Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten

Jemand musste Loki L. verleumdet haben, denn nachdem er etwas Böses getan hatte, wurde er eines Morgens von der Zeitpolizei verhaftet. Und jetzt gerät der Lügengott in die Mühlen der Bürokratie, wo Owen Wilson aufpasst, dass Loki keinen Unfug macht. Was er garantiert tun wird.

Wer im Marvel Cinematic Universe (MCU) nicht tot bleiben will, bekommt eine eigene Serie auf Disney+. Eingefleischten MCU-Fans muss man es wohl nicht nochmal erklären, aber weniger bewandertes Publikum wird sich wundern: Hatte Loki Laufeyson in Avengers: Infinity War nicht durch die Hand von Thanos das, ähem, Zeit-liche gesegnet (solche Wortspiele werden in diesem Artikel leider häufig auftauchen)? Korrekt. Das war das endgültige Ende des Tricksters – doch Marvel hält nicht viel von Finalität, daher tauchte Thors Bruder im vierten Avengers-Teil wieder auf, um das Sprichwort zu bestätigen: Alles hat ein Endgame, nur Loki hat zwei (ich habe euch gewarnt). Die Zeitsprünge der Superheld*innen führten dazu, dass der Spitzbube nach der Schlacht von New York den Tesseract in die Finger bekam und entkam. Zwei quälend lange Jahre fragten sich die Fans: Wohin führt es den asgardischen Ränkeschmied als nächstes? Jetzt gibt Disney+ die Antwort in einer sechsteiligen Serie. Loki landet im lokigstmöglichen Ort: einer Behörde!

Der Zeitraum (Handlung)

Loki entfleucht aus dem von ihm verwüsteten New York in eine noch wüstere Gegend, doch weit kommt er nicht. Ein Portal öffnet sich und futuristische Militärs nehmen ihn fest. Sie bringen ihn in eine kafkaeske Behörde, die von der Einrichtung her in den 1970er Jahren stehengeblieben zu sein scheint. Doch tatsächlich existiert die Time Variance Authority (TVA) außerhalb der Zeit. Ein Heer von humorlosen Bürokrat*innen und Soldat*innen bewahrt den korrekten Ablauf der Zeit in allen Realitäten. Das Urteil ist harsch: Dieser Loki dürfte gar nicht existieren – wie wir wissen, hätte er nach seiner Niederlage 2012 nach Asgard gebracht werden sollen. Dass er stattdessen fliehen konnte, hat die Zeitlinie durcheinandergebracht, wie ihm TVA-Agent Mobius erklärt. Doch der Trickster bekommt eine zweite Chance, denn die Ordnungsmacht braucht die Hilfe des Chaosgottes gegen einen unberechenbaren Gegner. Jetzt schlägt es dreizehn für Loki!

Die Zeitgenoss*innen (Darsteller*innen)

Tom Hiddleston geht wie immer voll in seiner Rolle als Loki auf. Mit der typisch shakespeareschen Eloquenz und britischem Gentleman-Charme wickelt er fast jede*n um den Finger. Wer sich ein bisschen mit Comedy auskennt, weiß: Solche geschmeidig-gewitzten Charaktere sind am lustigsten, wenn sie mit ihrem exakten Gegenteil konfrontiert werden. Bierernste, zielstrebige Tugendbolde, die keine Lust auf cleveren Smalltalk haben. Diese Rolle übernahm bislang Lokis Bruder Thor, hier sind es die Erbsenzähler*innen der TVA. Die Mischung aus Arroganz und Frustration, die der selbsternannte Gott ihnen entgegenbringt, macht Hiddleston in jeder Szene spürbar und es ist eine große Freude, ihm dabei zuzusehen.

Dass ausgerechnet Owen Wilson, der eher aus schrägen Screwball-Komödien bekannt ist, hier den ernsten Bürokraten spielen muss, zeigt schon, was für eine Serie Loki ist. Als Agent Mobius M. Mobius ist er der einzige in der TVA, der aufrichtiges Interesse an Loki als Person hat und ihm eine Chance geben will. Mobius ist auch von Frustration getrieben: Während er versucht, Loki weichzuklopfen, sitzt ihm eine finstere Bedrohung im Nacken, die stetig größer wird. Die Wortgefechte zwischen ihm und Loki wirken allerdings nicht so gekünstelt wie die zwischen Sam und Bucky in The Falcon and the Winter Soldier (oder, noch schlimmer, wie die Gespräche zwischen Karli Morgenthau und so ziemlich jeder anderen Person). Nein, Mobius hat seine Hausaufgaben gemacht und versucht mit Psychologie, hinter Lokis überhebliche Fassade zu gelangen. Die beiden sind ebenbürtige Gegner, aber können sie Partner werden? Das kleine Rädchen im Getriebe, das etwas verändern will – damit könnte man Mobius zusammenfassen und Wilson bringt diese Persönlichkeit ohne Effekthascherei überzeugend rüber.

Die anderen Charaktere bleiben etwas im Hintergrund. Gugu Mbatha-Raw (Doctor Who, The Cloverfield Paradox) spielt TVA-Richterin Ravonna Renslayer, der Lokis Eskapaden ziemlich auf den großen Zeiger gehen, da sein Charme bei ihr nicht funktioniert. Ihre höflich-herablassende Art verstärkt das kafkaeske Motiv von Loki als „Mann, der vor dem Gesetz steht“. Keine Verteidigung, keine Bedenkzeit – der Schuldspruch steht in Minuten fest. Viel mehr zu tun hat Ravonna in der Folge zwar nicht, es wird aber angedeutet, dass sie und Mobius eine Vergangenheit haben – eventuell sehen wir dazu mehr.

Wunmi Mosaku als Hunter B-15 hat da schon mehr Kontakt zu Loki. Sehr physischen Kontakt sogar, da sie als Ordnungshüterin den Asgardier mehrfach mit Gewalt zur Räson ziehen muss. Als Ruby in Lovecraft Country war Mosaku eine freigeistige Künstlerin, die gegen Unterdrückung aufbegehrt – hier ist sie Teil eines Systems, das überwacht und straft. Eine tolle Wandlungsfähigkeit, welche die britisch-nigerianische Schauspielerin unter Beweis stellt. Zwar ist B-15 noch wie die meisten TVA-Leute eine humor- und persönlichkeitsbefreite Vollstreckerin, aber dabei wird es in den kommenden fünf Episoden garantiert nicht bleiben.

Heimlicher Star der Episode ist Synchronsprecher*innen-Legende Tara Strong (Bubbles von den Powerpuff Girls, Twilight Sparkle aus My Little Pony, Timmy Turner aus Cosmo & Wanda sowie zahlreiche Charaktere in animierten Marvel– und DC-Serien) als Miss Minutes, das Maskottchen der TVA. In einem animierten Film erklärt Miss Minutes den Verhafteten, was die TVA ist und warum sie sie wie Kriminelle behandelt. Der altbackene Zeichenstil und der texanische Akzent der Cartoon-Uhr erinnern an 50er-Jahre-Propagandafilme. Das ist gleichzeitig so absurd und entwaffnend süß, dass einige Fans direkt Finsteres hinter Miss Minutes vermuten. Ist sie etwa Mephisto?! Nein, halt, Auszeit. Wer so kurz nach WandaVision schon wieder mit Verschwörungstheorien ankommt, tickt einfach nicht richtig.

Das Zeitgefühl (Inszenierung)

Ähnlich wie WandaVision setzt Loki auch auf Nostalgie. Während Wandas Traumwelt vor allem eine Hommage an klassische Sitcoms des 20. Jahrhunderts war, erinnert das Retro-Design der TVA an Filme wie Brazil oder alte Doctor Who-Folgen. Das kennen wir bereits aus Umbrella Academy: Eine Zeitagentur, die aus der Zeit gefallen ist. Anstatt eine futuristische Ästhetik zu schaffen, die in zehn Jahren veraltet aussieht, setzt die Produktionscrew von Loki auf Vintage-Look. Sogar mit Papier und 8mm-Filmstreifen arbeitet die Behörde. Wenn man über unendlich viele Zeit-Arbeitskräfte verfügt und keine Deadlines hat, kann man wohl auf fortschrittlichere Technologien verzichten.

Passend dazu auch die teils schelmische, teils ominöse Musik: Fast jedes Stück beinhaltet einen nervösen Takt, der an das Ticken einer Uhr, gelegentlich auch an Glockenschläge erinnert. Ist das dick aufgetragen? Vielleicht. Aber als Leitmotiv für eine Comicverfilmung über den Avatar des Chaos definitiv angebracht.

Neben den Zeitsprüngen kommt auch das klassische Element der Rückblende zum Einsatz, hier in Form von Beweisstücken der TVA über Lokis bisheriges Verhalten. Damit konnte das Produktionsteam etwas Material aus den Thor– und Avengers-Filmen recyclen, was den zusätzlichen Bonus hat, dem Publikum bestimmte Schlüsselszenen wieder ins Gedächtnis zu rufen. Zugleich dienen diese Szenen der Charakterentwicklung für Loki, der vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben mit den Konsequenzen seiner Handlungen konfrontiert ist.

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Der Zeitgeist (Erzählstil)

Während in WandaVision das große Rätsel um Westview über neun Folgen ausgedehnt wurde, beschäftigt sich die erste Folge von Loki weniger mit dem Andeuten von Geheimnissen. Das kommt zwar auch vor, aber im Mittelpunkt steht Chaos – sowohl das äußere, das Loki verursacht, als auch das innere Chaos, das Loki spaltet. Während er sich in den bisherigen Filmen damit begnügt hat, Unheil als Selbstzweck zu stiften, wird ihm jetzt die Frage gestellt: Was für eine Person bist du? Ja, du willst als König über alle herrschen, aber warum? Darauf hat Loki keine Antwort, aber seine Existenz könnte davon abhängen; denn die TVA beurteilt ihn nach seinem Wert für die Zeitlinie.

Wir haben zwar schon in Thor: Ragnarok (deutscher Titel: „Tag der Entscheidung“) und Infinity War gesehen, wie sich Lokis Persönlichkeit entwickeln kann. Aber diese Entwicklungen waren meist durch externe Faktoren angetrieben und oft mit seinem Bruder Thor verbunden. Und dieser Loki ist tot – der Serienheld wird aus einem früheren Lebensabschnitt herausgepickt (wobei sechs Jahre für einen jahrtausendealten Asgardier nur einen geringen Unterschied machen dürften). Diese Loki-Variante muss sich jetzt selbst mit der Frage befassen, wer sie ist und was sie vom Leben will. Kein Thor, kein Odin hilft ihm dabei.

Sind die MCU-Serien auf Disney+ am Ende einfach Selbstfindungstrips für junge Erwachsene? Hallo Wanda Maximoff, hallo Samuel Wilson, hallo Loki Laufeyson, bitte hier entlang zur Therapie? Will Marvel seinem Publikum etwas durch die Blume sagen? Für Coming-of-Age sind die Protagonist*innen eigentlich zu alt, für die Midlife-Crisis noch zu jung. Aber die großen Weltkrisen – egal, ob zerstörerische Aliens oder eine Pandemie – reflektieren auch immer persönliche Lebenskrisen. Insofern kamen die drei Serien gerade zum richtigen Zeitpunkt. Es wird sicher ein großes Vergnügen, jemand anderem dabei zuzusehen, wie das eigene Leben in Ordnung gebracht und nebenher die Welt gerettet wird. Wir bleiben mal mit den Chips auf der Couch, bis die Kinos für Black Widow öffnen.

Die harten Fakten:

  • Regie: Kate Herron
  • Produzent*innen: Michael Waldron, Kevin Feige
  • Darsteller*innen: Tom Hiddleston, Owen Wilson, Gugu Mbatha-Raw, Wunmi Mosaku
  • Erscheinungsjahr: 2021
  • Sprache: Englisch (Rezension), Deutsch, Spanisch (Spanien/Lateinamerika), Französisch (Frankreich/Kanada), Italienisch, Japanisch, Portugiesisch (Brasilien). Weitere Sprachen als Untertitel verfügbar
  • Format: Serie, Streaming
  • Preis: Disney+ Monatsabo EUR 6,99, Jahresabo EUR 69,99
  • Bezugsquelle: Disney+

 

Der Zeitpunkt (Fazit)

Kollege Kai Engelmann hat in seinem Hintergrundartikel gemutmaßt, die TVA werde wie in den Comics auch im MCU keine größere Bedeutung erlangen. Nach der ersten Folge von Loki könnte diese Vorhersage verfrüht gewesen sein, denn eine banale Schreibtischschublade demonstriert die unglaubliche Macht der TVA im filmischen Marvel-Universum. Da Jonathan Majors bereits als zeitreisender Superschurke Kang gecastet wurde, könnte Endgame nicht der letzte Zeitreisefilm im MCU bleiben. Insofern legt Loki ein wichtiges Fundament für Phase 4 und darüber hinaus.

Ob der Trickster auch in Doctor Strange in the Multiverse of Madness (geplanter Start März 2022) auftauchen wird, ist noch nicht bestätigt, es wäre angesichts des Themas aber zu erwarten. Andererseits enttäuscht Marvel Studios gerne Erwartungen. Da wir leider keine Zeitmaschinen besitzen, müssen wir uns einfach in Geduld üben. Immerhin erscheinen dieses Jahr noch vier Filme (Black Widow, Shang-Chi, Eternals und Spider-Man: No Way Home) und drei Serien (What If…?, Ms. Marvel und Hawkeye), sodass das MCU-Fandom bis dahin keine Zeit totschlagen muss. Aber vielleicht wird Loki das tun. Wortwörtlich.


MCU-Fans dürfen gerne auf den senkrechten Daumen erhöhen

  • Absurd-trockener Humor
  • Worldbuilding: Das TVA-Lore erweitert das MCU enorm
  • Loki
 

  • Für MCU-Unbedarfte weniger geeignet
  • Nebendarsteller*innen werden von der Hauptfigur überschattet

 

Artikelbilder: © Disney+
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Lukas Heinen
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

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