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In Erde 0 lassen reiche Wissenschaftler arme Menschen durchs Multiversum reisen, um Daten zu sammeln. Ein Unfall bringt eine dieser Weltenspringer*innen dazu, den Verlauf ihrer eigenen Welt zu hinterfragen. Herausragend konzipiert und dabei extrem unterhaltsam betrachtet Micaiah Johnson die vielen möglichen Schicksale der Bewohner*innen einer postapokalyptischen Einöde.

Viele-Welten-Probleme und Geschichten über Paralleluniversen sind ein beliebter Topos in der Science-Fiction. Man denke nur an das Spiegeluniversum in Star Trek oder Filme wie Everything Everywhere All At Once. Die Idee geht allerdings sowohl der neueren Science-Fiction als auch der modernen Physik voraus. Bereits 1710 beschrieb der deutsche Philosoph und Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Theodizee, wie jede einzelne Entscheidung einen anderen Weltverlauf nach sich zieht.

All diese Weltverläufe stehen der Möglichkeit nach nebeneinander, doch nur einer von ihnen, nämlich der beste, wird Wirklichkeit. In einer kurzen Parabel, die gewissermaßen eine der frühesten Science-Fiction-Geschichten ist, erzählt Leibniz, wie ein Mann, der mit dem Schicksal hadert, die Gelegenheit bekommt, alle anderen möglichen Welten zu betrachten, in denen kleine Entscheidungen große Auswirkungen haben. Aber, was, wenn man diese Welten tatsächlich auch betreten könnte? Und wer entscheidet, welches die beste Welt ist, die es verdient, Realität zu werden. Was macht Erde 0 zu Erde 0? In einer völlig überraschenden Melange aus leibnizianischer Viele-Welten-Idee und Mad Max: Fury Road geht die US-amerikanische Nachwuchsautorin Micaiah Johnson diesen Fragen nach.

Story

Die Grundidee von Erde 0 wäre für sich genommen schon genug, um einen ganzen Roman zu tragen: In einer postapokalyptischen Zukunft hat der Wissenschaftler Adam Bosch einen Weg gefunden, in benachbarte Parellelwelten zu reisen, solange sie sich in ihrem gesamten Verlauf nicht zu stark von unserer eigenen Welt unterscheiden. Der Haken: Dieselbe Person kann in einer Realität nicht doppelt existieren, weshalb diese anderen Welten nur bereisen kann, wer dort aus irgendeinem Grund nicht mehr lebt. Alle anderen gehen an dem Versuch elendig zu Grunde. Entsprechend werden Weltenspringer*innen eingestellt, um die dunklen Zwischenräume des Multiversums zu durchschreiten und Daten über die alternativen Weltverläufe zu sammeln.

Johnson treibt die Prämisse aber noch weiter. Die scharfsinnige Beobachtung, dass arme Menschen eine geringere Lebenserwartung haben und daher mehr Welten bereisen können, macht aus einem Roman über die vielen verschiedenen Möglichkeiten zugleich eine boshafte Geschichte über Klassenunterschiede. Boschs Firma, die sich hinter schützenden Mauern und Kuppeln in der behaglichen Stadt Wiley City eingerichtet hat, wirbt arme Menschen an, die im umliegenden Ödland um ihr Leben kämpfen und entsprechend gewinnbringend eingesetzt werden können. So auch die junge Frau Cara, deren Leben zuvor nicht besonders rosig war. Als Tochter einer Drogenabhängigen in den Slums ist sie auf 372 der 380 bekannten Welten verstorben. Nun wird sie von ihrer strengen Watcherin Dell beinahe täglich auf Einsätze geschickt und darf dafür ein bescheidenes Leben in der Stadt führen.

Doch als auch Caras anderes Ich von Erde 375 für tot erklärt wird und sie zum ersten Mal dorthin reist, geht etwas schief. Nur durch die Hilfsbereitschaft eines Passanten überlebt sie den Sprung und muss sich fragen, ob ihr Gegenstück in dieser Welt möglicherweise noch lebt. Hat sie ihren eigenen Tod vorgetäuscht? Wenn ja, warum? Und Cara hat noch ein größeres Problem: Ihr Retter in der Not ist ausgerechnet ihr gewalttätiger Exfreund: Nik Nik, der Kaiser des Ödlands – und in vielen anderen Welten ihr Mörder. Kann sie diesem neuen Nik Nik vertrauen? Und was hat ihn dazu gebracht, in diesem alternativen Leben kein gewalttätiger Despot, sondern ein Heiler zu werden?

Bewusster Einsatz von Klischees

Das ist nur der Anfang eines wendungsreichen Abenteuers, das Caras ohnehin schon nicht besonders gefestigte Welt vollends auf den Kopf zu stellen droht. Konfrontiert mit zahlreichen Personen aus ihrer Vergangenheit muss sie sich entscheiden, ob sie rasch zurückkehren oder ihren Freund*innen helfen möchte, selbst wenn es sich dabei nicht um die Bewohner*innen ihrer eigenen Welt handelt. Der exzellent komponierte Plot lässt einen kaum zu Atem kommen und wirft gleichzeitig viele Fragen zu Identität und Verantwortung auf – und insbesondere dazu, wie wir über andere mögliche Versionen unserer selbst nachdenken. Damit man aber gar nicht erst ins Grübeln kommt, gibt es wilde Verfolgungsjagden, Verrat und Freundschaft, ein wenig Liebe und ein bisschen Revolution, als die Ödlandbevölkerung sich gegen ihren despotischen Herrscher auflehnt. Die zahlreichen Wendungen der Geschichte lassen sich meist etwa eine Seite zuvor erraten – sodass man sich ausgesprochen klug vorkommt, aber nie langweilt. Vor allem ahnen wir natürlich schon, dass bei einer Dichotomie zwischen reicher Stadt und ausgebeutetem Umland der eigentliche Feind ganz woanders sitzen müsste …

So clever der Plot und so komplex Cara als Überlebende häuslicher Gewalt auch sein mögen, so klischeehaft sind auf den ersten Blick einige der Nebenfiguren. Allerdings wird schnell klar, dass Johnson diese Klischees bewusst einsetzt, um eine ansonsten etwas sperrige Handlung leichter zugänglich zu machen. In der Tat überlagern manchmal offensichtliche Vorbilder die eigentlichen Figuren. Es fällt zum Beispiel schwer, in der übertrieben süßen kleinen Schwester nicht Primrose aus The Hunger Games zu sehen, und auch wenn Präsident Snow hier Äpfel statt Rosen verteilt, wird es ab einem bestimmten Zeitpunkt fast unmöglich, sich eine gewisse Figur nicht als etwas jüngeren Donald Sutherland vorzustellen. Die Runner mit ihren gepimpten Höllenmaschinen könnten direkt aus Mad Max: Fury Road ins nächste Universum gerollt sein. Stören tut das allerdings kaum, denn die Wahrheit ist: Ich mag diese Figuren und die Vertrautheit macht es viel leichter, die völlig abgedrehten Aspekte der Geschichte zu verfolgen.

Außerdem lässt der Viele-Welten-Ansatz Figuren, die sich sonst eher wie Stereotypen aus der nächstbesten Hunger Games-Fan-Fiction lesen würden, in zahllose Möglichkeiten zersplittern und verleiht ihnen so eine unerwartete Tiefe. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass eine Figur wie Nik Nik, in jeder anderen Geschichte entweder ein comichafter Bösewicht oder ein generisch freundlicher Heiler, die jeweils andere Version seiner selbst in sich trägt. Das gilt für alle Figuren: Cara, Caras Familie, selbst Dell erleben wir im Spiegel ihrer Möglichkeiten.

Eine subversive Heldin

Die komplizierte Romanze zwischen Cara und ihrer Watcherin Dell ist zwar nur eine Nebenhandlung, baut aber eine köstliche Spannung auf, die gleichgeschlechtlichen Paaren in der Phantastik leider noch immer viel zu oft vorenthalten bleibt. Zudem ist Cara eine der ersten bisexuellen Figuren die ich je gelesen habe, deren Bisexualität sich auch wirklich anfühlt wie ein Teil ihrer Persönlichkeit und sich auch in ihrer Funktion in der Handlung spiegelt. Sie ist eine ewige Grenzgängerin, die nie irgendwo wirklich hingehört, an deren komplexen Beziehungen sowohl zu Männern als auch zu Frauen immer auch ein Teil ihrer Identität hängt. Geschichten, in denen bisexuelle Figuren einfach völlig unkommentiert alle Geschlechter daten und nirgendwo auf Probleme stoßen, mögen zwar eskapistisch sein, fangen aber die bisexuelle Realität nur ungenügend ein. Etwas schade ist, dass der Roman nicht noch mehr mit Nicht-Binarität experimentiert, was sich in einer Geschichte „zwischen den Welten“ (im Original heißt der Roman The Spaces Between Worlds) geradezu aufgedrängt hätte. Komplett ausgespart wird das Thema jedoch nicht: Zu den Personen aus Caras Vergangenheit gehört auch Exlee, eine nichtbinäre Person.

So ist es auch Cara, die mit ihren Entscheidungen den klassischen leibnizschen Viele-Welten-Topos immer weiter dekonstruiert und zeigt, wie sich hier bereits kolonialistische Grundansätze verbergen. Im 18. Jahrhundert war die Antwort auf die Frage, wer bestimmen kann, welche der vielen Welten die „richtige“ ist, noch einfach: Gott, der alles überblickt, trifft die richtige Wahl. In Johnsons postapokalyptischer Zukunft gibt es diesen absoluten Richter nicht, wohl aber Personen, die selbst Gott spielen, ihre eigene Welt zu Erde 0 bestimmen und ganz sicher nicht zulassen wollen, dass benachbarte Realitäten die gleichen Möglichkeiten bekommen. Ein brisantes Thema, das sich gewissermaßen von hinten anschleicht, während man noch gebannt der Handlung folgt, und das dann im Finale nicht mehr zu übersehen ist.

Schreibstil

Die komplexe Handlung ist bemerkenswert klug aufgebaut und bleibt so stets übersichtlich. Die vier Teile des Romans behandeln gewissermaßen immer eine Eskalationsstufe, was hilfreich ist, denn man muss sich während der ersten Hälfte gelegentlich daran erinnern, dass das gerade noch gar nicht das große Finale sein kann. Mit dem oben genannten Einsatz von Klischees entwirft Johnson ein sehr lebendiges Bild ihrer Welt (bzw. Welten) und die Übersetzung von Simon Weinert wird ihrem Stil mehr als gerecht.

Als Ich-Erzählerin ist Cara das emotionale Herzstück der Geschichte. Sie ringt noch immer damit, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten, und insbesondere in den ersten Kapiteln erfahren wir viel über die Welt, indem wir erleben, wie Cara über ihre Vergangenheit nachdenkt. Das funktioniert hervorragend: Ihre distanzierten Betrachtungen, die nur stellenweise (dann aber sehr heftig) ins Emotionale kippen, lesen sich wie eine authentische Traumareaktion, in der immer wieder versucht wird, das Geschehene in einen größeren Kontext einzubinden und so zu rationalisieren. Da sie immer wieder mit Versionen von sich selbst und vor allem mit anderen Versionen der gewalttätigen Beziehung konfrontiert wird, spiegelt die Handlung mitunter die Gedankenspiralen eines Opfers häuslicher Gewalt, ohne dass die Erzählerin es jedes Mal explizieren muss. Besonders bemerkenswert – und leider selten – ist, dass Johnson es schafft, Caras gewaltvolle Vergangenheit zwar ungeschönt nachfühlbar und teilweise schwer erträglich zu schildern, aber darauf verzichtet, sexuelle Gewalt zu erwähnen oder auch nur anzudeuten. Allgemein wird Sexualität in dem Roman sehr positiv beschrieben und obwohl es keine expliziten Sexszenen gibt, knistert es heftig zwischen Cara und der abweisenden Dell. Trauma, Sexualität und Romantik nebeneinander her zu schreiben ist ein Kunstgriff, den längst nicht jede*r beherrscht, und es ist eine Wohltat, Johnson dabei zuzusehen.

Die „they/them“-Pronomen der nichtbinären Figur wurden vom Knaurverlag nach Absprache mit der Autorin mit dem Neopronomen „sier“ übersetzt. Eine klare Ansage an alle, die der Ansicht sind, dass so etwas nicht möglich ist.

Die Autorin

Copyright: Rory Vetack
© Rory Vetack

Micaiah Johnson wurde in einer Kommune der Zeugen Jehovas in der südkalifornischen Wüste großgezogen. Sie studierte kreatives Schreiben an der University of Califonia und der Rutgers University in New Jersey. Derzeit promoviert sie an der Vanderbilt University zu Critical Race Theory und Robotern. Erde 0, im Original The Space Between Worlds, ist ihr erster Roman und erschien 2020.

Erscheinungsbild

Das Cover mit den beiden Silhouetten, die gleichzeitig einen Riss in der Welt bilden, ist eines der besten deutschen Cover, die ich in den letzten Jahren gesehen habe. Von der Idee her sehr einfach und in der Umsetzung nicht besonders aufwändig, bringt es viele Grundgedanken des Romans doch auf den Punkt. Wenn schon generisch und ohne Bezug zur eigentlichen Geschichte, dann bitte so!

Das Taschenbuch ist so hochwertig, wie man von einem größeren Verlag erwarten darf.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Knaur
  • Autor*in(nen): Micaiah Johnson
  • Erscheinungsdatum: 10.2021
  • Sprache: Deutsch (Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Simon Weinert)
  • Format: Taschenbuch
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN: 978-3-4265-2558-6
  • Preis: 10,99 EUR (Print) + 9,99 EUR (E-Book) + 20,59 EUR (Hörbuch)
  • Bezugsquelle Fachhandel, Amazon, idealo

 

Fazit

Micaiah Johnsons Erde 0 ist einer dieser Romane, denen es gelingt, hervorragende Unterhaltung mit tiefgehenden Fragen und extremer Themenvielfalt zu verbinden, ohne dass es bemüht wirkt. In einer postapokalyptischen Welt, in der die Reichen sich in eine geschützte Stadt zurückziehen und den Rest der Welt dem Elend überlassen, ermöglicht ein genialer Wissenschaftler das Reisen in Parallelwelten. Da aber nur diejenigen den Sprung durchs Multiversum überleben, die am Zielort bereits verstorben sind, werden arme Menschen wie die junge Cara angeworben, um in benachbarten Realitäten Daten zu sammeln. So begegnet Cara immer wieder alternativen Versionen der Menschen, die ihr nahestehen. Doch erst, als bei einem Sprung etwas schief geht, beginnt sie, ihre eigene Vergangenheit aufzuarbeiten und die Machtverhältnisse in ihrer eigenen Welt, Erde 0, zu hinterfragen.

Mit der zwischen den Welten lebenden Cara stellt Johnson eine großartige bisexuelle Protagonistin vor, die sehr nachfühlbar mit den traumatischen Erinnerungen an eine gewaltvolle Beziehung ringt, ohne sich auf ihrem Weg dauerhaft davon bestimmen zu lassen. Die gesellschaftskritische Grundfrage, die sich schon in dem etwas plakativen topologischen Gegensatz von reicher Stadt und verödetem Umland ausdrückt, rückt im Laufe der Geschichte immer weiter in den Vordergrund, bis sie auf ein Grundproblem aller Viele-Welten-Lehren stößt: Wer bestimmt eigentlich, welches die echte Welt ist? Die Antwort, die Philosophen wie Leibniz im 18. Jahrhundert gegeben haben, trug in sich bereits den Keim des einsetzenden Kolonialismus, und wird hier von Johnson gnadenlos entlarvt. Man muss aber zum Glück gar keine schweren Theorietexte wälzen, um Erde 0 als einen der klügsten Science-Fiction-Romane jüngerer Zeit zu genießen: Man kann sich auch einfach mitreißen lassen.

  • Extrem kluger Plot
  • Komplexe bisexuelle Protagonistin
  • Sehr spannend
 

  • keine
 

Artikelbilder: © Knaur, Rory Vertack
Titelbild: depositphotos © magann
Layout und Satz: Yola Tödt
Lektorat: Maximilian Düngen
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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