden. Noch heute freue ich mich, wenn ein neuer Lemire-Comic erscheint, auch wenn wieder eine Katastrophe – aber eben auch eine Hoffnung – im Zentrum der Handlung steht.

Immer wieder wird es auch brutal © Panini
Immer wieder wird es auch brutal © Panini

Was fasziniert an Sweet Tooth?

Sweet Tooth erzählt in nur 40 Kapiteln eine in sich geschlossene Geschichte mit tollem Weltenbau, vielen Wendungen und wunderbaren Charakteren. Auch wenn das Szenario oft trostlos aussieht, bleibt die Hoffnung auf ein gutes Ende stets erhalten. In seiner dunkelsten Stunde findet Gus neue Freunde und schafft es, mir ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Zum Start der Netflix-Serie ist mit Sweet Tooth: Die Rückkehr noch ein Nachfolgeband erschienen, der unabhängig von der eigentlichen Reihe zu sehen ist, aber trotz leichter Schwächen nichts von der Faszination für das Szenario verloren hat.

Die postapokalyptische Welt

Die Welt, in der sich Gus wiederfindet, ist brutal und grausam. Die meisten Menschen haben die Hoffnung verloren und sich ihrem Hass oder ihrer Lustbefriedigung hingegeben. Die Straßen sehen heruntergekommen aus. Die Landschaften grau und trostlos. Die Handlung spielt in Nebraska, man erkennt aber auch die Landschaft von Lemires Heimat Ontario wieder. Im Vergleich zu anderen Postapokalypsen wie The Walking Dead ist die Welt aber kein grundsätzlich lebensfeindlicher Ort. Die Menschen haben sich arrangiert, auch wenn die Zivilisation, wie wir sie kennen, längst verloren ist. Es ist kein Ort zum Zurücklehnen und Schwelgen. Gerade Gus muss hier um sein Leben fürchten, aber inmitten der sterilen Forschungseinrichtungen, sind gerade die kleinen Momente, wie geteilte Schokoriegel, Quell großer Freude.

Die Charaktere

Gus, Wendy und Bobby © Panini

Gus ist die zentrale Figur, die oft vor Schock zurückschreckt und nicht begreifen kann, was in dieser Welt vor sich geht. Gleichzeitig ist er aber auch neugierig und ein Leckermaul, wodurch es leicht fällt, ihn ins Herz zu schließen und mit ihm die Welt zu erkunden.

Jepperd ist ein Antiheld mit einem weichen Kern. Er schreckt auch vor Gewalt nicht zurück und würde am liebsten allein durch die Gegend ziehen. Er hat alles verloren, auch seine Hoffnung. Aber eben darum ist sein Zusammenspiel mit Gus so faszinierend und interessant.

Mit Wendy, einem Schweine-Mensch-Hybriden, und Bobby, einem Murmeltier-Mensch-Hybriden, findet Gus später auch gute Freunde, die ihm dabei helfen, seinen Platz in der Welt zu finden.

Eine weitere faszinierende Figur ist Doktor Singh, eine Art verrückter Wissenschaftler, der Experimente an den Tier-Mensch-Hybriden durchführt und für die Antagonisten der Geschichte arbeitet. In ihm formt sich Zweifel, ob sein Handeln richtig ist. Moral und Pflichtbewusstsein halten sich stets im Gleichgewicht. So ist auch er ein spannender Charakter irgendwo zwischen Antagonist und Antiheld.

Zeichnungen und Kolorierung

Die visuelle Gestaltung von Sweet Tooth liegt zum größten Teil in den Händen von Jeff Lemire selbst. Er ist kein sonderlich guter Zeichner, doch seine Bilder strotzen vor Wildheit und Atmosphäre. Die Kolorierung ist sehr matt gehalten, wodurch die Welt sehr trostlos wirkt. Gerade das schafft aber einen wunderbaren Kontrast zu den Augenblicken der Hoffnung von denen ich schon häufiger hier gesprochen habe. Die Zeichnungen sind oft kreativ arrangiert. So gibt es ein Kapitel, das komplett im Querformat gestaltet wurde und eher wie eine Gute-Nacht-Geschichte für Kinder wirkt als ein Teil dieser Graphic Novel. In späteren Kapiteln hat sich Lemire mit Matt Kindt, Nate Powell & Emi Lenox Unterstützung geholt, die graphisch für einige Abwechslung sorgen.

Gus ist stets voller Hoffnung © Panini

Schlusswort

Gus findet Freunde an sonderbaren Orten © Panini
Gus findet Freunde an sonderbaren Orten © Panini

Ich hoffe, ich konnte euch ein wenig von meiner Faszination für diese Graphic Novel mit auf den Weg geben. Wer die Netflix-Serie geschaut hat, wird vermutlich auch feststellen, dass diese sehr viel bunter und märchenhafter gestaltet wurde, als das in Comicform passiert ist. Doch sowohl Original als auch Adaption haben ihre Vorzüge. Die Graphic Novel erzeugt eine Art Düsternis, die aber dennoch menschlich und zuckersüß ist. Der Grafikstil ist nicht für jeden, doch schafft er seine ganz eigene Schönheit, welche Leser*innen tief in die Welt nach dem Ende unserer Zivilisation hineinsaugt und uns die Frage aufwirft, was es eigentlich ausmacht, ein Mensch zu sein.

Leseempfehlungen

Sweet Tooth Deluxe Edition

Mit diesen drei Bänden hast du die komplette Saga im Regal stehen. Ursprünglich in sechs Paperbacks veröffentlicht, hat Panini die Reihe in einer schicken Deluxe-Edition erneut herausgebracht. Erlebe Gus’ Odyssee durch eine verlorene Welt, wie er in Jepperd und einigen anderen treue Begleitungen findet und dabei auch Geheimnisse seiner eigenen Vergangenheit und des Untergangs der Zivilisation enthüllt.

 

Sweet Tooth – Die Rückkehr

300 Jahre nach den Ereignissen aus dem ersten Teil, scheint sich die Geschichte zu wiederholen: Ein Junge namens Gus wächst bei „Vater“ auf. Er ist ein Hybride und vermutlich der Letzte seiner Art. Doch er möchte wissen, was hinter den Absperrungen liegt und macht sich auf eine Odyssee, welche das Geheimnis seiner Existenz enthüllt. Dieser Nachfolgeband kann als Einzelexemplar genossen werden. Er gehört zwar nicht zur eigentlichen Reihe, nimmt darauf aber immer wieder Bezug – außerdem spoilert er das Ende. Wer aber bereits alles zu Sweet Tooth gelesen hat, bekommt hier eine nostalgische Erinnerung präsentiert, die dennoch ihre eigene Geschichte erzählt und mit einigen überraschenden Wendungen aufwarten kann.

 

Artikelbilder: © Panini Comics
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Denise Hollas

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