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Nimona ist die pure Freude am Chaos. Netflix’ Animationsstreifen ist so schwer totzukriegen wie die namensgebende Gestaltwandlerin und Hauptfigur. Er nimmt eine hemmungslose Mischung aus Fantasy-Tropen und Sci-Fi-Szenarien, um über Wut und Widerstand, Vorurteile und Ideale zu sprechen. Und Chloe Grace Moretz und Riz Ahmed liefern die perfekten Stimmen dafür.

ND Stevenson ist ungefähr so alt wie ich und hat eine dieser Karrieren hinter sich, bei denen man sich fragt, was man selbst eigentlich den ganzen Tag tut. Nimona basiert auf einem gleichnamigen Webcomic, den Stevenson im Alter von 21 Jahren begann und der schließlich als Graphic Novel vollendet veröffentlicht wurde. Neben großartigen Comics wie Lumberjanes und Arbeiten für Marvel an Runaways und Thor Annual war das vermutlich der Grund, warum Netflix ihn mit weniger als 30 Jahren zum Showrunner seiner eigenen Serie machte. Seine Schöpfung She-Ra and the Princesses of Power, Remake des He-Man-Spinoffs aus den 1980ern, wurde nicht nur zum Hit in der queeren Cummunity, sondern auch von der LGBTQ-Organisation GLAAD ausgezeichnet und gilt als Meilenstein queerer Repräsentation in Medien für Kinder.

Nimona (2015)
Nimona (2015)

Dass es Interesse an einer Adaption von Nimona gab, verwundert da nicht mehr. Doch der Film musste bis zur Veröffentlichung durchaus kämpfen. Ursprünglich produzierte ihn die Animationsschmiede Blue Sky Studios (mithilfe von Vertigo Entertainment). Da sollte Nimona noch 2020 erscheinen, doch schon vor der Pandemie kaufte Disney mit seiner Übernahme von Fox auch Blue Sky Studios und verschob die Veröffentlichung auf 2021. Die Pandemie tat ihr Übriges und nach einer weiteren Verschiebung und einem Wechsel der Regisseure schloss Disney schließlich Blue Sky Studios und beendete alle Arbeiten an Nimona.

Der Film galt als größtenteils fertiggestellt und wurde nach einigem Hin und Her schließlich von Annapurna Pictures wieder aufgegriffen, die es sogar schafften, die existierenden Synchronsprecher*innen, inklusive Hollywoodgröße Chloe Grace Moretz als Nimona, wieder zu verpflichten. Das Hin und Her von Studios, Regisseuren und Produktionszeiten merkt man dem Film erfreulicherweise kaum an. Und auch seine queere Identität, unbestreitbar ein Teil der Kernidentität von Nimona, hielt Annapurna Pictures offensichtlich in Ehren.

Triggerwarnungen

Diskriminierung, Elitarismus, Mobbing, Gaslighting, implizierte Depressionen, implizierte Aggressionsstörungen

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Story

Der angehende Ritter Ballister Boldheart hat die Königin getötet. So sieht es jedenfalls das (namenlose) Königreich. Schon immer als Emporkömmling aus der Unterschicht abgestempelt, bricht vor allem das mangelnde Vertrauen seines geliebten Ambrosius Goldenloin ihm das Herz. Während er sich den Scherben seines Lebens und seiner Ambitionen gegenübersieht, findet ihn eine kindlich bis jugendhaft wirkende Gestaltwandlerin namens Nimona.

Nimona und Ballister
Nimona und Ballister

Nimona bewundert Ballister für die ihm unterstellten Gewalttaten. Der sanfte und gutherzige Mann fühlt sich davon zwar zutiefst missverstanden, doch Nimonas hemmungs- und respektlose Art übermannt sein mangelndes Durchsetzungsvermögen. Dies und sein Wunsch, Nimona von allzu großen Schand- und Gewalttaten abzuhalten, zieht ihn schließlich mit in ihren Strudel an Racheaktionen und halbgaren Plänen.

Nimona bietet ihm durchaus an, ihn beim Beweis seiner Unschuld zu unterstützen, doch richtig daran glauben tut sie nicht. Viel wichtiger ist ihr, dass etwas passiert, dass sie die bösen Autoritäten angreifen und ordentlich Chaos stiften kann. Allgemein ist sie viel zu unstet, um sich Gedanken um das Warum zu machen.

Ein Großteil des Films besteht aus den Aktionen des ungleichen Duos und den wilden Gefechten und Verfolgungsjagden, die daraus entstehen, dass sich ein gesuchter Verbrecher und ein angebliches Monster ohne Respekt vor ihrer Umwelt mit der Regierung anlegen. Hier brilliert Nimona. Zum Ende scheinen die Schöpfer*innen dann von Hollywood-Gewohnheiten eingeholt worden zu sein. Sie beenden die Geschichte zwar thematisch passend und ästhetisch kohärent, aber doch mit einem leicht unpassenden Wunsch, alles abzurunden und gleichzeitig nochmal einen draufzulegen. Das Drama wird größer, die Bösen werden böser … Ein offenes Ende, ähnlich dem des Graphic Novel, hätte besser zum Ton des Films gepasst.

Darsteller*innen

Passend und abgerundet ist das Ensemble hinter Nimonas starken Figuren. Als Abkömmlinge eines Formats, in dem in wenigen Worten und Bildern viel gesagt werden muss, könnten die verschiedenen Figuren eindimensional wirken. Doch die gute Wahl der Schauspieler*innen trägt enorm dazu bei, dem entgegenzuwirken.

Nimona (mit typischem Gesichtsausdruck)
Nimona (mit typischem Gesichtsausdruck)

Chloe Grace Moretz war bisher als Synchronsprecherin nicht vom Glück verfolgt. Sowohl Rotschühchen und die Sieben Zwerge als auch die Addams Family-Animationsfilme waren wenig beeindruckend. In Nimona kann Moretz allerdings endlich ihr ganzes Talent auch am Mikro spielen lassen. Ihre Nimona findet genau die richtige Balance, so viel Wucht, Wut, Dreistigkeit und Anarchie zu zeigen, um immer herausfordernd und schwer fassbar, aber trotzdem menschlich und verständlich genug zu bleiben.

Riz Ahmed als Ballister bildet das perfekte Gegenstück. Der glücklose und manchmal auch hilflose Rittersmann hat zwar neben Nimona den meisten Raum im Film, könnte aber in den Händen eines schwächeren Sprechers nutzlos oder passiv wirken. Ahmed findet dagegen Ballisters sehr unterschwellige Freude am Chaos und spielt seine mutlosen Momente, als müsse der selbstlose Krieger mehr an seine innere Kraft erinnert werden, als dass sie ihm wirklich verloren ginge.

Ambrosius Goldenloin
Ambrosius Goldenloin

Die Beziehung zwischen Ballister und Ambrosius bekommt wesentlich mehr Raum als in der Graphic Novel, in welcher Ambrosius gerade zu Beginn eher eine drohende Präsenz als eine komplexe Figur ist. In Rückblenden und anderen eigenen Szenen bekommt der wortwörtliche Goldjunge darum auch wesentlich mehr Zeit zu scheinen. Der vor allem als YouTuber bekannte Eugene Lee Yang (The Try Guys) füllt den bedachteren und menschlicheren Ambrosius gut aus.

Auch die sonstigen Sprecher*innen sind wunderbar und vermitteln die Funktionen ihrer Rollen mit Emotionen und Energie. Besonders Frances Conroy als manipulative Direktorin und Beck Bennett als Sir Thoddeus Sureblade, in den viele der problematischen Aspekte von Ambrosius’ Comic-Version ausgelagert wurden, treffen den Ton perfekt.

Inszenierung

Viele Kenner*innen sprechen über Nimonas Animationsstil, der von der so oft zur Norm erhobenen Ästhetik von Disney und Pixar abweicht. Und es ist durchaus angenehm, mal etwas anderes zu sehen. Viel wichtiger ist aber: Der Stil passt zum Film. Vielleicht auch aufgrund seiner Fremdartigkeit für Pixar-gewohnte Augen fällt auch Laien im Bereich Animationstechnik die Gemachtheit und Animiertheit Nimonas ins Auge. Und für einen Film, in dem mehr oder weniger explizit immer auch Themen wie Medien und Manipulation mitspielen, ist das wunderbar.

Gleichzeitig sind die Szenen allesamt dynamisch und schwungvoll, ohne hektisch oder chaotisch zu wirken. Nimonas Gestaltwandeln bekommt dadurch eine großartige Bühne. Stevensons Zeichnungen in den Comics fingen sie mit minimalistischen Methoden eindrücklich ein. Der Film löst sich von diesen ästhetischen Einflüssen trotzdem völlig und geht eigene Wege. Die Film-Nimona ist auffällig, laut und einmal mehr so offensichtlich der Fremdkörper im Auge der Kamera, wenn sie sich verwandelt, was sie mit Vergnügen und häufig tut. Man denkt beizeiten an Doricks Flucht in Honor Among Thieves.

Erzählstil

Die Fantasy- und Science-Fiction-Elemente in Nimona reiben sich durchaus bewusst aneinander. Hier zeigt sich symbolisch schon einmal die in langer Tradition und schnöder Gewohnheit verhaftete Kultur des Königreichs, die uns sofort irritierend vorkommt, seinen Bewohnern aber völlig natürlich erscheint.

Nimona (mit typischem Gesichtsausdruck)
Nimona (mit typischem Gesichtsausdruck)

Kontraste sind allgemein ein großes Motiv des Films: der ruhige Ballister und die feurige Nimona, Ambrosius’ weißgoldene gegen Ballisters grau-schwarze Farbpalette, der konkrete Alltag des Königreichs gegen das undefinierte Andere der Wildnis, vor der es sich schützen muss. Dies setzt sich bis in einzelne Sequenzen fort, etwa Nimonas rote Bestien vor dem grau-weißen Hintergrund der Festung.

Bei all diesem tieferen Betrachtungen sollte man aber nicht vergessen, dass Nimona ein Film für Kinder ist, und das gern. Alle subversiven Ideen zu antiautoritärem Verhalten und alle Komplexität der Charaktere sind immer eingebettet in ein actionreiches, schnelles Erlebnis und einen Vordergrund mit einer (Bild-)Sprache, der Kinder verschiedener Altersstufen auf verschiedene Weise abholen kann.

Traditionell oder konservativ ist dieser Kinderfilm allerdings überhaupt nicht – wie man an der Formulierung, subversive Ideen zu antiautoritärem Verhalten vermutlich schon sehen kann. Weiter weg kommt man kaum von den Klischees über weichgespültes Kinder-Entertainment für behütete US-Vorstadt-Sprösslinge, inklusive anzüglicher und trotzdem altersgerechter Witze auch jenseits des Nachmamens Goldenloin.

Sir Thoddeus Sureblade
Sir Thoddeus Sureblade

Ein guter Teil der kindgerechten Vermittlung sind auch die Momente alberner Überzeichnung – albern hier im besten Sinne des Wortes. Es ist definitiv Geschmackssache, wie viel man von den eingeschobenen Gags und Momenten hat. Doch das Timing sitzt perfekt. Und den allgemeinen Witz des Films, der seine chaotische, kritische Grundhaltung herausstellt, unterstützen sie auch. Es ist ein relevanter Teil der Schwäche des Finales, dass dieser Schwung und Humor sich zugunsten einer getragenen Dramatik zurückhalten muss.

Die harten Fakten:

  • Regie: Nick Bruno, Troy Quane
  • Darsteller*in(nen): Chloe Grace Moretz, Riz Ahmend, Eugene Lee Yang
  • Erscheinungsjahr: 2023
  • Sprache: Deutsch/Englisch
  • Format: Stream (99 Minuten)
  • Preis: im Abo enthalten
  • Bezugsquelle: Netflix

Fazit

Nimona macht einfach Spaß. Das sollte der erste und letzte Punkt eines jeden Reviews für diesen großartigen Film sein. Und zwischen dem ersten und letzten Punkt ist genug Platz für alles andere. Wie respektvoll und doch anders die Adaption gegenüber der Vorlage ist. Wie wunderbar chaotisch, stark und gleichzeitig verletzlich die Figur Nimona ist. Wie perfekt die Synchronstimmen sind. Wie subversiv, antiautoritär und gleichzeitig tiefempathisch der Film ist. Wie er Kinder ernst nimmt. Nimona ist das volle Paket. Und dann hängt noch ein Finale hintendran, das nicht so richtig dazugehören zu wollen scheint … Davon sollte man sich jedoch nicht abhalten lassen, denn selbst dieses macht zumindest aus Nimonas Story eine runde Sache. Schaut ihn nur nicht mit Kindern vor dem Schlafengehen. Ich vermute, sie müssen sich danach erstmal auspowern.

 

  • Starke Figuren, stark gesprochen

  • Kindgerecht, aber nicht von oben herab

  • GeLeBTes CHAOS

 

  • Schwaches, stilistisch fremdes Finale

 

Artikelbilder: © Netflix, HarperCollins
Layout und Satz: Mika Eisenstern
Lektorat: Sabrina Plote
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

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