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In H.P. Lovecrafts Geschichten sorgen Nichtweiße oft für übernatürliches Unheil. Doch für viele „People of Color“ ist der alltägliche Rassismus Amerikas ein realer Horror. In der TV-Adaption von Matt Ruffs prämiertem Buch kämpfen die schwarzen Protagonist*innen sowohl gegen Tentakelmonster als auch gegen die langen Arme des Systems.

Matt Ruff gelang mit Lovecraft Country 2016 ein Überraschungshit in der phantastischen Literatur. Das Buch traf einen Nerv, da in den vergangenen Jahren weiße, männliche Autorenlegenden, die jahrzehntelang gefeiert wurden, einer kritischeren Lesung unterzogen wurden. H.P. Lovecrafts rassistische, sexistische und generell misanthropische Weltsicht war zwar schon seit Langem bekannt. Doch sein enormer Einfluss auf die moderne Phantastik führt zunehmend dazu, dass Lovecrafts Cthulhu-Mythos vermehrt auch Fans findet, die der Autor vermutlich nie gewollt hätte: Nichtweiße, LGBT-Personen, Frauen. Infolgedessen werden Lovecraft und andere Mitwirkende an seinem geteilten Universum wie etwa August Derleth zunehmend nach ihren Beschreibungen von Minderheiten beurteilt.

Ruff ist zwar ebenso wie Lovecraft ein weißer Mann, entschied sich aber für eine schwarze Familie als Protagonisten seines Buchs. Warum dieses Buch so erfolgreich wurde, hat Kollegin Heike Lindhold bereits umfassend beschrieben. Die TV-Adaption unter der Ägide von Misha Green, co-produziert von Jordan Peele (Get Out) und J.J. Abrams (Lost, Star Trek, Star Wars) ließ somit nicht lange auf sich warten. Seit dem 13. November ist die Serie auch auf Deutsch verfügbar.

Lovecraft Country © HBO
Lovecraft Country © HBO

Story

Die erste Episode beginnt mit einer bizarren Traumsequenz im Krieg gegen riesige Tentakelmonster, die vom legendären Baseballspieler Jackie Robinson zu Brei gehauen werden, bevor er dem Protagonisten mit den Worten „I got you, kid“ das Leben rettet. Diese absurde Vision ist eine Andeutung, die erst in späteren Folgen einen Sinn ergibt. Aus seinem Traum erwachend, reist der schwarze Koreakriegs-Veteran Atticus „Tic“ Freeman Mitte der 1950er Jahre nach Chicago. Dort findet er einen Brief seines Vaters Montrose vor, der seine Familiengeschichte erforschen wollte. Laut seinem Onkel George ist Montrose aber seit einiger Zeit verschollen.

George, der einen Reiseführer für Afroamerikaner*innen herausgibt, Tic und seine Jugendfreundin Letitia „Leti“ Lewis machen sich auf den Weg nach Ardham, Massachusetts (vom Lovecraft-Fan Tic versehentlich als „Arkham“ bezeichnet), wo sie Montrose vermuten. Unterwegs haben die drei trotz Georges Sicherheitsvorkehrungen immer wieder mit rassistischer Diskriminierung zu tun. Bevor sie ihr Ziel erreichen, werden sie von Sheriff Hunt aufgehalten, der ihnen mitteilt, dass sie sich nach Sonnenuntergang nicht mehr in der Gegend aufhalten dürfen. Obwohl sie sich an seine Auflagen halten, geraten sie in Hunts Falle und schweben in Lebensgefahr – bis unerwartete Hilfe erscheint. Ihre Reise hat nämlich einen ungeahnten, von langer Hand vorbereiteten Grund und ist nur der Auftakt für eine Reihe von haarsträubenden übernatürlichen Begegnungen, in die die Familien von Tic, George und Leti nach und nach hineingezogen werden.

Die Protagonist*innen von Lovecraft Country sind nicht mit denen von H.P. Lovecraft zu vergleichen. Der legendäre Horrorautor entsendet meist fragile weiße Intellektuelle in schicksalhafte Begegnungen mit dem Übernatürlichen, wodurch ihr rationales Weltbild zusammenbricht und sie oft auf groteske Weise den Verstand verlieren. Nichtweiße, egal ob Schwarze, Indianer*innen oder Asiat*innen, sind meist mit dem Bösen im Bunde; zumindest aber sorgen sie dafür, dass der arglose Forscher seinem Verderben ein gutes Stück näher kommt. In Matt Ruffs Buch und der TV-Adaption sind die Hauptpersonen Schwarze im Amerika der 50er Jahre, die einen realen Horror durchleben: Rassentrennung im Süden und unverhohlene Diskriminierung im Norden.

Mit dem Auto zu verreisen kann eine tödliche Gefahr darstellen, doch auch in der eigenen Stadt erleben Afroamerikaner*innen Gewalt und Ausgrenzung. Von solchen Lebenserfahrungen geprägt, lassen sich die Protagonist*innen auch von Magie und Monstern nicht lange aus der Fassung bringen. Zumal Tic, Leti und ihre Freunde auch mit einer gesunden Portion Genrekenntnis ausgestattet sind: Als Science-Fiction- und Comic-Geeks erkennen sie viele der phantastischen Begebenheiten aus ihren Lieblingsgeschichten wieder, was ihnen enorm beim Überleben hilft. Dass Tic sich bewusst ist, wie sein Lieblingsautor Lovecraft über Schwarze dachte, gibt der gesamten Handlung eine Metaebene: die schwarzen Charaktere drehen das Blatt um und schreiben ihre eigene phantastische Geschichte.

Darsteller

Jurnee Smollett, bekannt aus Birds of Prey, läuft zur Hochform auf, indem sie jegliche 50er Jahre-Rollenklischees über den Haufen wirft und mehrfach beweist, dass Letitia sich auch ohne männliche Hilfe aus Gefahrensituationen retten kann. Die sturköpfige Fotografin schreckt weder vor Geistern noch brutalen Polizisten zurück und hilft Tic mehrfach aus der Bredouille. Gleichzeitig ist sie durch ihre verkorkste Familiensituation, insbesondere mit ihrer Schwester Ruby, sehr verletzlich hinsichtlich zwischenmenschlicher Beziehungen. Eine Komplexität, die Smolett scheinbar mühelos verkörpert. Nachdem sie bereits eine Hauptrolle in Misha Greens Historiendrama Underground hatte und an der Seite von Margot Robbie und Ewan McGregor das DC-Universum rockte, dürften Smolett weitere prestigeträchtige Rollen sicher sein.

Jonathan Majors stand bereits mit Black Panther Chadwick Boseman vor der Kamera: in Bosemans letztem Film vor seinem tragischen Krebstod, Da 5 Bloods. Regie führte niemand Geringeres als Spike Lee. Das ist beachtlich für Majors‘ noch junge Filmkarriere, insofern ist es nicht verwunderlich, dass er dem vielschichtigen Charakter Atticus Freeman mit Bravour Leben einhaucht. Tic ist ein Veteran, der die Grausamkeit des Kriegs miterleben (und anwenden) musste, ein Sohn, der seinem emotional kaputten Vater nie gut genug war, ein Mann, der Ausgrenzung täglich erlebt und dennoch nicht davor gefeit ist, andere auszugrenzen, wenn sie nicht in sein Weltbild passen. All das drückt Majors oftmals mit nur wenigen Worten und Gesten aus. Dieses Schauspieltalent hat ihm, wie bei Kollege Boseman zuvor, die Aufmerksamkeit des Marvel Cinematic Universe eingebracht. Wenn die unbestätigten, aber auch unbestrittenen Berichte stimmen, soll Majors in Ant-Man 3 den Bösewicht spielen.

Michael K. Williams‘ (The Wire, Boardwalk Empire) Darstellung des gequälten Vaters Montrose, der zu Beginn der Staffel Abscheu und zum Ende hin Mitleid hervorruft, wäre eine Emmy-Nominierung wert. Der Charakterdarsteller schafft es, die tragische Vergangenheit von Montrose Stück für Stück preiszugeben, bis sie in Episode 9 mit Gewalt an die Oberfläche dringt. Hier soll nicht zu viel verraten werden, aber Montroses Scham und Schuld sind geradezu verstörend glaubwürdig.

Die übrigen Charaktere kommen neben dieser Starpower fast ein wenig zu kurz, vor allem Hippolyta und die eigens für die Serie erfundene Ji-Ah hätten mehr Bildschirmzeit verdient. Nichtsdestotrotz: Autorin Green hält sich an die Struktur der Buchvorlage, die aus zusammenhängenden Kurzgeschichten besteht. Jede der Hauptpersonen steht für mindestens eine Episode im Rampenlicht, mit Ausnahme von Tic und Christina, die in jeder Folge die Rahmenhandlung der Staffel zusammenhalten.

Apropos Christina: Abbey Lee (Mad Max: Fury Road) spielt die weiße Antagonistin mit der für die Neuengländer Oberschicht typischen „noblesse oblige“. Das bedeutet, dass sie jederzeit ungebeten auftaucht und auch den absurdesten magischen Hokuspokus erklärt, als ob es eine simple Wegbeschreibung in Georges Reiseführer wäre. Bisweilen hat man den Eindruck, dass Christina die Probleme ihrer schwarzen „Freunde“ nachvollziehen kann – als Frau ist sie in den 1950ern ebenfalls benachteiligt – aber diese Gefühlsregungen bleiben stets unter der kühlen Oberfläche. Man nimmt es Lee ab, dass Christina ihre Mitmenschen, ganz gleich welcher Hautfarbe, in etwa so betrachtet wie ihre Designerklamotten: ausschließlich dafür da, um ihren Status zu betonen und nach Gebrauch abzulegen.

Lovecraft Country © HBO
Lovecraft Country © HBO

Inszenierung

Musik ist ein wichtiger Faktor in der Serie, so wird die Szenerie oft mit klassischem Blues und Jazz unterlegt, der das schwarze Lebensgefühl im Amerika der 50er ausdrückt. Besonders stark ist das Endthema, das klassische Spiritual Sinnerman, das jede Episode bis auf die letzten zwei abschließt. Der Liedtext, der beschreibt, wie ein Sünder vor der göttlichen Strafe zu fliehen versucht, steht auch für die fehlbaren Hauptcharaktere, die ihrerseits zahlreiche Sünden mit sich herumtragen.

Die Musik in Lovecraft Country plätschert nicht nur im Hintergrund dahin, sondern wird von den Charakteren bewusst wahrgenommen: Letitias Schwester Ruby etwa ist Sängerin in einer Blues-Band und gibt auf einem Straßenfest ihr Gesangstalent zum Besten, zur großen Freude aller Anwesenden. Und auf einem ihrer zahlreichen Roadtrips stimmen die Protagonist*innen nacheinander in ein Lied im Radio ein. Auch das ist ein wichtiger Aspekt der Serie: Die Hauptfiguren lassen sich von Alltagssorgen, Diskriminierung und übernatürlichen Widersachern ihre Lebensfreude nicht nehmen.

Sehr clever und wertvoll ist auch die Begleitung von Szenen durch Ansprachen und Gedichte schwarzer Personen, wobei hier nicht unbedingt auf historische Genauigkeit geachtet wird: Der Auszug aus James Baldwins Streitgespräch mit William F. Buckley Jr. ist von 1965, eine Dekade nach den Ereignissen der Serie und mitten in der Hochphase der Bürgerrechtsbewegung. Der Monolog Dark Phrases aus dem Theaterstück For Colored Girls Who Have Considered Suicide / When the Rainbow Is Enuf ist sogar von 1976. Das stört aber wenig, denn diese „Spoken Word“-Einlagen unterstreichen die Probleme des schwarzen Amerika gut. Bei einem nichtamerikanischen Publikum werden sie aber eher für ratlose Blicke sorgen – wobei solche Szenen auch einen Ansatz bieten, sich mit afroamerikanischer Kunst auseinanderzusetzen.

Deutlich irritierender ist jedoch die Verwendung moderner Musik. Die historische Immersion wird durch ein Gedicht aus den 70ern deutlich weniger gestört, als wenn plötzlich Cardi B, Rihanna oder Marilyn Manson durch das Chicago der 50er Jahre dröhnen. Diese sehr postmodern wirkende Entscheidung soll vermutlich einen Bezug zur heutigen Situation urbaner Amerikaner*innen herstellen, wirkt aber oft deplatziert.

Erzählstil

Die 10 Episoden von Lovecraft Country sind ein wilder Ritt, der mit brutalem Realismus anfängt, sich zu magischem Realismus wandelt und am Ende in ungezügelter Phantastik gipfelt. Geradezu brillant ist etwa Hippolytas bizarrer Selbstfindungstrip, der an psychedelische 70er Jahre-Science-Fiction erinnert. Doch jeder Ausflug in die Phantastik wird auch wieder geerdet, unter anderem durch die Einflechtung historischer Ereignisse wie dem Koreakrieg, dem Tulsa-Massaker oder dem Mord an Emmett Till. Diese werden im Buch nicht oder nur oberflächlich behandelt. Dass die Serie sich die Zeit nimmt, die Erfahrungen der Hauptcharaktere mit diesen realen Begebenheiten einzusortieren, ist wichtig. Eine andere HBO-Serie, Watchmen, hatte bereits 2019 das lange vergessene Tulsa-Massaker aufgearbeitet. Viele nichtschwarze Amerikaner erfuhren dadurch zum ersten Mal von diesem Ereignis. Lovecraft Country zeigt noch intensiver als Watchmen die schockierende Brutalität des Massakers und schafft damit gleichzeitig eine Verbindung zur persönlichen Geschichte eines Hauptcharakters.

Lovecraft Country © HBO
Lovecraft Country © HBO

Trotz dieses realistischen Ansatzes sind manche Szenen in der Serie überdramatisiert. Musik, Kamera und Effekte lassen vor allem in den späteren Folgen viele bereits dramatische Situationen überreizt theatralisch wirken. Wer andere HBO-Serien wie Westworld oder Game of Thrones gesehen hat, erkennt bestimmte Stilmittel wieder, mit Musik und visuellen Effekten eine Stimmung zuzuspitzen. Generell wurden der Buchvorlage die bekannten HBO-Elemente Gewalt und Sex eingeimpft. Wo die Charaktere im Buch auch durch Cleverness gewinnen können, wird in der Serie ein Sieg oft mit Blut erkauft. Wo das Übernatürliche im Buch auch freundliche Züge tragen kann, ist es in der HBO-Adaption oft grausam und unnachgiebig. Auch das seit GoT bekannte Stilmittel der moralischen Grauzone wird hier erzählerisch angewandt: Alle erwachsenen Charaktere haben Dreck am Stecken, hüten Geheimnisse voreinander, sind bereit, Gewalt anzuwenden. Zu hundert Prozent anständig ist niemand – aber das macht die Protagonist*innen nicht weniger zu Identifikationsfiguren.

Nicht alle Änderungen an der Vorlage wie etwa die Nachnamen der schwarzen Hauptfiguren ergeben Sinn. Dass Caleb zu Christina und Horace zu Dee wurde, kann man eventuell mit dem Wunsch nach weiteren weiblichen Charakteren erklären, aber es ist nicht so, als ob es dem Buch mit Leti, Ruby und Hippolyta daran mangelte. Merkwürdig ist auch, dass mit Yahima und Ji-Ah zwei weitere Charaktere hinzugefügt wurden, die aber letztlich zu wenig Zeit innerhalb der Handlung bekommen. Diese Schwächen sind jedoch verkraftbar. Was allerdings die ansonsten starke Staffel arg trübt, ist das Finale. Hier drängen sich wieder Parallelen zur Produktion von Game of Thrones auf. Nein, in Lovecraft Country erscheinen keine Drachen, vielmehr geht es um die übereilte Verknüpfung loser Handlungsfäden in der letzten Folge. Spoilerwarnung für Details:

Das Finale (Spoiler)

Lesen auf eigene Gefahr

Zunächst einmal ist Reisezeit irrelevant geworden. So, wie in den späteren Staffeln von GoT ein halber Kontinent in kürzester Zeit zu Pferd oder Schiff überquert werden konnte, legen die Protagonist*innen von Lovecraft Country auf einmal hunderte Kilometer in wenigen Stunden zurück. Das treue Auto Woody ist zwar schnell, aber nicht so schnell – vor allem, wenn man bedenkt, dass es in den 50er Jahren deutlich weniger Autobahnen gab. Wurde in Episode 1 noch mehrfach betont, dass längere Reisen für Afroamerikaner höchst gefährlich sind und genau geplant werden müssen (was einen Großteil von Georges Beruf ausmacht), so sausen die Hauptcharaktere auf einmal fröhlich zwischen Chicago, dem Observatorium in Kansas und Ardham, Massachusetts hin und her.

Auch kann Tic Ji-Ah einfach so tagsüber im Hotel anrufen und sie erreichen, denn sie hat nichts Besseres zu tun, als tagelang in einem fremden Land in ihrem Zimmer zu sitzen. Woher die aus ärmlichen Verhältnissen stammende Koreanerin es sich leisten kann, einen (in den 1950ern noch extrem teuren) Pazifikflug zu buchen und sich für Wochen in einem scheinbar gehobenen Hotel in Chicago einzuquartieren? Vielleicht war ihr hundertstes Opfer ja ein Millionär. Dennoch verkommt ihr Date mit Tic, ebenso wie ihr gesamter Charakter, zu einem „Plot Device, einem stilistischen Hilfsmittel, das nur eingebaut wurde, um am Ende magische Unterstützung zu bieten.

Auch die anderen weiblichen Charaktere erwischt es kalt, am meisten Ruby. Diese wird beiläufig beiseite geschafft, ohne dass wir das zu Gesicht bekommen. Zwar muss sie noch am Leben sein, damit Christinas Verwandlungszauber wirkt, aber sie ist sicher nicht mehr bei Bewusstsein, ähnlich wie William und Hillary. Das ist schade, denn eine halbe Staffel lang wurde Rubys Persönlichkeit entwickelt, um sich von ihrer Schwester und der Gesellschaft zu emanzipieren. Gerade nach dem Streitgespräch mit Leti auf dem Friedhof wirkt Rubys spontane Opferbereitschaft irgendwie unglaubwürdig. Schade, dass so ein starker Charakter nicht einmal zum Schluss auftauchen darf.

Christina wiederum verkommt nach wochenlangem Intrigieren zur generischen Bösewichtin, die sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht von den Guten fast schon dilettantisch austricksen lässt. Die kühle Strippenzieherin, die sonst allen einen Schritt voraus und immer bestens informiert war, wird durch puren Zufall von Titus Braithwhites Geist informiert, dass Tic und seine Freunde das Book of Names besitzen. Später verschont Christina Leti gemäß Rubys letztem Wunsch, lässt sie und Ji-Ah teilweise unbeaufsichtigt und sorgt so dafür, dass die beiden ihr das Handwerk legen. Wie konnte eine begabte Zauberin wie Christina nicht erkennen, dass Ji-Ah eine Dämonin ist? Das wird leider nicht erklärt. Es ist ein alter Hut, dass Bösewicht*innen zum Opfer ihres eigenen Hochmuts werden.

Nicht, dass sich die Guten cleverer anstellen. Generell lassen Tic und seine Freunde jegliche Vorsicht und Genrekenntnisse fallen, um recht offensichtlich in Christinas Falle zu tappen. Wo sind Ji-Ahs Fuchsschwänze und Hippolytas kosmisches Wissen, als sie von hunderten Dorfbewohner*innen angegriffen werden? Dafür darf Dee völlig grundlos Freundschaft mit einem Schogothen schließen. Wieso? Zwar war das Wesen als Beschützer von Tic eingesetzt worden, aber dass dieser Schutz auch Dee mit einbezieht, wurde nicht erwähnt – zumal das Monster sie dann auch vor Lancasters Fluch hätte beschützen müssen. Und prinzipiell hätte Christina, wäre sie clever gewesen, den Schogothen zurückrufen müssen, denn spätestens zu Beginn des Rituals gab es keinen Grund mehr, Tics Leben zu bewachen. Dee bekommt aber somit nicht nur einen monströsen Freund, sondern auch eine coole Roboterhand von ihrer Mutter. Wenn Hippolyta über solche Technologie verfügte, warum hat sie dann nicht ein paar zusätzliche Hilfsmittel von ihren kosmischen Freunden mitgebracht? Zumal die Hand erst nach dem Sieg über Christina eingesetzt wird. Dee darf in jungen Jahren zur kaltblütigen Mörderin werden und die hilflose, nichtmagische Christina zerquetschen. Mit dieser Rachegeste hat auch der letzte Hauptcharakter der Serie seine Unschuld verloren.

Ganz dick aufgetragen ist dann die biblische Allegorie um Tic, der in Kreuzigungspose stirbt, um die Welt vor weißen Zauberern zu retten. Dass sich ein auserwählter Messias opfert, um alle zu retten, ist zwar sehr großes Kino, aber leider auch endlos ausgereizt. Es muss wohl nicht extra erwähnt werden, dass diese Lösung im Buch nicht vorkommt. Zudem widerspricht sie dem Grundproblem der Serie: Weiße brauchen im Amerika der 1950er nicht unbedingt Magie, um andere Ethnien zu unterdrücken. Und schließlich ergibt sich daraus auch ein Metaproblem für eine eventuelle zweite Staffel: Wenn Weiße keinen Zugang zu Magie mehr haben, wer soll dann noch als Gegenspieler auftauchen?

Episode 10 hinterlässt einfach zu viele Lücken in der Handlung, die aus Zeitgründen nicht erklärt werden. Schade, denn eine genauere Orientierung an der Buchvorlage hätte solche Lücken gar nicht erst auftauchen lassen (wieder eine Gemeinsamkeit mit Game of Thrones). Für sich allein betrachtet, würde das Finale von Lovecraft Country nicht aus dem bekannten TV-Fantasy-Durchschnitt herausragen.

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Lovecraft Country © HBO
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Die harten Fakten:

  • Produzent*innen: Misha Green, Jordan Peele, J.J. Abrams
  • Darsteller*innen: Jurnee Smollett, Jonathan Majors, Aunjanue Ellis, Jamie Chung etc.
  • Genre: Horror, Science-Fiction, Historisch
  • Episoden: 10
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: Englisch (Rezension), Deutsch (ab 13.11.2020)
  • Format: Videostream
  • Preis: Abopreise variieren, ca. 10-13 Euro monatlich
  • Bezugsquelle: Sky

 

Fazit

In der Gesamtbetrachtung ist die HBO-Produktion eine gute Umsetzung des Romans Lovecraft Country. Autorin und Produzentin Misha Green hat viele spannende Ideen zur Ergänzung der Vorlage eingearbeitet, von denen nur ein paar nicht zu Ende gedacht wurden. Diese Kritik kann man aber an vielen anderen Serien üben, insbesondere zur ersten Staffel.

Was die Frage aufwirft, ob es eine zweite Staffel geben wird. Die Erste hat das Buch komplett abgedeckt, für weitere Episoden müsste Matt Ruff erst weiteres Material schreiben. Es wäre allerdings auch nicht schade, wenn Lovecraft Country mit nur einer Staffel abgeschlossen würde. So hat HBO es auch bei Watchmen gemacht. In sich geschlossene Handlungen, kein Qualitätsverlust bei endlosen Fortsetzungen, kein kaugummiartiges Überdehnen von bereits dünnen Handlungssträngen – Einzelstaffeln haben auch ihren Reiz. Verdient hätten die talentierten Schauspieler eine Fortsetzung dennoch. Vielleicht muss erst der reale Horror des Jahres 2020 (Stichwort: Produktionsstopps durch die Pandemie) zu Ende gehen, bevor Lovecraft Country erneut fragt, wohin der Sinnerman diesmal fliehen will.

Artikelbild: © HBO, © sky
Lektorat: Susanne Stark
Layout und Satz:  Roger Lewin

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