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Der Sandman, also Morpheus, einer der Endlosen, der Lord der Träume, ist nach einem Jahrhundert seiner Gefangenschaft entkommen. Nun gilt es, seine gestohlenen Werkzeuge zurückzuerlangen, um die Traumwelt wieder in ihren ursprünglichen, gedeihenden Zustand zurückzuversetzen. Doof nur, dass es einige dieser Instrumente bis hinab in die Hölle verschlagen hat …

Lange Zeit galt Neil Gaimans Comic-Meisterwerk Sandman als nicht verfilmbar und verbrachte das letzte Jahrzehnt in einer Development-Hölle. Nun hat sich Netflix des Projektes angenommen, die 75 Ausgaben zählende Reihe umzusetzen. Produziert wird das Ganze von Allan Heinberg (Wonder Woman), geschrieben von Neil Gaiman selbst und dem für erfolgreiche Comicumsetzungen bekannten David S. Goyer (Batman-Trilogie).

Story

Roderick Burgess (Charles Dance) hat Mist gebaut. Der Okkultist, Magier und Sektenführer wollte eigentlich die Manifestation des Todes beschwören, um sie darum zu bitten, ihm seinen unlängst im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn zurückzubringen. Stattdessen erwischt er aus Versehen Death’s kleinen Bruder Dream (Tom Sturridge) und sperrt ihn für ein gutes Jahrhundert in einer Glaskugel in seinem Keller ein.

Als es Dream – auch bekannt als Morpheus – schließlich gelingt, zu fliehen, hat sich die Welt verändert. Die Traumwelt, Morpheus’ Königreich, liegt in Scherben, mordende Albträume durchqueren gänzlich ohne seine Aufsicht die wache Welt und die Instrumente seiner Macht sind nicht aufzufinden.

Darsteller*innen

Im Vorfeld gab es um das Casting einigen Wirbel. Twitter-User*innen vermuteten „erneut“ die viel gemunkelte Neue Weltordnung am Werk, als sie – oh Schreck – bemerken mussten, dass man es im Jahr 2022 gewagt hatte, einige der Figuren aus einer Comicreihe der 90er mit People of Color oder gar Frauen zu besetzen, obwohl diese doch im Original weiß und vor allem männlich waren. Bis Episode vier tauchen drei der vier derart kritisch beäugten Rollen auf, und eigentlich sollte sich hier kein Fan der Grundlage ernsthaft beschweren können. Im Gegenteil: Nichts fühlt sich natürlicher an als Vivienne Acheampong als Bibliothekarin Lucienne zu sehen, und Jenna Coleman (Dr. Who) schafft es, ihrer Johanna Constantine (deren Geschlecht nicht etwa absichtlich für die Serie geändert wurde, sondern die eine Nachfahrin des John Constantine ist, für den Netflix die Rechte fehlen) Charisma, Witz und Leben einzuhauchen, die jeden männlichen Darsteller vor Neid erblassen lassen müssten. Gwendoline Christie schließlich schafft es, als Lucifer genau jene androgyne, den Raum umfassende Aura heraufzubeschwören, die Neil Gaiman einst dazu verleitete, seine Zeichner*innen zu bitten, Lucifer David Bowie nachzuempfinden. Ein Verlust durch die Abwesenheit von einer tieferen Stimmlage, Bartwuchs oder Ähnlichem ist hier nicht vorhanden.

Wichtigste Person in diesem Casting ist aber eindeutig der bisher eher unbekannte Tom Sturridge als Morpheus. Ihm kommt eine schwere Aufgabe zu, denn er muss eine Rolle spielen, die über allen Dingen steht, eben „Endlos“ ist. Gleichzeitig muss er aber auch nahbar sein, verletzlich, arrogant, regelmäßig leise wütend und verächtlich, und ab und an ein bisschen gebrochen. Ein endültiges Fazit ist nach vier Episoden natürlich noch nicht zu ziehen, doch bisher enttäuscht er nicht. Im Gegenteil: In jeder Szene nehme ich Sturridge seine Unnahbarkeit und Andersweltlichkeit zu einhundert Prozent ab. Seine Stimme, teils auch als innerer Monolog aus dem Off, hat jenes tragende, leicht monotone Flair, das in Verbindung mit der Musik und den atemberaubenden Bildern schnell einen hypnotischen Zug entwickelt.

Der Cast von Sandman lässt sich ganz generell nicht lumpen: Boyd Holbrook (Logan) als Albtraum The Corinthian und David Thewlis (Harry Potter) als John Dee machen so viel Lust auf mehr, dass ich mich sehr beeile, während ich diese Zeilen schreibe, damit ich gleich endlich weiterschauen kann … Charles Dance spielt leider nur eine kurze, aber nichtsdestotrotz bemerkenswerte Nebenrolle in der ersten Episode. Sicher wird der restliche Cast (unter anderem Kirby Howell-Baptiste, Stephen Fry, Mark Hamill) in den weiteren Episoden noch ordentlich glänzen.

Inszenierung

Sandman ist filmisch gesehen in seinen ersten vier Episoden bombastisch. Die Serie sieht unglaublich gut aus, viele Bilder fangen die Atmosphäre der Comics mit den Möglichkeiten modernen Films und CGI direkt ein. Besonders auffällig ist ein häufig angewandter „Zerreffekt“, der sich nur schwer exakt benennen lässt, aber schnell den Eindruck von „Fremdheit“ erzeugt. Sandman wirkt unabhängig von der seriellen Erzählweise von der Bildsprache her durchaus kinogeeignet. Viele Bilder sehen aus wie Gemälde, und die Szenerien sind bis auf wenige Ausnahmen prachtvoll ausstaffiert. Ab und an merkt man aber schon noch, dass es sich um eine Serie handelt, etwa wenn eine Dämonenmenge bewusst nur im nicht fokussierten Hintergrund gezeigt wird. Dies ist aber mehr als verzeihlich.

Auch die Musik von Komponist David Buckley trägt in vielen Szenen enorm viel zur Erzählung bei, drängt sich aber nur selten in den Vordergrund. Vor allem das häufig von Streichern vorgetragene Leitmotiv sorgt regelmäßig für Gänsehaut – trotz Hitzewelle.

Für Fans der Titelbildkollagen der Originalcomics sind sogar die Abspänne sehr zu empfehlen.

Erzählstil

Sandman ist keine klassische Comicbuchverfilmung. Anders als in Superheld*innenserien geht es hier eher weniger um die heldenhaften Taten und Fähigkeiten einer einzelnen, herausragenden Person. Vielmehr ist Sandman eine Serie über Geschichten, das Geschichtenerzählen und die großen Bilder, die wir normalerweise nur im Kopf haben.

Die Umsetzung einer Geschichte von einem Medium in ein anderes erfordert immer Anpassungen. Storylines, die auf Comic- oder Buchseiten gut funktionieren, bieten filmisch wenig ansprechende Möglichkeiten, und umgekehrt. Dass daher einige Szenen nicht exakt so wie in den Comics stattfinden und manche Charaktere und kleinere Ereignisse in der Serie nicht stattfinden, war zu erwarten.

Dennoch liegt hier ein großer Kritikpunkt. Auch wer üblicherweise mit einer übertriebenen „Werktreue“ wenig bis überhaupt nichts anfangen kann und üblicherweise nur Unverständnis für die hierüber oft vernichtend angelegten Kritiken hat, kann im Falle von Sandman betrauern, dass einige Szenen durch die Adaption verloren haben. Es gibt Charaktere, die „schwächer“ sind (zum Beispiel Roderick Burgess und sein Sohn Alex), und Charaktere, deren Rolle im Vergleich zu den Comics gestärkt wurde (Matthew der Rabe, vor allem, aber auch der Corinthian). Die Story, die in den Comics deutlich episodischer angelegt ist, wird in der Serie wahrnehmbar „serialized“. So wird der Corinthian beispielsweise von Anfang an als intrigenspinnender Feind in den Hintergrund eingebunden, statt zunächst nur eine Fußnote zu sein, die erst in späteren Ausgaben des Comics aufgegriffen wurde. Teilweise, in diesem Fall zum Beispiel, funktioniert das, und nimmt auch jenen, die den Comic kennen, nicht wirklich etwas weg. Im Gegensatz zum Comic benötigt eine Serie eben, zumindest heutzutage, eine*n staffelüberspannenden Bösewicht*in.

In anderen Fällen leidet die ursprüngliche Aussage der Geschichte aber schon.

Spoiler zu Episode vier

In Episode vier ist John Dee aus Arkham entkommen. Er macht sich nun auf den Weg, Morpheus zuvorzukommen, und den Rubin, eines der drei Werkzeuge des Traumfürsten, wieder in seinen Besitz zu bringen. In den Comics nimmt er hierfür eine Frau namens Rosemary als Geisel, und lässt sich von ihr zu seinem Ziel fahren. Die beiden kommen ins Gespräch, und es entsteht der Eindruck, Dee sei trotz seiner entmenschlichten Gestalt und der Pistole in seiner Hand gar kein so schlechter Mensch. Fast freundschaftlich endet das Gespräch am Zielort. Dee erschießt Rosemary.

In der Serie wird daraus eine Mitfahrgelegenheit. Dee wird fast von Rosemary überfahren, diese nimmt ihn aus Mitleid mit, die beiden reden freundlich miteinander. Schließlich offenbart sich Dee als Serienkiller. Rosemary bekommt Angst, versucht die Polizei alarmieren zu lassen, was für jemand anderen tödlich endet. Dee zeigt aber Verständnis, und am Zielort angekommen, schenkt er Rosemary sogar einen Talisman.

[Einklappen]

Solche und ähnliche Änderungen, die eben auch am Kern der Geschichte durchgeführt werden, nicht bloß an der Präsentation, lassen nicht bloß positiv auf die kommenden Folgen blicken. Es bleibt zu hoffen, dass die „Ur-Aussagen“ der Geschichten um Morpheus nicht allzu sehr darunter leiden.

Eine andere auffallende Veränderung, die aber vielleicht eher dem Budget geschuldet ist, ist das Wegfallen einiger Horror- und Goresequenzen. Während in den Comics hiermit wahrlich nicht gegeizt wird, wirkt die Serie an vielen Stellen deutlich zahmer, angepasster. (Dennoch gibt es eigentlich in jeder Episode schönen Horror.)

Für jene jedoch, die keine Vorkenntnis der Comics (oder Hörbücher) haben, werden diese Änderungen nicht wirklich etwas wegnehmen. Was dann bleibt, sind die vier ersten Episoden einer fantastisch gespielten und geschriebenen Serie, die vielversprechend wirken und eine große Story andeuten.

Die harten Fakten:

  • Regie: Jamie Childs, Andrés Baiz, Mairzee Almas, Mike Barker, Coralie Fargeat, Louise Hooper, Hisko Hulsing
  • Darsteller*in(nen): Tom Sturridge, Boyd Holbrook, Jenna Coleman, Gwendoline Christie, Mason Alexander Park, Kirby Howell-Baptiste, Patton Oswalt, David Thewlis, Charles Dance und viele mehr.
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • Sprache: Deutsch/Englisch und viele mehr, angeschaut wurde sie auf Englisch
  • Format: Serie
  • Preis: –
  • Bezugsquelle: Netflix

 

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Fazit

Sandman begeistert durch starke Bildsprache, gut geschriebene und gespielte Dialoge, durch starke Musik und durch einen vielversprechenden Beginn in der Umsetzung der großen Vorlage. Es bleibt allerdings die Unsicherheit, ob nicht vielleicht doch auch etwas Inhalt bei der Umsetzung verloren gegangen ist.

  •  Starke Schauspieler
  •  Große, schöne Bilder
  •  Tolle Inszenierung
 

  • Möglicherweise geht in der Umsetzung Inhalt verloren

 

Artikelbilder: © Netflix
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Simon Burandt
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

Über der*die Autor*in

Te Gold liest und schaut Phantastik, seit sie*r lesen und schauen kann. Das Medium ist dabei meist egal, in den letzten Jahren fokussiert allerdings häufig Pen-and-Paper und Serienformate. Studiert hat sie*r Philosophie.

 

 

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