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Man muss nicht immer die ganze Welt retten. Manchmal reicht es, Bauer Alriks Kuh zurück zu bringen. Warum nicht einmal zur Abwechslung „einfache“ Charaktere wie Wirt*innen, Bauersleute oder Handwerker*innen mit einer bescheidenen Hintergrundgeschichte spielen? Dieser Artikel zeigt dir Möglichkeiten, viel an spannendem Plot aus einem einfachen Hintergrund herauszuholen.

Bescheidene Anfänge

Zunächst müssen wir definieren, was einen „bescheidenen“ Hintergrund eigentlich ausmacht. Reicht es in einem Fantasysetting, nicht adlig, nicht reich oder nicht in die religiöse oder  anderweitig bestimmte Mehrheitsbevölkerung geboren zu sein? Diese Frage gilt natürlich auch für Zukunftssettings – auch, wenn in der sechsten Welt von Shadowrun der Vorteil „adlig“ nicht wählbar ist, das Prinzip der*des Konzernprinz*essin bleibt in jeder Welt und jedem Setting gleich.

Jede*r Adlige oder Magier*in kann erwarten, die Welt gestalten zu können. Für Charaktere ohne magische oder große finanzielle Möglichkeiten ist der Aufstieg und überhaupt der Lebenswandel in der jeweiligen Welt ungleich schwerer. Umso belohnender ist es, wenn eine einfache Stallmagd zur Ritterin geschlagen und der magisch latent begabte, aber noch unausgebildete Student endlich seinen Magierhut erhält.

In diesem Artikel möchte ich eine Anregung bieten, einmal einen „einfachen“ Charakter zu spielen, welcher sich nicht nur erst einmal einen Namen in der Welt machen muss, sondern vielleicht sogar  im eigenen Heimatdorf nicht jedem bekannt ist. Ein Niemand, der*die ein Jemand werden möchte. Kollegin Ayleen hat sich zu einem ähnlichen Thema bereits Gedanken gemacht, die ich in diesem Beitrag ein wenig ergänzen möchte. Ungeliebte beziehungsweise auf den ersten Blick vielleicht nicht wirklich nach Spielspaß aussehende Charakterklassen verdienen einen zweiten Blick von uns Spieler*innen.

Warum „einfache“ Charakterkonzepte?

Man sieht schon, dass sich die Bescheidenheit zu einem gewissen Grad aus einem Mangel an Optionen – nicht reich, nicht adlig, nicht magiebegabt etc. – definiert. Wenn man nun bestimmt hat, was der Charakter nicht ist, kommt es zum viel schwierigeren Teil: zu bestimmen, was den Charakter ausmachen soll. Als „Normalo“ ist man nicht eine*r unter Hunderten, wie zum Beispiel Magier*in oder Kleriker*in, sondern eine*r unter Millionen. Es ist viel schwieriger zu erklären, warum der*die Schuster*in des Dorfes ein Leben als Held*in beginnt und in die Ferne auszieht, als einen Grund zu finden, warum dies ein*e stereotype*r Magier*in tut.

Genau hier liegt die Würze des Spiels mit einem mundanen, „geerdeten“ Charakter: Er lässt sich in alle Richtungen entwickeln. Der*die grimmige Krieger*in und der*die mysteriöse Magier*in werden allein schon durch die jeweilige Klasse in gewisse Schubladen gesteckt. Ein Handwerkslehrling oder ein*e Bauer*in, der*die auf Reisen geht, kann und muss durch den*die Spieler*in sehr viel mehr Eigenleben eingehaucht bekommen, um einen eigenen Charakter zu entwickeln. Solche „einfachen“ Charaktere sind daher eher nicht für absolute Rollenspielneulinge geeignet, denen eine Schablone fehlen könnte, an der sie sich orientieren können. Im Gegenteil, sie sind eher eine rollenspielerische Herausforderung für erfahrenere Spieler*innen, die von Magier*innen, Druid*innen und Kleriker*innen genug haben und mal etwas für das Rollenspiel Anspruchsvolleres darstellen möchten.

Wie kann man nun einem „einfachen“ Charakter mehr Komplexität, also mehr Leben, einhauchen? Man kann hier an mehreren Punkten ansetzen: seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Die Vergangenheit: Was hat dein Charakter erlebt, bevor das Abenteuer begann? Was hat dein Charakter gelernt? Welche Freund*innen und andere Leute aus seiner*ihrer Kindheit wird er*sie vermissen, wenn die Heimat nicht mehr in greifbarer Nähe ist? Gab es vor dem Aufbruch in die Ferne ein einschneidendes Erlebnis, aus welchem sich die diversen Besonderheiten auf dem Charakterbogen erklären? Dieses einschneidende Erlebnis muss nicht immer gleich ein Tod oder eine Katastrophe sein: Eine enttäuschte/hoffnungsvolle Liebe, die Suche nach einem*einer Lehrmeister*in oder die Beobachtung eines Verbrechens eines*einer Vorgesetzten mit anschließender Flucht können großartige Abenteueraufhänger sein.

Die Gegenwart: Wie steht dein Charakter zu den anderen Mitgliedern der Gruppe? Gibt es Vorbehalte oder geht er*sie gern und schnell neue Freundschaften ein? Wie steht es um ein gemeinsames Gruppenziel oder ist jede*r eher nur zufällig auf dem selben Weg unterwegs und man wird erst während der Reise zusammenwachsen? Was macht der Charakter, um sich am Abend beim Lagerfeuer oder in der Bar zu unterhalten? Wie skrupellos ist dein Charakter, wenn er*sie sich zwischen Geld und Moral entscheiden muss? Wie dunkelgrau darf es werden?

Diese Bäuerin hat ein hartes Leben. Da liegt die Sehnsucht nach Abenteuern nicht fern. © Depositphotos | TrudyWilkerson

Die Zukunft: Hat dein Charakter langfristig angesetzte Pläne? Gibt es für ihn*sie irgendwo in seiner*ihrer Vorstellung ein Einfamilienhaus mit weißem Lattenzaun und spielenden Kindern oder hat dein Charakter ganz andere Pläne? Oder vielleicht gibt es gar keine Pläne und man lebt einfach nur in den Tag hinein?

Gerade bei mundanen Charakteren, die sich nicht so sehr durch übermenschliche Fertigkeiten mit dem Schwert, der Magie oder ihren göttlichen Verbindungen auszeichnen, ist die Ausarbeitung eines detaillierten Hintergrundes schwieriger und gleichzeitig auch wichtiger, um einen Charakter zu erstellen, mit dem das Spiel auf Dauer Freude bereitet.

Die Gruppenzusammenstellung funktioniert sowohl mit gleichem „Machtlevel“ innerhalb der Gruppe als auch mit einem Macht- und Hierarchiegefälle zwischen den Charakteren. Dabei sollte man acht geben, dass sich das Machtgefälle, das sich durch eine solche Zusammenstellung ergeben wird, nicht auf die Spieler*innen am Tisch auswirkt: Wenig ist spielspaß- und damit gruppentötender als ein*e Spieler*in, der*die der Rolle innewohnende Macht nicht adäquat zu nutzen weiß oder dies nur unzuverlässig tut.

Im Folgenden sind ein paar Ideen für Gruppenzusammenstellungen, mit und ohne Machtgefälle, vorgestellt, welche ihr mit wenig erfahrenen Charakteren ausprobieren könnt.

Das Wirtshaus tief im Walde

Der*die für diesen Artikel titelgebende Wirt*in zählt wohl zu den am seltensten gespielten Charakterklassen des rollenspielenden Multiversums. Zwar hat jede*r Abenteurer*in schon  Erfahrungen mit dem*der Wirt*in bzw. Barkeeper*in gemacht, aber wohl noch selten daran gedacht, eine*n zu spielen. Der Grund liegt wohl auf der Hand: Man ist sehr standortgebunden, die Gaststätte ist sehr wohl der Beginn und das Ende, seltener aber der Ort von Abenteuern, und die tägliche Routine einer Gastwirtschaft verspricht auch nicht, allzu aufregend zu sein.

Eine Taverne bietet ganz eigene Möglichkeiten für aufregende Plots. © Depositphotos | nejron

Dabei lässt sich diese unscheinbare Klasse mit ein wenig Inspiration in etwas viel Interessanteres entwickeln. Man könnte beispielsweise ganze Abenteuer mit einer Gruppe aus einem Wirt oder einer Wirtin und den Angestellten spielen, die ihre Gaststätte für reisende Abenteurer*innen am Laufen halten müssen. Dabei kommt es immer wieder zu Komplikationen, wenn sich diese Abenteurer*innen gegenseitig bestehlen, ermorden oder die von ihnen bestohlenen Monster den Gästen bis zum Wirtshaus gefolgt sind und nun Rache wollen…

Das Wirtshaus ist eine eigene Entität, die es auszugestalten gilt. Die Spielleitung muss sich bei dieser Option Gedanken um das Wirtshaus wie um einen Dungeon machen. Wo gehen die Leute auf die Toilette? Wo kommt das Wasser her und wohin fließt es ab? Was macht man, wenn der lokale Goblinstamm die Vorratskammer als lohnendes Ziel für einen Überfall entdeckt hat?

Ortsgebundene Abenteuer und Gruppen sind nicht unbedingt etwas für jede*n und für eine endlose Kampagne geeignet. Aber sicher ist es eine lohnende Erfahrung für eine kurze Geschichte.

Junge Ritter*innen und ihr Gefolge

Alle Adligen benötigen ein Gefolge, um repräsentativ auftreten zu können. Selbst einfachste Ritter*innen benötigen einen ganzen Tross an Helfern, die ihm*ihr zur Hand gehen. Warum nicht einmal eine reisende Gruppe um eine*n Ritter*in – ob als Spieler*innen- oder Meister*innencharakter sei mal offen gelassen –  spielen? In dieser Konstellation finden viele Berufe ihren Platz – Herold*in, Köch*in, Jäger*in, Wäscher*in, Bäuer*in, der*die sich um die mitgeführten Tiere kümmert. Wenn der*die Ritter*in kein Spielercharakter ist, funktioniert dieses Konzept sogar noch besser: Die Spielleitung kann ohne Probleme Aufgaben stellen, welche die Charaktere lösen müssen, ohne sich ständig eine*n neuen Questgeber*in suchen zu müssen.

Mit dieser Runde gibt es das Problem der Ortsgebundenheit nicht – junge Ritter*innen können immer und überall auf einer Queste sein und benötigen dort ihr treues Gefolge.

Wir retten Bauer Alriks Kuh! Kleine Abenteuer für junge Charaktere

Spielgruppen, die aus minderjährigen Charakteren bestehen, bieten ganz eigene Gefahren und Abenteuermöglichkeiten. Während sich erwachsene Charaktere, sofern sie nicht unfrei sind, zumindest in einem Großteil ihrer Welt ungehindert bewegen und agieren können, gilt das für kindliche Charaktere nur in einem sehr eingeschränkten Maße. Sofern man keine Straßenkinder (was gerade in einem Setting wie Cthulhu: Gaslicht wunderbar funktioniert) oder junge Kainskinder spielt, kann man auch in etwas „kinderfreundlicheren“ Umgebungen spielen: in Kids on Bikes kann man eine Gruppe Kinder und Jugendlicher aus einem klassischen 80er-Film wie E.T. oder auch, wenn es etwas gruseliger sein darf, Es spielen.

Mit Kindern als Spielercharakteren verschieben sich die potenziellen Gefahren und Möglichkeiten noch einmal. So kann der nette Nachbarschaftspolizist den Kindern zwar nichts Böses wollen, bringt das Abenteuer aber zu einem raschen Ende, wenn die Charaktere nicht erklären können, warum sie nach Einbruch der Dunkelheit noch draußen sind. Auch die Ziele eines Abenteuers können etwas kleiner gesteckt sein. Während andere Rollenspielrunden in schöner Regelmäßigkeit die Welt retten müssen, können die jugendlichen Abenteurer*innen versuchen herauszufinden, ob es im alten Haus am Ende der Straße tatsächlich spukt. Oder was es mit dem Verschwinden des Klassenkameraden vor drei Tagen wirklich auf sich hat?

Wie bereits gesagt, bedeutet ein „einfacher“ Charakterhintergrund zwar die Limitierung von gewissen Optionen für den bespielten Charakter, stößt dabei aber gleichzeitig eine ganze Bibliothek an neuen Abenteuermöglichkeiten auf, die ein*e „ausgewachsene*r Held*in“ so nicht hätte.

Warum in die Ferne schweifen? Ideen zum Aufbruch ins Abenteuer

Charakterklassen wie Bauersleute, Schmiedegesell*in, Rattenfänger*in, Gardist*in, Wirt*in etc. haben alle eine Gemeinsamkeit – sie sind standortgebunden. Während ein*e Taugenichts*in, ein*e Söldner*in und ein*e Magier*in keinerlei Probleme haben, von Ortschaft zu Ortschaft zu ziehen – und angesichts der Taten der Spieler*innen mitunter möglichst schnell weiterziehen müssen – sind die hier besprochenen Charaktere entweder an einen Posten oder sogar an die Scholle gebunden. Je nach der Restriktivität der Gesetze ihrer Heimat machen sich Bauersleute sogar strafbar, wenn  der eigene Grund und Boden verlassen wird. Ein*e Gardist*in, der*die auf die Kamerad*innen in der Stadtwache angewiesen ist, verliert das gesamte soziale Netzwerk und damit einen guten Teil  der Informationsmöglichkeiten, wenn er*sie seinen*ihren Standort wechselt.

Handwerker*innen wie Messerschleifer*innen kommen in der ganzen Welt herum. Warum mal nicht aus ihrer Perspektive Abenteuer erleben? © Depositphotos | choocha69

Mal ganz abgesehen davon, dass Charaktere von niedrigem Stand in jeder Epoche und Welt außerhalb ihrer gewohnten Umgebung irgendwann Probleme mit dem Geld bekommen werden: Die wenigsten Auftraggeber*innen sind gewillt, Fremden ohne einen guten Leumund – also jemanden aus den eigenen Reihen, der*die für sie bürgt – einen Auftrag zu geben. Wenn sie dies trotzdem tun, sollten sich die Charaktere ganz genau fragen, warum sie den Auftrag erhalten…

Man merkt schon an diesen Beispielen, dass es für sozial niedrig stehende Charaktere besonders mühsam ist, sich in der Fremde ein neues Leben aufzubauen. Das muss aber nicht bedeuten, dass ein Ortswechsel unmöglich ist. Die Gruppe als Tross eines Ritters oder einer Ritterin wurde als Beispiel schon genannt, daneben können die Charaktere auch als Fahrendes Volk, etwa als Gaukler*innentruppe, unterwegs sein. Wenn es ein etwas düsterer Hintergrund sein darf, können die Charaktere vor einem Konflikt, einer Hungersnot oder einer anderen Katastrophe auf der Flucht sein und müssen sich in der Fremde eine neue Heimat aufbauen. Natürlich muss es nicht immer eine tragische Hintergrundgeschichte sein, wenn die bloße Neugier auf neue Eindrücke und Erfahrungen dem Charakter genug Grund für den Aufbruch von zu Hause ist.

Ich hoffe, ich konnte dir zeigen, dass ein Charakter mit wenig epischem Hintergrund mindestens genau so interessant zu bespielen sein kann wie „epischer“ angelegte Charakterklassen. Viel Spaß beim Ausprobieren und Sammeln neuer Erfahrungen im Rollenspiel.

 

Artikelbilder: © Depositphotos | vaeenma
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Jessica Albert

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