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No Code entführt die Spieler*innen zurück ins Jahr 1986. Jede Episode ist eine Kurzgeschichte, in der sich die düsteren Abgründe nicht grafisch, sondern im (anfänglich) Nichtgesagten auftun. Wer bist du? Was wirst du tun? Was hast du getan? Vier Geschichten, eine Rezension.

Was 2016 als einzelne, kurze Geschichte –  die erste Episode von Stories Untold –  für die Ludum Dare 36 begann, sollte nur ein Jahr später zu den Top 50 Spielen 2017 gehören. Ein ordentliches Debüt für das zweiköpfige Team von No Code.

Stories Untold bietet weder rasante Action noch grafische Höhenflüge. Wieso das experimentelle Indie-“Adventure“ dennoch so erfolgreich ist, möchten wir in dieser Rezension beleuchten, für die die PC-Version des Spiels durchgespielt wurde.

Darum geht es – Stories, told

Beim erstmaligen Spielen steht uns im Startmenü neben den Optionen und einer kurzen Hilfe (praktisch ein „Wie spielt man ein Text-Adventure“) zunächst nur Episode 1 zur Verfügung. Nachdem das Spiel durchgespielt ist, können jedoch alle Episoden einzeln ausgewählt werden.

Leider sucht man die Option zur Sprachauswahl vergebens – weder für Ton noch für Text gibt es eine deutsche Umsetzung. Ohne Englischkenntnisse kommt man also in dieser textlastigen Gruselgeschichte nicht weit. Das mindert das potenzielle Publikum enorm.

Stories Untold beginnt zunächst mit einem Intro: Diverse, den Lesern unter 30 vermutlich nur aus Erzählungen bekannte, Geräte fliegen in Zeitlupe zu Musik aus dem Synthesizer durch den Raum. Diese werden von den Credits und dem Titel in einem auffällig an Stranger Things erinnernden Design begleitet. Das ist kein Zufall, denn Titelbild und Logo stammen von Kyle Lambert, der auch die Poster für die Netflix-Serie entworfen hat.

Im ersten Kapitel sitzen wir als Protagonist James vor einem alten Röhrenfernseher, an den unser treues Futuro 128K angeschlossen ist und auf dem wir das für dieses Kapitel namensgebende Spiel „The House Abandon“ starten. Zeile für Zeile baut sich unter Fiepen, Piepsen und Rattern das Bild des Hauses auf und die Älteren unter uns werden sofort an ihren geliebten Commodore erinnert.

Was als heimelige Idylle beginnt…

Wir folgen der Geschichte mithilfe von „Go to“, „Use“, „Look at“ und so weiter und erkunden so das Ferienhaus unserer Familie. Alles scheint ganz entspannt zu sein, bis der*die Spieler*in im Spiel einen alten Futuro findet.

Ab da nimmt das Spiel eine krasse Wendung. Nicht nur steigen wir tiefer in die Ebenen, indem wir ein Spiel spielen, in dem wir ein Spiel spielen, in dem wir ein Spiel spielen. Diese Version des Spiels ist auch noch eine groteske und desolate Version des Spiels, welches wir erst kurz zuvor angefangen haben.

…entwickelt sich rasant zu einem Albtraum

Das Kapitel endet damit, dass wir … uns selbst im Spiel begegnen, während wir das Spiel spielen.

Das klingt kompliziert, ist aber eine wunderbar Gänsehaut erzeugende Szene.

Mit den weiteren Kapiteln erlangen wir dann immer mehr Bewegungsspielraum. Hat „The House Abandon“ nur einen einzelnen Monitor und Blickwinkel, müssen wir im zweiten Kapitel als Mr. Aition schon zwischen unserem Computer und der Laborausstattung hin und her wechseln. Dort bearbeiten wir ein Alienartefakt etwas pseudowissenschaftlich mit Apparaten wie Laserstrahlen, Schallwellen und zu guter Letzt sogar einem Bohrer. Wie wir dabei zu verfahren haben erfahren wir über Lautsprecheransagen und die Bedienungsanleitungen auf dem Computer.

Das Spiel wiederholt dabei in Intervallen die Vorgaben, es gibt (dankenswerterweise) kein Zeitlimit für die einzelnen Schritte, obwohl das Spiel uns genau das manchmal glauben lassen will.

Nachdem wir das Artefakt befreit und uns mehr oder weniger freiwillig mit ihm verbunden haben, schlägt die Geschichte einen stilistischen Bogen zum ersten Teil und endet erneut mit einem Textabenteuer, welches uns ratlos und ein wenig verstört zurücklässt.

Im dritten Kapitel dürfen – nein, müssen – wir als James Aition sogar von unserem Arbeitsplatz auf einem Horchposten in Grönland nach draußen gehen, wenngleich der Schneesturm das nicht gerade zu einem Spaß macht. Hier haben wir wieder einen Computer, in den wir mithilfe eines Breitband-Sendeempfängers und dem Mikrofilmleser zu unserer Linken Codes eingeben. Mein gut gemeinter Rat: Haltet für dieses Kapitel unbedingt Stift und Papier bereit!

Manche Rätsel erfordern sehr viel Geduld

Im vierten Kapitel werden wir aus dem mittlerweile gewohnten Intro gerissen, die bereits erlebten Geschichten werden zusammengefasst und miteinander verbunden. Außerdem wird dieses Mal nicht wie in den vorherigen Szenen nur über Lautsprecher mit uns gesprochen. Im Finale haben wir jemanden bei uns, im selben Raum. Freilich steht er die ganze Zeit außerhalb unseres Blickfeldes, sodass wir ihn nicht sehen, aber das Gefühl, allein zu sein, schwindet. Irgendwie.

Wir werden aufgefordert, die Aufnahme auf einem Kassettenrecorder zu starten, wenn wir bereit sind, womit wir die Rätsel starten. Die Kernelemente der vorangegangenen Episoden werden aufgegriffen, jedoch liegt der Fokus klar auf der Erzählung statt den Rätseln. Die Aufgaben stellen kein Hindernis dar, sodass die Konzentration auf die Geschichte nicht schwer fällt.

Schließlich laufen wir als James Aition durch verlassene Korridore und all unsere Geschichten brechen über uns herein, bis nur noch Wahrheit und Erkenntnis übrigbleiben.

Das Spiel ist durchweg geradlinig in seiner Erzählung und lässt wenig Raum für eigene Entscheidungen, was das Erfolgserlebnis auf ein Level von „wurde durchgespielt“ reduziert. Die Spielenden werden in jedem Puzzle mit Anweisungen und Anleitungen ausgestattet, es gibt bis auf eine Ausnahme keine Möglichkeit, die Aufgaben nicht zu bestehen – das Spiel lässt einen erst in der Story weiterkommen, wenn die Rätsel richtig gelöst sind. Wiederspielwert findet sich somit nur für die Komplettist*innen unter den Spieler*innen, die unbedingt alle Erfolge sammeln wollen.

Diese „Erzählung auf Schienen“ (Railroading) ist jedoch in der Geschichte selbst recht logisch und wird vom Spiel teils gnadenlos durchgesetzt. Gerade gegen Ende ist das Verlangen, das Unvermeidliche abzuwenden, enorm. Jeder Versuch sorgt jedoch für einige interessante Anschuldigungen und Kommentare seitens des Spiels.

Jedes Kapitel lässt sich in etwa einer Stunde durchspielen. Erneut bildet der dritte Teil die Ausnahme. Dieser kann durch seine Rätsel enorm viel Zeit in Anspruch nehmen, nicht zuletzt weil die Radioübertragungen nicht immer so einfach zu verstehen sind.

Zudem werden nicht alle Befehle in den Text Adventure-Teilen erkannt – das hat so manchen schon in den Achtzigern und frühen Neunzigern frustriert und wirft die Spieler*innen auch heute noch etwas aus dem Spielfluss.

Fast vergessene Technologie der Achtziger

Features

Stories, seen

Spielerisch hat Stories Untold nicht viel zu bieten, um als Adventure durchzugehen. Vielmehr ist es ein atmosphärischer Hybrid aus Puzzle und Textadventure, das mit machbaren Rätseln eine packende Geschichte erzählt. Grafisch ist das Spiel abseits der vorgegebenen Blickwinkel, in denen sich zu 90 Prozent bewegt wird, ziemlich unspektakulär. Es baut stark auf den Erfahrungen auf, die der Autor und Direktor Jon McKellan zuvor bei der Produktion des SciFi-Horrorspiels Alien: Isolation gesammelt hat: Von der satten Körnung des Bildes über die kantige Technologie bis zum Geräusch der surrenden Datasette und des piepsenden Sounds des Spiels vermitteln die Details ein Gefühl der späten 80er.

Und damit befindet sich No Codes erstes Machwerk in bester Gesellschaft. Besonders dank Stranger Things hat der Stil dieser Epoche seit 2016 einen Hype erlebt. Neben Stories Untold wurden in den letzten Jahren mit Titeln wie Generation Zero, Industria und The Beast Inside die Achtzigerjahre zu neuem (digitalen) Leben erweckt. Der Survival-Horror Dead by Daylight hat sich gleich Lizenzen für Charaktere der Serie gekrallt und sie als DLC herausgebracht. Doch auch abseits der Computerspiele hat die Thematik Einzug gehalten; bereits 2018 hat Marc Thorbrügge das Pen and Paper-Rollenspiel Tales from the Loop für uns getestet und erst letztes Jahr hat Norbert Schlüter für die Teilzeithelden den neuen Quellenband „Deutschland in den 80ern“ rezensiert.

Stories, performed

Wie bereits erwähnt, zeichnet sich Stories Untold mehr durch sein Narrativ als seine spielerische Finesse aus. Es gibt keine für klassische Adventures typischen Elemente wie Inventar und auch auf jegliche optische Darstellung von Figuren wurde verzichtet.

Entsprechend schlank ist das Spiel geworden. Damit läuft es auch auf älteren Laptops ohne Probleme. Mit weniger als einem halben Gigabyte Speicherplatz und den niedrigen Mindestanforderungen ist das Spiel auf einem Windowsrechner vergleichsweise schmal – wo die mehr als vierfache Größe auf einem Mac herkommt war nicht herauszufinden.

Dasselbe Phänomen findet sich auch beim Arbeitsspeicher: Während es auf einem Windowsrechner schlappe 2 GB Arbeitsspeicher erbittet, verlangt die Apple-Adaption bereits 4 GB. Ältere Grafikkarten unterhalb der Mindestvoraussetzungen haben außerdem große Probleme, die Wechsel zwischen den Blickwinkeln und Geräten im Spiel flüssig darzustellen. Hier ruckelt und zuckelt alles, bis endlich wieder ein scharfes Bild entsteht.

Die harten Fakten:

  • Entwicklerstudio: No Code
  • Publisher: Devolver Digital
  • Plattform: PC (Windows und Mac OS), Nintendo Switch, Xbox One / Xseries, PlayStation 4
  • Sprache: Englisch
  • Mindestanforderungen: Betriebssystem: Windows 7 / MAC OS X 10.9.5; Prozessor: Intel Core Duo (PC) / IntelCore i5-6500 (Mac OS); Arbeitsspeicher: 2 GB (PC) / 4GB (Mac OS); Grafikkarte: GeForce GT 750 oder vergleichbar (Mac OS), DirectX 9.0; Speicherplatz: 400 MB (PC) / 2 GB (Mac OS)
  • Genre: Horror Adventure / Puzzle, Indie
  • Releasedatum: 27.05.2017 (PC, MAC); 16.01.2020 (Switch); 27.10.2020 (Xbox); 27.10.2020 (PS4)
  • Spielstunden: Etwa 4-5 Stunden
  • Spieler*innen-Anzahl: Einzelspieler
  • Altersfreigabe: M (amerikanisches Rating, entspricht 17+)
  • Preis: 9,99 EUR (alle Plattformen), Kapitel 1 als Demo gratis
  • Bezugsquelle: Fachhandel

 

Fazit

Stories Untold beginnt mit einer unkonventionellen Gruselgeschichte, steigert sich in den Bereich des Science-Fiction-Horrors und endet dann mit einem Finale, das die vorangegangenen Teile ein klein wenig entzaubert – jedoch nicht genug, um sich zu wünschen, dass wir die Geschichte nicht beendet hätten.

Das Spiel hat etwa vier bis fünf Stunden Anspannung, Zweifel, Verzweiflung und Spannung im Gepäck und lässt sich damit gerade noch angenehm in einem Rutsch durchspielen.

Spieler*innen, denen gut inszenierte minimalistische Psycho-Thriller gefallen und eine spannende Geschichte wichtiger ist als imposante Grafik, werden mit diesem ungewöhnlichen Werk vollends zufrieden sein. Fans des grafischen Horrors werden jedoch weitestgehend enttäuscht.

Wer nicht durch die rein englische Sprach- und Textausgabe abgeschreckt wird, den*die erwartet in Stories Untold eine emotionale Achterbahnfahrt in puncto Handlungsverlauf, während die Spielmechaniken eher das Niveau einer Schiffschaukel an den Tag legen.

Für knapp zehn Euro bekommt ihr die etwas mehr als vier Stunden intensive Geschichte und Rätsel – genug um damit einen Abend zu füllen. Für Fans von Sammelobjekten haben wir jedoch eine Enttäuschung: Das Spiel wird ausschließlich digital vertrieben. Das ist sehr schade, denn es hätte sich wunderbar in einer VHS-angelehnten Hülle als Sammleredition angeboten.

Unser Tipp: Stories Untold ist sowohl auf Steam als auch bei EpicGames regelmäßig im Angebot. Warten lohnt sich also.

 

  • Spannende Geschichte mit diversen Wendungen und erstaunlicher Auflösung
  • Gelungene Inszenierung und Retrolook
  • Schafft es, das Lesen von Anleitungen interessant zu machen
 

  • Nicht in deutscher Sprache verfügbar
  • Geringer Wiederspielwert

 

Artikelbilder: @No Code
Screenshots: Florian Zimmermann
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Susi S.
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

Über den Autor

Florian Zimmermann liebt das Narrativ, ihn fesseln die Geschichten mehr als die Grafik. Seit seinem ersten Point-and-Click hat sich daran in drei Dekaden auch nichts geändert. Wenn er in seiner freien Zeit nicht gerade am Computer sitzt und in fremde Welten, alternative Realitäten oder düstere Dystopien versinkt, spielt er in Pen-and-Paper-Runden oder bearbeitet seine Larp-Ausrüstung für die nächste Con. Zumindest erzählt er sich das selbst und weiß gar nicht, wieso er immer zwei Tage vor Beginn die Nächte durcharbeitet, damit alles rechtzeitig fertig wird.

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